Gold und Geopolitik: Ukraine, Krim, Kirgisistan

SvobodaProtesters

Svoboda Protestierer mit Waffen und gelber Armbinde mit faschistischem Symbol

Gilbert Perry und Gerd R. Rueger

Was steckt wirklich hinter dem riskanten Einsatz des Westens für einen „Regimechange“ in Kiew? Nobler Kampf für „die Freiheit“? Daran zweifeln inzwischen viele, auch der Bundeswehr-Professor August Pradetto. Oder war der nach CIA-Muster angezettelte Maidan-Putsch eine Revanche für den Verlust einer wichtigsten US-Basis mitten in der asiatischen Landmasse? Wollte das Pentagon, sich die bedeutendste russische Flottenbasis aneignen –als Revanche für die Vertreibung aus der Manas-Airbase in Kirgisistan? Ging es am Ende auch um „die Freiheit“ von Westfirmen beim Griff nach kirgisischem Gold?

„Geopolitik, das sind alte Männer, die auf Landkarten starren“, so eine Kritik an ökonomisch, historisch und geographisch fundierten Analysen. Doch das Märchen vom Westen, der Kiew die Freiheit bringen wollte und eine rein ukrainische Freiheitsbewegung unterstützte, das glauben nur noch die Naivsten unter uns (also die Anhänger der Grünen). Selbst ein Politik-Professor der Hamburger Bundeswehr-Universität, August Pradetto, fragt sich heute öffentlich, ob EU und USA noch bei Trost sind (sinngemäß), die geopolitischen Belange Moskaus derartig zu attackieren. Er tritt verbreiteten Meinungen zu Asien und Russland entgegen, etwa in dem er mit empirischen Befunden die Wahrnehmung eines um sich
greifenden Staatsverfalls in Zentralasien widerlegt (Predetto 2012). Ist wohl nur Wunschdenken westlicher Geopolitiker.

Alle, die ihre nüchterne Analyse nicht vom west-patriotischen Angriffsrausch vernebeln lassen, werden bei uns von Journalisten hämisch als „Putinversteher“ diffamiert. Künftig vermutlich auch Prof.Pradetto, so man ihn überhaupt irgendwo zu Wort kommen lässt. Bislang ist Pradetto völlig zu Unrecht weithin unbekannt –es dominiert eine Medienphalanx der „Putinhasser“.

Bundeswehr-Professor Pradetto gegen West-Arroganz

Prof. August Pradetto

So auch Bundeswehr-Prof. Pradetto, der in seinem jüngsten Artikel dem Westen Selbstgerechtigkeit vorwarf und dem Medienbild des angriffslustigen Putin seine Analyse entgegenstellte: Der Westen habe nach Ende des Kalten Krieges seinen Einfluss global ausgedehnt und das keineswegs nur friedlich. Neben die EU-Erweiterung sei ein wachsendes Netz von Militär-Stützpunkten und aggressive Rüstungspolitik vor allem der USA getreten, womit Pradetto darauf anspielt, dass Washington allein schon fünfmal mehr Geld in Waffen steckt als Moskau. Der westliche Militärgigant habe, so Pradetto, in einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen von Kosovo über den Irak bis Libyen weltweit expandiert: „Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen westlicher Außenpolitik geworden.“ (Pradetto 2014, S.73)

Dagegen sei die Geopolitik Moskaus recht bescheiden auf kleine Gebiete wie Abchasien, Südossetien und jetzt die Krim begrenzt geblieben, so Pradetto. Reinhard Mutz vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH) hatte im April darauf hingewiesen, dass der Einfall russischer Truppen ins georgische Südossietien sogar rechtskonform zur damaligen Mandatslage war. Westliche Medienpropaganda habe Putins Aktion schlicht falsch dargestellt und die blutigen Verbrechen Georgiens an Südossetiern sowie die damalige KSZE-Mission unter russischem Kommando weitgehend verschwiegen. Ganz anders übrigens, so müsste man Mutz ergänzen, als bei der nur vorgetäuschten „OSZE-Mission“ in der Ostukraine, die ihre „Beobachter“ nur mit dem Wunsch der Putsch-Regierung in Kiew begründet hatte. Damit wurde das OSZE-Konzept der „kooperativen Sicherheit“ (Wesel 2012, S.192) machtpolitisch missbraucht.

