Theodor Marloth
Die links-neoliberale „Süddeutsche Zeitung“ (SZ) fährt in der Debatte um Griechen, Schulden und Europa ihr schwerstes intellektuelles Geschütz auf, den weltberühmten Philosophen Prof. Jürgen Habermas, quasi die „Dicke Berta der Moral“. Sein Vorwurf an Tsipras und Syriza: Die hätten moralisiert. Dennoch liefert Habermas gegen Ende seines langatmigen Textes konkrete Kritik an der Troika. Hoffen wir, dass einige SZ-Leser diese Sinnoase in der Bleiwüste auch erreichen.
Von der SZ wird Habermas „als einer der großen Denker und Soziologen der Gegenwart“ vorgestellt, seinen Beitrag fasst das Blatt (recht tendenziös) so zusammen:
„Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden, das fordert der berühmte Philosoph Jürgen Habermas. Angela Merkel habe die Krise mitverursacht. Der Kanzlerin seien die Anlegerinteressen wichtiger als die Sanierung der griechischen Wirtschaft.“ SZ 23.6.2015
Das ist seltsam, denn die ersten drei von zwölf Absätzen widmet Habermas der Lobpreisung des Bankers Mario Draghi und seiner Europäischen Zentralbank. Der EZB-Chef hätte 2012 durch seine Zusicherung, Staatsanleihen unbegrenzt aufzukaufen, den Kollaps des Euro verhindert. Aber nicht nur das, Draghi trat für Reformen der EU-Institutionen und sogar für mehr Demokratie ein, meint Habermas:
„…auch wenn man es von einem ehemaligen Goldman-Sachs-Banker nicht erwarten konnte, wollte er diese überfälligen institutionellen Reformen sogar mit ‚mehr demokratischer Rechenschaft‘ verbunden sehen“ Habermas, SZ 23.6.2015
Draghi hat, so scheint Habermas zu glauben, aus purer Vernunft und Humanität gehandelt. Merkel hätte dagegen für nationalistische und Anleger-Interessen gestanden (letzteres stimmt fast). Leider verkennt der große Philosoph, den viele für einen „deutschen Chomsky“ halten, dass Draghi womöglich auch für Goldman-Interessen stand. Also auch für Interessen der US-Industrie und die ist, trotz kreuz-und-querlaufender Kapitalverflechtung, eher weniger an rein deutschen Exporterfolgen interessiert. Die von Merkel über das geprügelte Griechenland gedrückte Euro-Währung spielte jedoch vor allem der deutschen Exportwirtschaft in die Karten, die ihrerseits die CDU/CSU-Kassen mit üppigen Spenden bedient. Fallender Euro heißt für diese Herren steigender Absatz, Abverkauf voller Lager, Hochfahren der Auslastung ihrer teuren Produktionsanlagen auf 100 Prozent, voller Profit. So kam es dann auch, auf Kosten der ärmeren Euro-Länder, aber auch nicht zur reinen Freude der US-Konkurrenz (was Wunder, dass die auf Rache sann und begann in der Ukraine eine neue Front aufzumachen, um auch -neben anderen, geopolitischen Aspekten- ihrer deutschen Konkurrenz eins auszuwischen).
