Galindo Gaznate 
In Chile brodelt es. Die Mitte-Links-Regierung steht unter Druck. Massendemonstrationen, brennende Barrikaden in Santiago, Chile steckt in einer politische Krise, vielleicht in der schlimmsten seit dem Ende der von Kissinger geförderten Pinochet-Diktatur 1990. Seit Jahren protestiert die Jugend gegen ein zutiefst unfaires, weil radikaler Privatisierung unterliegendes Bildungswesen. Unbezahlbare Studiengebühren sind das Folterinstrument im Klassenkampf der reichen Oberschicht gegen die Massen des Volkes. Wie Firmen und Oligarchen die Rechts-Parteien finanzierten, aber auch die Regierung kauften, wurde jetzt aufgedeckt: Die Justiz ermittelt wegen Korruption.
Der Einfluss der Privatwirtschaft auf die chilenische Politik der letzten zehn Jahre war noch weit drastischer als schon bislang vermutet. Ohne Ausnahme haben alle großen Konzerne Kampagnen und einzelne Politiker finanziert und dafür nicht nur Steuern „gespart“. Chile war unter der von den USA gesteuerten Diktatur Pinochets zu einem der Musterländer des Neoliberaismus geworden: Ein totalitärer Staat, der alle politischen Freiheiten brutal unterdrückt, aber den parasitär lebenden Geldeliten alle ökonomischen Freiheiten garantiert. Wenige wissen in Deutschland um die Leiden Lateinamerikas, weil die Medien eine tendenziöse Beschönigung besonders der US-Politik in dieser Region betreiben.
„Que los corruptos no decidan!“

Demonstranten in Chile, Foto: Tobias Morawski, CC-by-nc-sa 3.0
„Lasst die Korrupten nicht entscheiden!“, ist das Motto der aktuellen Proteste. Der Zorn der Bevölkerung gegen die wirtschaftliche und politische Machtelite ist groß wie lange nicht mehr. Man hat genug von den immer gleichen Personen, die seit vierzig Jahren das Land beherrschen: „Que se vavan todos!“ (Sie sollen alle abhauen)
So forderte die Massendemonstration in Chiles Hauptstadt Santiago am 16. April 2015, die den Auftakt zu den aktuellen Protesten bildete. Grund war auch die ruchbar gewordene unverschämte Korruption der Regierung und aller Parteien -mit Ausnahme der chilenischen Kommunisten.
Vor einem Jahr trat Michelle Bachelet zum zweiten Mal das Amt der Präsidentin Chiles an. Gut zwei Drittel der Wähler gaben ihr in der Stichwahl Ende 2013 gegen die konservative Kandidatin Evelyn Matthei ihre Stimme. Gegen die soziale Ungleichheit wollte sie kämpfen, das Bildungssystem reformieren und eine neue Verfassung erarbeiten. Bis Anfang 2015 sah es für Bachelet nicht so schlecht aus, sie reformierte immerhin das Wahlsystem aus Zeiten der Pinochet-Diktatur, liberalisierte katholische Sozialgesetze und begann sogar mit der dringend erforderliche Reformierung des Bildungssystems.
Vor allem die Korruption der Machteliten ist Thema der Proteste. Vor allem seit bekannt wurde, dass die Finanzholdinggruppe Penta mehrere Millionen US-Dollar an Steuern hinterzogen hat. Der ehemalige Direktor des Unternehmens, Hugo Bravo, erklärte gegenüber der Staatsanwaltschaft, dass ein großer Teil dieses Geldes der illegalen Wahlkampffinanzierung der chilenischen Rechten im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahlen gedient habe. Der Fall wurde zum politischen Skandal für Chiles politische Kaste.
