Analyse: Zur Situation in Tunesien

Bernard Schmid: Zur aktuellen politischen Situation in Tunesientunisia-flag-svg
(reblogged aus MITTELMEER)

Aus der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) haben in Folge der brutalen Ermordung von Mohamed Brahmi am 25. Juli mehr als 60 Abgeordnete ihr Mandat – vorübergehend niedergelegt, die Sit-ins auf dem Bardo-Platz vor der ANC dauern an, am Mittwoch, 31. Juli ist der Erziehungsminister zurückgetreten. In Sidi Bouzid regiert ein Komitee und erklärt sich unabhängig von der Zentralmacht in Tunis. Wie lassen sich die Geschehnisse interpretieren? Fünf Thesen.

1. Notwendigkeit einer zweiten Revolution
Aktivisten einer Erwerbsloseninitiative in Tunesien, die wir von der BUKO (Bundeskoordination Internationalismus) im Mai nach München eingeladen hatten, sagten uns bereits im März 2013 während des Weltsozialforums in Tunis, dass aus ihrer Sicht eine zweite Revolution notwendig sei. Ähnliches berichteten FreundInnen, die im Herbst 2012 an einer Rundreise in Tunesien teilnahmen.
Es kam zu einer Stagnation mehrerer politischer Prozesse. Zum einen sind die radikalen Ansätze im Demokratisierungsprozess zu nennen, die in der tunesischen Revolution eine ausgesprochen wichtige Rolle hatten. In Tunis und anderen Städten hatten sich verschiedene Zellen gegründet, deren Komitees die lokale politische Macht übernahmen. Wie sich in der aktuellen politischen Situation zeigt, haben sich die Strukturen nicht aufgelöst. Sidi Bouzid wird zurzeit wieder von einer Zelle regiert und hat wortwörtlich seine Befreiung von der Zentralmacht erklärt. Die soziale Situation blieb im Übrigen unverändert. Zwar hatte die große Gewerkschaft mit der Unterzeichnung eines neuen Sozialpakts/Sozialvertrags im Januar 2013 einen Teilerfolg zu verzeichnen, doch insbesondere an der Arbeitslosigkeit (nach offiziellen Angaben 18 Prozent, lokal bis zu 80 Prozent) und der Prekarität der Arbeitsverhältnisse änderte sich nichts. Zudem wurden die Steuern erhöht und Subventionen für Grundnahrungsmittel gesenkt.

2. Die Verfassungsgebende Versammlung
Zum anderen stagnierte auch der Prozess eines Umbaus zu einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie. Die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC=Assemblée Nationale Constituante) war geprägt von mühevollen Auseinandersetzungen über eine neue Verfassung. Entwurf folgte auf Entwurf. Die Parlamentswahlen sollten ursprünglich bereits ein Jahr nach Beginn der Arbeit der ANC liegen, also im Oktober 2012, der Wahltermin wurde jedoch, da auch die Verfassung noch ausgehandelt wurde, immer wieder verschoben, zunächst auf März 2013, dann Juni 2013, schließlich erneut mit einer vagen Angabe: „vor Jahresende 2013“. Das sich nun in Folge der Ermordung Brahmis mehr als 60 Abgeordnete aus der ANC zurückgezogen haben, lässt sich auch auf den hier nur kurz beschriebenen, lähmenden Prozess zurückführen. Im Übrigen wird die ANC arbeitsunfähig für alle Abstimmungen die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern, wenn mehr als 72 Abgeordnete ihre Arbeit niederlegen. Für den 1. und 2. August wurden die Plenarsitzungen annulliert. Die Partei Ettakatol (Sozialdemokratischer Koalitionspartner der En-Nahda) möchte in Abwesenheit von Abgeordneten keine Sitzung machen.