Völkerrechtswidrige Kriege in Kosovo, Irak und Libyen

Die territoriale Machtpolitik des Westens bei der Neuordnung Osteuropas sei, so August Pradetto, von Anfang an mit fragwürdigen Mitteln betrieben worden. Schon Anfang der 90er Jahre habe in Jugoslawien die vorschnelle Anerkennung von Separatisten durch Washington, Berlin und Brüssel die Krieg zurück nach Europa gebracht:

„Je nach Kalkül wurde diese Politik einmal mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, ein anderes Mal unter Hinweis auf die völkerrechtlichen Prinzipien von Souveränität und territorialer Integrität gerechtfertigt. So unterminierte man erfolgreich das im internationalen Raum ohnehin zu schwach ausgeprägte Rechtsbewusstsein.“ (Pradetto 2014, S.74)

Man hätte auf dem Balkan einige Volksgruppen unterstützt, andere nicht –und in Bosnien-Herzegowina sogar ein neues Mini-Jugoslawien kreiiert. Der Jugoslawienkrieg gilt heute als Lehrbuchbeispiel für völkerrechtswidrige Kriegführung (vgl. Wesel 2012, S.208), wobei Predetto noch nicht einmal die Pentagon-Kabul-Riad-Kooperation beim Einschleusen von militanten Islamisten nach Kroatien berücksichtigt (Elsässer 2008, S.69).

Besonders verwerflich und langfristig unklug findet Pradetto aber trotzdem die vom Westen angewandte „Gewalttaktik bei angestrebten Regimewechseln“: Vom „Aufpäppeln nationalistischer Gewaltgruppen wie der UCK“ in Serbien, um den Kosovo schneller abzuspalten, bis zur Förderung der „islamistischen Gewaltopposition in Libyen, der die Nato in einem acht Monate dauernden Krieg den Weg nach Tripolis freigebombt hat.“ (Pradetto 2014, S.74)

Prof.Pradetto fragt vor diesem historischen Hintergrund nun, woher die aktuelle mediale Empörung über Putins Annektion der Krim denn rühren könnte. Werde von Putin etwa erwartet, dass er sich völkerrechtlich, politisch und rhetorisch anständiger verhalte als unsere eigenen westlichen Führer? Oder habe sich in den Medien mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, dass alles, was der Westen mache, per se legitim sei –und das, was Russland mache, per se illegitim?

„Wenn das so ist, dann sitzen ‚unsere‘ Journalisten und Beobachter nicht weniger der Propaganda ihrer Staatsführer oder ihrer eigenen Ideologie auf als die Journalisten und Beobachter in jenen Ländern, die wir für gelenkte Demokratien oder Diktaturen halten.“ (Pradetto 2014, S.75)

Prof.Pradetto mahnt zur Bescheidenheit, da der Westen nur ein Zehntel einer Weltbevölkerung ausmache, die ihm mehrheitlich kritisch gegenüberstehe, auch wegen seiner eben beschriebenen Doppelmoral. Der Bundeswehr-Wissenschaftler plädiert für eine Reaktivierung geopolitischer Sensibilität anstelle von medialer Hysterisierung und Dämonisierung. Man solle die Annektion der Krim durch Moskau anerkennen und im Gegenzug realistische Garantien für eine nicht in die Nato zu drängende Ukraine fordern –Pradetto weist darauf hin, dass sogar Henry Kissinger für so eine Lösung sei. Soweit eine Stimme aus dem Umfeld der deutschen Bundeswehr, die geopolitische Vernunft gegen die auch in diesem Blog kritisierte Medienhetze gegen Putin fordert. Pradetto ist zuzustimmen, auch wegen der besonderen Bedeutung der Krim für Russland.

Die Bedeutung der Krim

Wie die Ukraine ist auch die Krim von besonderer Bedeutung für Moskau –und das schon seit mehr als 200 Jahren. Erst im späten 18. Jahrhundert gewann Russland den Zugang zum Schwarzen Meer, wo 1794 die Hafenstadt Odessa gegründet wurde. Doch das Schwarze Meer ist durch die Meerenge bei Istanbul von den Weltmeeren getrennt, so dass Russland noch im gesamten 19. Jahrhundert versuchte, die Kontrolle über den Bosporus zu gewinnen. Damit geriet Russland zwangsläufig in Konflikt mit London, das dem Mittelmeer als Seeweg nach Indien eine große Bedeutung beimaß. London unterstützte folglich das Osmanische Reich gegen die russische Expansion in den Mittelmeerraum. Auch in Zentralasien rivalisierte Russland mit Großbritannien, um einen Zugang zum indischen Ozean zu erlangen, was sich zum Krimkrieg (1853-1856) zuspitzte, wo London mit Paris und sogar den Osmanen gegen Russland kämpfte. Dabei wurde die Belagerung von Sewastopol, des Stützpunktes der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim zum Hauptkriegsschauplatz (vgl. Lieven 2000, S.141, Buckley).