Die rechtspopulistische UDI im Zentrum der Korruption
Ermittlungen der Justiz brachten E-Mails zwischen der Unternehmensführung und verschiedenen Politikern zutage, aus denen hervorgeht, dass Penta in großem Umfang Schmiergelder an die rechtspopulistische Unabhängige Demokratische Union (UDI) sowie einzelne UDI-Funktionäre zahlte. Im Gegenzug versorgten die Korrupten Amtsträger das Unternehmen mit vertraulichen Informationen und stellten gefälschte Rechnungen über nie erbrachte Dienstleistungen aus, die Penta zwecks Steuerbegünstigungen beim Finanzamt einreichte. So informierte der mittlerweile zurückgetretene Vorsitzende der UDI, Ernesto Silva, die Unternehmensführung etwa über den Fortgang von Gesetzesinitiativen und erhielt im Gegenzug Honorare für angebliche Beratungstätigkeiten. Es war also die übliche schmierige Kumpanei von Politik und Wirtschaftsbossen, die den Neoliberalismus auszeichnet. „Unrechtmäßige Gelder, die in einigen Fällen für politische Kampagnen um öffentliche Ämter benutzt wurden“, urteilte die Staatsanwaltschaft.
Zusätzlich wurde bekannt, dass Penta keineswegs die einzige Firma war, die auf diese Weise Steuern hinterzogen und die Politik geschmiert hatte. Auch das Bergbauunternehmen Soquimich (SQM), unter der Führung von Julio Ponce, Ex-Schwiegersohn von Augusto Pinochet, hat Gelder gegen gefälschte Rechnungen verteilt. Bis zu zehn Millionen US-Dollar jährlich, wie Ponce nun gegenüber der Staatsanwaltschaft aussagte. Das Finanzamt hat der Staatsanwaltschaft kürzlich eine Liste mit Namen von Politikern, Funktionären, Beratern und Familienangehörigen der Machtelite überstellt, die zwischen 2009 und 2013 vermutlich gefälschte Rechnungen für SQM ausgestellt haben. Ebenso wie die Penta-Geschäftsführer Carlos Alberto Délano und Carlos Eugenio Lavín, die mit Pinochet zwar nicht verwandt sind, aber zu dessen Anhängern gezählt werden, wollte Ponce seine langjährigen Beziehungen in die Politik wohl pflegen. Wie Penta hat auch SQM in den 1980er Jahren stark von den neoliberalen Privatisierungen durch Pinochets Militärdiktatur profitiert: Die beiden Unternehmen gehören heute zu den mächtigsten Konzernen Chiles. Die Reichen und Mächtigen haben besonders das neoliberal pervertierte Bildungswesen des Landes zur Sicherung ihrer gesellschaftlichen Dominanz missbraucht, indem ihr privilegierter Nachwuchs dort sein vor der Jugend des einfachen Volkes geschützte Brutstätte bekam. Schon unter Diktator Pinochet wurden die Universitäten so zur Kaderschmiede der Machteliten. Die dort nistende Ausbeuterklasse auszuräuchern ist seit langem Ziel der Opposition von unten.
Bildung als Machtmittel der Geldeliten
Chile leidet seit Jahrzehnten unter dem sozial ungerechtesten Bildungssystem Lateinamerikas. Weite Teile der universitären Bildung wurden unter Pinochets neoliberal-neofaschistischem Regime (1973-1990) privatisiert. Proteste dagegen wurden vom Folterregime von Kissingers Gnaden brutal unterdrückt. Die verheerenden Folgen dieser neoliberalen Politik zeigen sich auch heute noch: Wer sein Kind in Chile auf eine Universität schicken will, muss mit monatlichen Gebühren zwischen 500 und 1000 US-Dollar rechnen (in Deutschland scheiterte der Bertelsmann-Medienkonzern mit ähnlichen Plänen an Studentenprotesten). Die Folge ist, dass sich die soziale Kluft von Generation zu Generation massiv verbreitert.