3. Neuformierung der Opposition gegen die Islamisten
In den aktuellen Protesten artikuliert sich ein Bruch mit den Islamisten, der bereits seit einiger Zeit fällig schien. Äußerten sich noch 2011 viele AkteurInnen der Revolution optimistisch in Bezug auf die Perspektiven einer Zusammenarbeit mit der islamistischen Partei Nahda (En-Nahda), die aus den Wahlen zur ANC als stärkste politische Partei hervorgegangen war, so vollzieht sich nun ein deutlicher Bruch mit diesem politischen Lager. Die En-Nahda zählt aus der Sicht vieler DemonstrantInnen zu den Hauptverantwortlichen für beide Morde, an Chokri Belaïd im Februar diesen Jahres und an Mohamed Brahmi. Genauer gesagt wird ihr vorgeworfen, nicht nur nichts oder zu wenig gegen salafistische und djihadistische Gruppen zu unternehmen, sondern auch deren Aktivitäten mitzutragen.
Es wird nun vermehrt auf eine sehr stark modernistisch ausgerichtete laizistische Orientierung zurückgegriffen, hierfür sprechen auch die Parole „Nieder mit den Obskurantisten“ (Feinde der Aufklärung), die auf Demonstrationen gerufen wurde, und die wiederholten Angriffe auf Büros der En-Nahda. Es handelt sich um eine deutlich erkennbare politische Opposition zu den Islamisten, die in den europäischen Medien sehr stark in den Vordergrund gerückt wird, jedoch auch in Tunesien durchaus als tragendes Element anzusehen ist.
Es organisiert sich eine „Front du Salut national“ (Nationale Heilsfront), unterstützt von der laizistischen Oppositionspartei Nidaa Tounes – zu der durchaus auch Unterstützer des alten Regimes zählen – und der linken Koalition Front populaire. Sie verfolgen folgende Ziele: Rücktritt der Islamisten aus der Regierung, Bildung einer neuen Regierung (Gouvernement de salut national) für 6 bis 8 Monate, Fertigstellung der Verfassung und die Organisation von Neuwahlen. Le monde zitierte Hamma Hammadi als Sprecher der Front populaire mit den Worten: „Es ist schlimmer als unter Ben Ali, da wir nun im Stadium der politischen Morde angelangt sind, was wir bisher in Tunesien nicht hatten, auf jeden Fall seit 1952 nicht.“ (Le monde, 29.7.2013)
Auch die große Gewerkschaft UGTT und der Arbeitgeberverband UTICA plädieren für eine Auflösung der Regierung, für eine neue Regierung verwenden sie den Begriff „gouvernement de compétence nationale“, der für eine technokratische Regierung steht. Inzwischen ist ein Minister, der Erziehungsminister Salem Labiadh zurückgetreten, ein Politiker, der dem Ermordeten Brahmi politisch nahe stand. Eine der Regierungsparteien Ettakatol fordert die Auflösung des Kabinetts zur Bildung einer „Regierung der Einheit“ und droht mit dem Rückzug aus der Koalition mit der En-Nahda und der CPR.

4. Basisdemokratische Ansätze
Insbesondere die Struktur der städtischen Komitees in der Revolution schien für eine politische Alternative zu stehen: sie waren nach dem Modell einer „autogestion“ (Selbstverwaltung) organisiert. Diese Ansätze spielten eine wichtige Rolle in der tunesischen Revolution. Es ist durchaus möglich, dass sie in der derzeitigen Situation – nicht nur im Gouvernerat Sidi Bouzid – wieder aufgegriffen und gestärkt werden. Zwar haben sich die Komitees nach der Revolution wieder aufgelöst, zugleich sind jedoch neue „zivilgesellschaftliche“ Netzwerke unterschiedlicher politischer Ausrichtung entstanden, die sich an das Modell anlehnen (z.B. Doustourna).
Die Zellen haben jedoch einen sehr starken pragmatischen Charakter und sind nicht ohne Weiteres als sozialrevolutionär einzustufen. Die neue Zelle in Sidi Bouzid wurde gegründet von der regionalen Gewerkschaft „Union régionale du travail“, de, regionalen Arbeitgeberverband „UTICA“ und den regionalen Verbänden der Ärzte und der Anwälte. Sie erkennen die Regierungsmacht nicht mehr an. Ähnliche Verlautbarungen auch unter dem Begriff des „zivilen Ungehorsame“ gibt es in Le Kef und Sousse.

vollständiger Artikel auf: http://mittelmeer.blogsport.de/2013/07/25/der-beginn-der-zweiten-revolution/

TUNIS: OPPOSITIONSFÜHRER ERMORDET

Gerd R. Rueger 25.07.2013

Tunis. In Tunesien haben Unbekannte den linken Oppositionsführer Mohammed Brahmi ermordet. Säkulare Gruppen machen die islamistisch geführte Regierung für das Attentat verantwortlich, Tausende zogen vor das Innenministerium. In der Stadt Sidi Bouzid, dem Anfangspunkt der Jasminrevolution, zündete die Menge des Büro der Regierungspartei Ennahda an.

Londons Libertotalitarism: Mitleid mit dem Guardian?

Gerd R. Rueger  21.08.2013 Snowden

Mit Bohrern und Schleifmaschinen mussten die NSA-Enthüller, die bislang gut am Material von Snowden verdient haben, ihr eigenes Recherchematerial zerstören -unter den Augen des britischen Geheimdienstes. Die Razzia gegen den „Guardian“ soll von Premier Cameron persönlich angeordnet worden sein.