heartland21

Mackinders“Heartland“

Auch heute noch ist dieser Stützpunkt von entscheidender Bedeutung. Er ist einer der vier großen Flottenstützpunkte Russlands und unverzichtbar für Moskaus Präsenz im Mittelmeerraum. Die Beherbergung der Schwarzmeerflotte machte aber auch einen NATO-Beitritt der Ukraine quasi unmöglich. Daher war es seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 immer das Ziel prowestlicher Politiker wie des Ex-Präsidenten Juschtschenko, Moskau von der Krim zu vertreiben. Umgekehrt war Anfang 2010 die Entscheidung des proöstlichen Ex-Präsidenten Janukowytsch so bedeutsam, den Pachtvertrag der Schwarzmeerflotte bis 2042 zu verlängern –dadurch wurde ein Beitritt der Ukraine zur NATO für Jahrzehnte erschwert. Bald danach strich das Parlament in Kiew mit der Mehrheit Janukowytschs folgerichtig das Ziel eines NATO-Beitritts aus der Nationalen Sicherheitsstrategie der Ukraine: Eine schwere geopolitische Schlappe für die USA. Wie im Westen, so ging es Washington fast zeitgleich auch an Moskaus Südflanke. In Kirgisistan wurde ein prowestlicher Präsident durch einen „Regimechange“ beseitigt: Bakijew, der den USA bis dahin ihre wichtigste Luftwaffenbasis mitten in der asiatischen Landmasse (Mackinders „Heartland“) offengehalten hatte.

Flottenbasis Sevastopol gegen Airforce-Stützpunkt Manas?

War der nach altbekanntem CIA-Muster angezettelte Maidan-Putsch in der Ukraine eine Reaktion auf den Verlust von Manas? War es ein Versuch des Pentagon, sich die wichtigste russische Flottenbasis anzueignen –als Revanche für den Verlust der Manas-Airbase unweit der Hauptstadt Bischkek in Kirgisistan? Die Luftwaffenbasis am Flughafen Manas wurde 2001 mit Putins Zustimmung errichtet, der sich damals noch mit Washington im „Kampf gegen den Terror“ traulich vereint glaubte. Aber sieben Jahre später war der Westen in Europa vorgerückt und US-Präsident Bush hatte in brutalen Eroberungskriegen in Afghanistan und Irak geopolitische und ökonomische US-Interessen unter dem Deckmantel der „Terroristenjagd“ geführt.

2008 bot Russland Kirgisistan Unterstützung an, um die Abhängigkeit vom Westen zu Kirgistan-flagverringern und errichtete wenige Kilometer vom US-Luftwaffenstützpunkt Manas entfernt eine eigene Militärbasis. Der damalige Präsident Bakijew nahm die Entwicklungshilfe, doch die US-Militärbasis blieb im Land, sie wurde lediglich in „Transitzentrum“ umbenannt. 2010 fegte ein Aufstand Bakijew aus dem Land und seither kam das Land Moskau wieder näher. Im Mai 2013 kündigte die neue kirgisische Regierung die Verträge mit den USA über die Basis Manas zum Juni 2014. Hintergrund sind wieder enger werdende Beziehungen zu Russland: 2012 hatte Putin ein Milliarden-Programm für den Ausbau der Wasserkraft angeboten, Kirgisistans zweitem Reichtum neben den Bodenschätzen. Dazu legte Putin noch einen Schuldenerlass und die Übernahme des maroden kirgisischen Gasnetzes durch die russische Gazprom drauf.

Centerra Gold Inc.Kirgisistan ist nicht nur Geopolitisch wichtig, es liegt dort auch eines der größten Edelmetallvorkommen der Welt: Die Goldmine Kumtor, wo Ende 1996 das kanadische Unternehmen „Cameco“ mit dem Goldabbau begann –mittlerweile tätig als Cameco-Subfirma „Centerra Gold“. Bischkek ist nicht glücklich mit den Verträgen über die Schürfrechte, die das frühere korrupte Regime zu Ungunsten des Landes mit den Kanadiern abschloss und will sie neu verhandeln. Es bleibt zuviel giftiges Zyanid und viel zu wenig Geld im Land hängen, während die Kanadier Milliarden an Gold einsacken und der wegen mafiöser Tätigkeit inzwischen in Bischkek verurteilte Bakijew sich im Ausland seines gewaltigen, auf Kosten des Landes ergatterten Reichtums erfreut.