Seit 2011 sind in Chile immer wieder Schüler und Studenten auf die Straße gegangen, um für eine bessere Bildung sowie einen gleichberechtigten Zugang zum Bildungssystem zu demonstrieren, das seit der neoliberalen Umgestaltung während und nach der Pinochet-Diktatur weitgehend privatisiert ist. Im Dezember 2013 wurde dann Michelle Bachelet erneut zur Präsidentin Chiles gewählt. Im Wahlkampf hatte sie umfassende Reformen des Bildungssystems versprochen. Dass diese nur schleppend vorangehen, hat wiederholt dazu geführt, dass die Bildungsproteste wieder aufflammten. Laut OECD kommt der Staat in Chile nur für 15 Prozent der Bildungskosten auf, 85 Prozent werden privat getragen. An den Teilnehmern der Demonstrationen zeigt sich, wie stark inzwischen die Mittelschicht von der sozialen Selektion im Bildungswesen betroffen ist.
Eine Studie der Universität Chile über Studienkosten zeigte die Folgen der unerträglichen Belastung von Familien der Mittelschicht (von den ärmeren Bevölkerungsschichten ganz zu schweigen): Von den ärmsten 20 Prozent der Studierenden müssen demnach 65 Prozent ihre Ausbildung vorzeitig abbrechen. Bei den übrigen hatten sich schon Ausbildungsschulden von 20 Milliarden US-Dollar angehäuft, von denen niemand weiß, wie sie je beglichen werden sollen .Neoliberalismus korrumpiert die Politik, die dann mit Bildungsprivatisierung den Klassenkampf nach unten verschärft und Machtstrukturen verfestigt.
Nur Chiles Kommunisten nicht korrumpiert
Es gibt wenig saubere Parteifunktionäre in Chile. So sollen auch Abgeordnete der Sozialistischen Partei (PS), der Christdemokraten (PDC), der Partei für Demokratie (PPD) und der Sozialdemokratisch-Radikalen Partei (PRSD), wenn nicht von Penta, dann doch von SQM finanziert worden sein. Unter ihnen auch drei Minister der aktuellen Regierung Bachelets, darunter Innenminister Rodrigo Peñailillo. Unter den Parteien der Regierungsallianz ist derzeit allein die Kommunistische Partei (KPC) nicht betroffen.
Gegen Michelle Bachelet selbst gibt es bislang zwar keine Korruptionsvorwürfe, aber gegen ihre Familie schon. Sie hatte ihren Sohn, Sebastián Dávalos, zum Leiter der Präsidialabteilung für Soziales und Kultur gemacht. Später wurde bekannt, dass er Einfluss auf die Vergabe eines 10-Millionen-Dollar-Kredites für ein Immobiliengeschäft von der privaten Banco de Chile an das Unternehmen Caval genommen hatte. Letzteres gehört zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon. Immerhin trat Dávalos innerhalb kurzer Zeit von seinem Posten zurück, um Druck von seiner Mutter zu nehmen.
Hintergrund: Allende, Kissinger und Pinochet
Die Kräfte der Linken bildeten 1969 die Unidad Popular (UP), ein Wahlbündnis, dem neben der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei kleine humanistische, linkschristliche und marxistische Parteien angehörten. Die UP vertrat eine sozialistische Linie, warb für die Verstaatlichung der Industrie und die Enteignung der Großgrundbesitzer. Dieses Bündnis stellte 1970 als Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende auf, der schon zum vierten Mal kandidierte. Aus den Wahlen ging Unidad Popular mit 37 % der Stimmen als stärkste Kraft hervor und Allende wurde zum Präsidenten gewählt.
Mit dem Sieg der „Volksfrontregierung“ unter marxistischem Einfluss in Chile war nach Kuba der zweite amerikanische Staat sozialistisch regiert. Dies schien die 1954 von US-Präsident Eisenhower postulierte Domino-Theorie zu bestätigen, wonach die Länder Südamerikas nach und nach wie Dominosteine dem Kommunismus anheimfallen würden. Außerdem hatte Allende das Ziel, die bedeutenden Kupfervorkommen Chiles, die US-Konzerne unter Führung von IBM bis dahin für ein Butterbrot ausbeuten konnten, zu verstaatlichen, um dem Volk einen Anteil am Reichtum des Landes zu geben. Das missfiel den Westoligarchen und ihren Bütteln besonders und ließ ihre üblichen Destabilisierungs- und Umsturzintrigen gegen linke Regierungen in Chile außerordendlich brutal ausfallen.