Die Affäre rund um die Londoner Regierungs-Schikanen gegen den „Guardian“ erreicht jetzt den Premierminister David Cameron. Er soll persönlich veranlasst haben, die Redaktion zu schikanieren. Auf diese Weise sollten der Zeitung weitere Enthüllungen über die Aktivitäten von Geheimdiensten in den USA und Großbritannien vermiest werden. Nach Presseberichten hatte Premierminister Cameron den Leiter seines Cabinet Office, Jeremy Heywood, beauftragt, den „Guardian“ zu kontaktieren.

Es habe sich jedoch nicht um eine Drohung gehandelt, so die Regierung.  „Guardian“-Chefredakteur Alan Rusbridger sah das anders: „Es war eine beispiellose Begegnung in der langen und schwierigen Beziehung von Presse und Geheimdiensten“, so beschreibt der SpiOn, was sich im Juli an einem heißen Samstagmorgen im Keller des Redaktionsbüros zugetragen hat. Demnach überwachten zwei Geheimdienstler an jenem Samstag, wie zwei „Guardian“-Mitarbeiter die Festplatten und Speichersticks mit dem brisanten Material von Edward Snowden auch wirklich zerstörten. Während die Zeitungsleute mit Bohrern und Schleifmaschinen zu Werke gegangen seien, hätten die Agenten Fotos gemacht. Sogar die deutsche Bundesregierung sieht eine „rote Linie“ überschritten, so SpiOn.

Der „Guardian“ steht wieder einmal im Mittelpunk, denn schon am Montag war er weltweit in den Nachrichten gewesen: Britische Polizisten hatten am Flughafen Heathrow den Brasilianer David Miranda festgenommen, der, finanziert vom „Guardian“, in Berlin Gespräche mit einer Filmemacherin geführt hatte, die wiederum mit dem Journalisten Glenn Greenwald zusammenarbeitet.Selbst die deutsche Tagesscshau zeigte sich erschüttert vom juristisch-polizeilichen Amoklauf der Briten gegen die sonst von ihnen so hochgepriesene freie Presse. Reporter Greenwald lebt in Rio de Janeiro und ist für die heikleren Recherchen des „Guardian“ berühmt. Sein letzter Erfolg war Edward Snowden, dem er die Tore zur Londoner Redaktion öffnete.

Mitleid mit dem Guardian?

Sicher, wenn die Geheimdienste ihn drangsalieren, muss er etwas richtig gemacht haben.

Obwohl die Zeitung sich im Umgang mit Wikileaks und Assange nicht mit Ruhm bekleckert hatte…

„Wie nahe Presse, Profit und Propaganda wirklich bei einander liegen, musste das Hacker-Projekt leidvoll erfahren – doch selten so schmerzhaft wie in diesem Film aus dem Dunstkreis des „Guardian“. Stück für Stück wird der gute Ruf von Wikileaks in Patrick Forbes Dokumentation in den Schmutz gezogen, meist durch persönliche Angriffe auf Assange. Kein Wort von zahlreichen Auszeichnungen, von der Medaille der “Sidney Peace Foundation” für Assange oder vom deutschen “Whistleblower-Award” für Anonymous. [2] Kein Wort davon, dass Wikileaks schon im Gespräch für den Friedensnobelpreis war.

Schon Josef Goebbels wusste: Professionelle Propaganda darf nicht als Meinung oder Kommentar auftreten, sondern sollte als reiner Bericht durch die Auswahl des Materials die Tendenz vorgeben [3]. Daran hält sich Forbes Darstellung – und seine Auswahl hat es in sich. Schwerer als das Depeschen-Debakel wiegen völlig haltlose Beschuldigungen, Assange hätte bezüglich der Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gelogen, an seinen Händen würde “Blut kleben”, Quellenschutz wäre ihm unwichtig, ja er wäre sogar Schuld an der Inhaftierung des mutmaßlichen Whistleblowers Bradley Manning – und nicht CIA und Pentagon.“

Guardian versus WikiLeaks: “WikiLeaks – Geheimnisse und Lügen”

Bradley Manning: 35 Jahre für die Wahrheit

Gerd R. Rueger  21.08.2013

Wikileaks-Informant Bradley Manning wurde wegen „Geheimnisverrats“ zu 35 Jahren Haft verurteilt. US-Militärrichterin Denise Lind gab die Entscheidung am Nachmittag in der NSA-City Fort Meade (Maryland) bekannt. Die Anklage hatte mindestens 60 Jahre gefordert, bis zu 90 Jahren wären angesichts der völlig überzogenen Anklagepunkte möglich gewesen. Richterin Lind ordnete wenigstens an, den Obergefreiten unehrenhaft aus der Armee zu entlassen -„unehrenhaft entlassen“, nach „Deserteur“ die zweithöchste Ehrung, die die Armeen dieser Welt zu vergeben haben. Manning-Solidartitäts-Kundgebungen rund um den Globus konnten die US-Justiz nicht erweichen.