Statt Mäßigung und Vernunft nur Häme für „Putinversteher“

Westliche Medienlügen in Sachen Ukraine könnten also im Dienste purer Gold- und Machtgier westlicher Eliten einen neuen Krieg in Europa riskieren. Es zeigt sich ein Größenwahn und eine irrationale Besessenheit wie schon beim Finanzangriff auf Griechenland (vgl. Rueger 2012). ARD & Co. verschwiegen uns die Faschisten auf dem Maidan, gaben nur zögernd, nach großem Druck aus Blogs und dem Netz, einige wenige Informationen darüber preis –dazu noch oft als russische Propaganda hingestellt. Nur wenige mutige und vernünftige Köpfe im Westen, wie August Pradetto, Reinhard Mutz oder Peter Scholl-Latour versuchten mäßigend auf die Raserei der Journaille einzuwirken –sie wurden und werden hämisch als „Putinversteher“ an den Pranger gestellt.

„Wenn Sie sich einmal anschauen, wie einseitig die hiesigen Medien, von TAZ bis Welt, über dieLatour Ereignisse in der Ukraine berichten, dann kann man wirklich von einer Desinformation im großen Stil berichten…“ Peter Scholl-Latour in Telepolis

Deutlichstes Zeichen der Propaganda war –auch angesichts der sonst sehr großen Aufmerksamkeit unserer Medien für alle Anzeichen von Nazismus– das lange Schweigen zu Svoboda und Rechtem Sektor: In vielen deutschen Blogs war seit Monaten bekannt, dass Rechtsextremisten, Neonazis und Faschisten in Kiew und der Westukraine den militanten Kern der Proteste darstellen, z.B. „Existenz“ berichtete bereits im Januar:

„Das Schweigen der Medien zu den Auftritten der NeofaschistInnen dürfte vor allem mit einem Interesse an einem möglichst positiven Image der Demonstrationen zusammenhängen… die DemonstrantInnen werden von europäischen Zeitungen und Fernsehsender hofiert, dass unter ihnen auch NeofaschistInnen sind, wird dabei verschwiegen.“ Ebenso verschwiegen werden meist geopolitische Machenschaften des Westens.

Quellen:

Buckley, Michel: Die Ukraine als geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, TheHeartlandblog

Elsässer, Jürgen: Terrorziel Europa. Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste, Salzburg 2008

Gaznate, Galindo: Centerra Gold unter Druck: Proteste in Kirgisistan, Jasminrevolution 10.4.2014

Lieven, Dominic: Empire. The Russian Empire and its Rivals, London 2000

Mackinder, Halford John: Democratic Ideals and Reality, London 2009

Mutz, Reinhard: Die Krimkrise und der Wortbruch des Westens, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.4/2014, S.5-10

Pradetto, August: Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.5/2014, S.73-78

Pradetto, August: Zentralasien und die Weltmächte, oder: Great Game Boys auf Reisen, Frankf./M. 2012, pdf

Rueger, Gerd R.: Die Wurzeln der Euro-Krise: Goldman Sachs versus Griechenland, Le Bohemien (24.5.2012)

Wesel, Reinhard: Internationale Regime und Organisationen, München 2012

Harald Welzer: Das Selbst im Widerstand gegen das Denken

Theodor Marloth  06.06.2013

Ein neuer Star am Himmel neoliberaler Pseudo-Kritik ist Harald Welzer. In den neoliberalen Medien umjubelt, bei Bertelsmann  zuständig für „Wege zur Selbst GmbH“ gibt er den Öko unter den Entpolitisierern. Welzer behauptet, der Neoliberalismus sei keine Ideologie und auch ganz friedfertig. Denn er sei ja nur ein “Konsumismus”, der keine Feinde kenne, und alle nur mit seinen Produkten glücklich machen wolle. Welzers  schreibt viel ab bei linker Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik, die er als eigene Ideen ausgibt. Neben diversen Öko-Projekten will Welzer vor allem die Entpolitisierung der Menschen fördern: Dosenpfand statt Konzernkritik, Bio-Kaviar schlürfen statt Sozialisten in die Parlamente wählen. Dafür murkst der Sozialpsychologe sich ein krudes Welt- und Menschenbild zusammen und setzt auf den Frust der Bürger an der Demokratie, wenn er zum Wahlboykott aufruft.

Harald Welzer, Inhaber einer hippen Professur für “Transformationsdesign”, darf in den neuesten “Blättern” (bislang als linkes Polit-Magazin bekannt) über 13 Seiten seinen Sermon ausbreiten und Werbung für sein neues Buch machen: “Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand”. Darin behauptet „der vielleicht konsequenteste Vordenker des Landes“ (Bertelsmann Buchclub-Werbung), der Neoliberalismus sei keine Ideologie und auch ganz friedfertig. Denn er sei ja nur ein “Konsumismus”, der keine Feinde kenne, und alle nur mit seinen Produkten glücklich machen wolle (die Millionen Todesopfer bei Raubkriegen zur Rohstofferoberung lässt Welzer ebenso unerwähnt wie Hartz IV-Opfer hierzulande).