US-Außenminister Henry Kissinger ließ, als der Sieg der linken Kräfte absehbar war, verlauten: „Ich sehe nicht ein, weshalb wir zulassen sollen, dass ein Land marxistisch wird, nur weil die Bevölkerung unzurechnungsfähig ist.“ Allende betrachtete sich aber nicht als dogmatischen Marxisten (wie er wohl hauptsächlich in antikommunistischer Propaganda existiert, sondern lehnte sowohl die „Diktatur des Proletariats“ (die ja eigentlich eine Demokratie ist, da zuvor durch Verstaatlichung von Produktivvermögen alle Menschen zu Proletariern gemacht werden sollen) als auch ein Einparteiensystem entschieden ab. Kissinger gilt auch wegen seiner Verwicklungen in den Putsch in Chile heute vielen als Kriegsverbrecher.
Bei seinem Amtsantritt hatte Allende also mit Sanktionen und Gegenmaßnahmen der USA zu rechnen. So kam es bereits 1970 zu einem tödlichen Attentat auf General René Schneider, bei dem die CIA und Außenminister Kissinger massiv beteiligt waren. Schneider war für die US-Regierung ein Hindernis, da er gegen einen Militärputsch war (vgl. Wikipedia). So destabilisierten die USA die sozialistische Republik mit ferngesteuerten Streiks, Protesten und Gewalt, um dann mit einem Putsch das faschistische Folterregime von Diktator Pinochet zu installieren.

General Augusto Pinochet
Am 11. September 1973 kam es zum von den USA geplanten blutigen Militärputsch gegen die Regierung. Präsident Allende starb beim Gefecht um den Regierungspalast, selber mit der Waffe gegen die Faschisten kämpfend. Hunderte seiner Anhänger wurden massakriert, Tausende Männer und Frauen wurden inhaftiert, vergewaltigt und gefoltert. Sämtliche staatlichen Institutionen in ganz Chile waren binnen Stunden vom Militär besetzt. Die Macht als Präsident einer Junta übernahm der US-hörige General Augusto Pinochet. Überall im Lande errichtete das Militär Geheimgefängnisse, wo Oppositionelle und deren Angehörige zu Tode gefoltert wurden. Tausende Chilenen flohen wegen der brutalen Menschenrechtsverletzungen ins Exil, viele auch in die DDR, weil Westdeutschland zu den Unterstützern der Diktatur zählte. Kurz nach der Machtübernahme Pinochets begannen natürlich die USA und die westeuropäischen Staaten wieder, Chile intensiv mit Wirtschaftshilfe zu unterstützen. Die Militärregierung machte die Verstaatlichungen Allendes rückgängig, führte radikal-neoliberale Wirtschaftsreformen durch und schaffte die Gewerkschaftsrechte ab.
Der us-amerikanische Kritiker der USA, Noam Chomsky, sagte dazu:

Noam Chomsky 2004
„Der Domino-Effekt war das Hauptthema des Kalten Krieges: Kuba, Brasilien, Vietnam… Henry Kissinger verglich ihn gar mit einem Virus, der ganze Regionen verseuchen könnte. Als er und Nixon den Sturz des demokratisch gewählten Allende in Chile planten – wir kennen mittlerweile alle Dokumente – sagte Kissinger ausdrücklich, dass der chilenische Virus Staaten selbst im entfernten Europa beeinflussen könnte. An und für sich waren er und Breschnew einer Meinung. Beide fürchteten die Demokratie. Und Kissinger sagte, dieses Virus müsste ausgelöscht werden. Und das ist genau das, was sie dann auch getan haben.“