Ansonsten hält sich Habermas salomonisch zurück, teilt gegen Athen aus, aber auch gegen Brüssel und Berlin. Tsipras und seine neugewählte Regierung sieht der Philosoph einer Ethik des kommunikativen Handelns bei ihrem ersten Auftritt in Brüssel so:
„Man erinnert sich an jene ersten Begegnungen, als sich die präpotent auftretenden Novizen in der Hochstimmung ihres Triumphes mit den teils paternalistisch-onkelhaft, teils routiniert-abfällig reagierenden Eingesessenen einen grotesken Schlagabtausch lieferten: Beide Seiten pochten papageienhaft darauf, vom jeweilig eigenen „Volk“ autorisiert worden zu sein.“ Habermas SZ 23.6.2015
Aha. Beide Seiten haben sich dumm daneben benommen, stellten sich als vom Volk autorisiert dar, in „ungewollter Komik ihres einträchtigen nationalstaatlichen Denkens„, es fehle „ein Fokus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa„. Mit diesen teils wolkigen, teils belanglos moralisierenden, teils ökonomisch oberflächlichen Ausführungen bestreitet Habermas die erste Hälfte seines weitschweifigen Artikels. Die meisten SZ-Leser werden dann vermutlich leicht gelangweilt weiterblättern -und die eigentliche Kritik an Merkel, Juncker und ihrer Troika überlesen. Denn Habermas kritisiert nun unverblümt:
„Gewiss, in der Sache geht es um das sture Festhalten an einer Sparpolitik, die nicht nur in der internationalen Wissenschaft überwiegend auf Kritik stößt, sondern in Griechenland barbarische Kosten verursacht hat und hier nachweislich gescheitert ist.“
Den „Grundkonflikt“ sieht Habermas darin, dass die eine Seite einen Wechsel dieser Politik herbeiführen möchte (er meint hier lobend Syriza, ohne sie hier erwähnen zu wollen), während sich die andere Seite (also die Troika) hartnäckig weigert, sich überhaupt auf politische Verhandlungen einzulassen. Irgendwie ist dabei auf noch eine „Asymmetrie“ im Spiel. Aha. Soweit so verquast, führt Habermas die SZ-Leserschaft (so sie den Bleiwüsten-Maraton bis hierher durchhalten konnte) langsam an eine, ihrem Blatt sonst völlig fremde Bewertung heran. Sonst vom transatlantischen Säbelrasseln völlig auf eine untertänige Haltung gegenüber den EU-Herrschenden eingeschworen, kommt nun ein etwas anderer Ton auf.
Denn am Ende spricht bei Habermas doch die Moral für Tsipras und Syriza (die auf ihre namentliche Nennung freilich noch drei lange Absätze warten müssen). Man müsse sich das „Anstößige, ja Skandalöse dieser Weigerung“ (der Troika) klarmachen: Der Kompromiss scheitere „allein an der griechischen Forderung, der Wirtschaft und der von korrupten Eliten ausgebeuteten Bevölkerung mit einem Schuldenschnitt… einen neuen Anfang zu ermöglichen„. Der SZ-Leser ist hier vermutlich verwirrt, wer nun wer ist in dieser skandalösen Asymmetrie doch es kommt noch etwas deutlicher Artikuliertes:
„Statt-dessen bestehen die Gläubiger auf der Anerkennung eines Schuldenberges, den die griechische Wirtschaft niemals wird abtragen können. Wohlgemerkt, es ist unstrittig, dass ein Schuldenschnitt über kurz oder lang unvermeidlich ist. Die Gläubiger bestehen also wider besseres Wissen auf der formellen Anerkennung einer tatsächlich untragbaren Schuldenlast.“ Habermas
Bis vor Kurzem habe die Troika sogar auf der „buchstäblich fantastischen Forderung eines Primärüberschusses von mehr als vier Prozent“ beharrt. Diese sei zuletzt zwar auf „eine immer noch unrealistische Forderung von einem Prozent gesenkt worden“; aber bislang scheitere eine Einigung immer noch an der „Forderung der Gläubiger, eine Fiktion aufrechtzuerhalten“. Die „Geberländer“ befürchten laut Habermas einen „Dominoeffekt“, Merkel sei sich gar ihrer „eigenen Mehrheit im Bundestag nicht sicher“. Die Griechen hätten womöglich aus Unerfahrenheit oder Inkompetenz in ihrem „erratischen Verhalten“ keine klare Linie vorgelegt, ihre „Linksnationalisten“ hingen womöglich einer „ethnozentrischen Vorstellung von Solidarität“ an -das sind wieder Aussagen, wie der SZ-Leser sie gewöhnt ist. Doch dann zieht Habermas blank, greift Merkel direkt an:
„Angela Merkel hat für ihre zweifelhaften Rettungsaktionen von vornherein den Internationalen Währungsfonds ins Boot geholt. Dieser ist für Dysfunktionen des internationalen Finanzsystems zuständig; als Therapeut sorgt er für dessen Stabilität und handelt daher im Gesamtinteresse der Anleger, insbesondere der institutionellen Investoren. Als Mitglieder der Troika verschmelzen auch europäische Institutionen mit diesem Akteur, sodass sich Politiker, soweit sie in dieser Funktion handeln, in die Rolle strikt regelgebunden handelnder und unbelangbarer Agenten zurückziehen können.