Manning war Ende Juli von dem Militärgericht in 19 von 21 Anklagepunkten für schuldig befunden worden, darunter Geheimnisverrat, Spionage, Computerbetrug, Diebstahl. Vom schwerwiegendsten und nachweislich verleumderischen Vorwurf, „Unterstützung des Feindes“, wurde er überraschend freigesprochen. Insgesamt dreieinhalb Jahre werden Manning von seiner Strafe erlassen, weil er bereits seit Mai 2010 in Untersuchungshaft sitzt -zuerst waren läppische 112 Tage angeboten worden. Neun Monaten musste er in Einzelhaft verbringen. Eine Entlassung Mannings aus dem Gefängnis vor Ablauf seiner Strafe ist rechtlich möglich.

„Sprechen Sie ein Urteil, das ihm ein Leben lässt“, appellierte der Anwalt David Combs an die Militärrichterin, doch Oberst Denise Lind könnte noch über die Forderung der Anklage hinausgehen –freute sich die reaktionäre FAZ, die Höchststrafe für die 20 Vergehen, deren Manning schuldig gesprochen worden ist, betrage 90 Jahre Haft. Selbst die US-Justiz war gnädiger. Am meisten ins Gewicht fällt aus Sicht der FAZ die Verletzung von sechs Bestimmungen des Spionagegesetzes von 1917. Weil die Regierung aber darauf verzichtete, Manning der Kollaboration mit dem Feind zu bezichtigen, bliebe ihm die Todesstrafe auf jeden Fall erspart, so die FAZ -ohne milde humanistische Untertöne. 

 Bradley hatte sich schuldig bekannt, US-Geheimdokumente geleakt zu haben. Dies geschah, um die Öffentlichkeit über Kriegsverbrechen der US-Truppen aufzuklären. Manning verwahrte sich gegen den Hauptanklagepunkt einer “Unterstützung des Feindes”, der extrem hohe Strafe nach sich ziehen würde. Ihm wurde vom Militärgericht damit unterstellt, er wollte als Spion von Al Qaida die gegen US-Truppen kämpfenden Terroristen mit kriegswichtigen Informationen versorgen.

Manning gestand ein, Dateien zu folgenden Leaks an WikiLeaks weitergegeben zu haben: Zum Video eines Helikopter-Angriffs im Irak (Collateral Murder); zum Bericht des Armee-Geheimdienstes (den ebenfalls auf WikiLeaks veröffentlichten Bericht des US-Verteidigungsministeriums über das Gefährdungspotential von WikiLeaks); Auszüge aus einer Datenbank von Berichten über den Irak-Krieg (Iraq War Logs); Auszüge aus einer Datenbank von Berichten über den Afghanistan-Krieg (Afghan War Logs); SOUTHCOM-Dateien über Guantanamo-Insassen (Gitmo Files); eine Anzahl von Depeschen des Außenministeriums (Cablegate), eine spezielle Depesche, “Reykjavik 13″, aus Island; sowie einen weiteren nicht spezifizierten Geheimdienst-Bericht.

Bradleys Leidensweg

Bradley wurde im Mai 2010 im Irak, dann wurde er zwei Monate in Kuwait festgehalten, dann neun Monate im Militärgefängnis in Quantico (Virginia) unter “folterähnlichen” Haftbedingungen. Der UN-Beauftragte gegen Folter, Juan Mendez, warf der Justiz damals vor, „grausam, unmenschlich und entwürdigend“ mit Manning umzugeheVigil at Fort Meade prior to sentence announcement. August 21, 2013. n. Die Militärrichterin Denise Lind erließ ihm wegen der Vorwürfe 112 Tage einer möglichen Haftstrafe -ein Hohn, denn insgesamt ging es um als 150 Jahre Haft -auch von den jetzt verhängten 35 Jahren sind 112 Tage nur ein läppischer Bruchteil.  Unzweifelhaft ist die Bewertung der von den US-Offiziellen als “Geheimnisverrat” bezeichneten Enthüllungen: Es ist die bis heute bedeutsamste Aufdeckung von Kriegsverbrechen dieses Jahrhunderts. Wenn US-Medien sich jetzt besorgt zeigen, ist dies ein gutes Zeichen -obgleich man wohl kaum erwarten kann, dass der Schauprozess gegen Manning dort wahrheitsgemäß als Teil der Hexenjagd auf Wikileaks und Julian Assange dargestellt wird.