Diese Auflösung von Politik in Marktkonformität mag die Chuzpe erklären, mit der Vertreter der deutschen Bundesregierung, ausnahmslos hochmoralische Menschen, ihre politische Mitverantwortung für die verheerenden sozialen Folgen leugnen, die sie als Meinungsführer im Europäischen Rat mit der Durchsetzung der neoliberalen Sparprogramme doch in Kauf genommen haben.“ Habermas SZ 23.6.2015
Ob bei Habermas mit „ausnahmslos hochmoralische Menschen“ etwas Ironie durchklingt? Wohl kaum. Aber im allerletzten Absatz fordert er sogar: „Die politischen Eliten in Europa dürfen sich nicht länger vor ihren Wählern verstecken…“, die Bilderberger scheint er weder zu meinen noch zu kennen. Aber die Medien sieht er durchaus kritisch, ohne natürlich zum schlimmen Wort „Lügenpresse“ greifen zu müssen. Der Philosoph der herrschaftsfreien Kommunikation kann sich eleganter ausdrücken, liegt aber nicht so weit davon entfernt, wie Mainstream-Journalisten lieb sein dürfte. Sein halbkritischer Artikel schließt mit einem Satz, der in den Medien vermutlich keine große Resonanz finden wird:
„Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.“ Habermas SZ 23.6.2015
„Islamischer“ Lohnterrorismus
Eine weitere Bedeutungsfalle stellt der Begriff “islamistischer Terrorismus” dar – der als “islamischer Terrorismus” verstanden wird, weil auf der Straße wohl kaum jemand einen Unterschied sieht – und deshalb kaum verwenden kann, ohne damit unfreiwillig zu behaupten, dass 1700 Angehörige aller verschiedenen Konfessionen des Islam grundsätzlich terroristisch seien. Und dies, obwohl die meisten dieser Lohnterroristen in Wahrheit Anhänger der engstens westverbündeten, von allen vier Konfessionen des Islam als Irrlehre abgelehnten, seinerzeit vom britischen Kolonialismus aufgebrachten, saudisch-terroristischen Halsabschneidersekte des Wahhabismus sind.
(Mittelmeer-) Flüchtlinge oder -Heimatvertriebene?
Daher nun meine Anregung zum Begriff “Flüchtling”. Zunächst die Definition aus dem Duden:
Flüchtling, Bedeutung: “Person, die aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz zurückgelassen hat.”
Warum mussten diese Menschen so eilig ihre Heimat verlassen? Etwa nicht auch wegen des von Washingtons Westen im Rahmen seiner Chaos-Strategie geförderten Lohnterrorismus? Diese Menschen sind demnach also eher Heimatvertriebene.
Heimatvertriebener, Bedeutung: Person, die zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurde.
Die die derzeitige Bedeutung des Begriffes “Flüchtling” beinhaltet zum Teil noch die Wahl zu bleiben. Dagegen jemanden als Heimatvertriebenen zu bezeichnen besagt, dass dieser Mensch keine Wahl hatte, dass es eindeutig benennbare Täter geben muss und das ist dann die Frage danach, wer in der Heimat der Vertriebenen die Vertreiber trainiert, bezahlt und bewaffnet und ob es nicht in Wirklichkeit nur wieder um “offene Territorien für Investoren” geht, wie die Propagandisten der Geschäftemacher so zynisch zu sagen pflegen. Danke.
–x–Anm.:
Dieser engagierte und kluge Leserbeitrag von „tag heute“, erschien der Redaktion wert als Artikel allen Lesern zugänglich gemacht zu werden (orthografisch leicht korrigiert, Sätze von mehr als 100 Wörtern wurden der besseren Lesbarkeit wegen in mehrere Sätze geteilt).