Welzers “selbst denken” besteht fast ausschließlich aus dem Abschreiben linker Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik, die er aber als eigene Ideen ausgibt. In zynischer Verachtung schweigt Welzer alle Aktionsgruppen und Bewegungen tot, die für Ökologie und gegen Globalisierung kämpfen -pickt sich aber hie und da  ein paar grüne Rosinen heraus, um sie sich an seine eigene Brust zu heften. Neben diversen Öko-Projekten will Welzer vor allem die Entpolitisierung der Menschen fördern: Dosenpfand statt Konzernkritik, Bio-Kaviar schlürfen statt Sozialisten in die Parlamente wählen -dafür darf ein „Gesellschaftskritiker“ auch bei Bertelsmann aufs „grüne Sofa“.

Neoliberaler Wolf im Ökoschafspelz?

Kern von Welzers Konzepts ist das Totschweigen jeglichen Widerstands gegen die Globalisierung, ob nun von linken Ökologen, Attac, Sozialisten oder Piraten. Von all denen hat Welzer nie gehört, plappert aber ihre Kritik munter nach, ohne Tiefgang, dafür mit viel Wortgeklingel, wie wir es schon von Ulrich Beck und Frank Schirrmacher kennen. Wir alle sind Konsumisten, die unter “Sofortness” leiden, weil wir immer mehr auf Kredit kaufen wollen. Sein ökonomischer Beleg: Das Volumen der deutschen Konsumentenkredite stieg von “216 im Jahr 1999 auf 227 Milliarden Euro in 2009” (von Inflationsbereinigung hat Welzer offenbar ebenso wenig gehört, wie von Attac und der Tobin-Tax).

Laut Welzer “befinden wir uns heute im postideologischen Zeitalter” des Konsumismus “und in dem sind alle Menschen gleich. Ihre Beglückung regelt ein anonymer Markt, und wenn auf diesem einige besser und andere schlechter davonkommen, so liegt das an den ewigen Gesetzen von Angebot und Nachfrage, nicht an historisch gewachsener Ungleichheit, an Machtvorsprüngen und –nachteilen, an Diskriminierung oder Gewalt und Unterdrückung. Deshalb werden Arme auch nicht als Feinde betrachtet, sondern als Konsumenten in spe.” (S.69)

Eine dümmlichere Apologie des neoliberalen Marktradikalismus hat man selten gelesen, was erstaunt ist jedoch vor allem der Publikationsort. Die “Blätter” waren über Jahrzehnte ein Ort linker Kritik an Machthabern und ihrer Herrschaft durch Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung, deren Opfern der neoliberale Ideologe im Ökopelz Welzer hier zynisches Hohnlachen entbietet. Kaum ein Leser dürfte dort Welzers Mär vom feindlosen Konsumismus schlucken, der seine Rohstoffe nicht durch neokoloniale Raubkriege gewinnt und in den trotz steigendem Überfluss verhungernden Slumbewohnern vor allem die “Konsumenten in spe” sieht. Welzers universale Marktbeglückung, bei der eben zufällig mal einige schlechter davonkommen, was aber nicht an Macht und Ungleichheiten  liege,  sollte Widerspruch wecken. Einige Blätter-Leser wissen um die nicht zufällig schlechteren Chancen eines hungrig zur Schule trabenden Hartz-IV-Kindes gegenüber dem von “historisch gewachsener Ungleichheit” begünstigten Millionärserben und sind auch tiefgründigere historische Analysen gewöhnt als diese von Welzer: “Als der Ostblock so unspektakulär zusammengebrochen war, als hätte die Geschichte bloß einen Furz gelassen, startete die Globalisierung in Form der kapitalistischen Wachstumswirtschaft richtig durch” (S.71).

Auch sonst furzt sich Welzer ein krudes Welt- und Menschenbild zusammen, von der westlichen Überlegenheit, die von der Energie herkomme, die in Psychophysik und Psychoanalyse sichtbar, bei uns in Europa seit der Aufklärung den dynamischen Eroberertyp zum Heroen machte -nicht den still meditierenden Mönch wie zuvor und auf anderen Kontinenten. Sicher ein harter Schlag für Alexander, Cäsar und Dschingis Khan, das zu hören. Welzer ergeht sich in endlosen Aufzählungen meist ökologischer Kritik als hätte er sie erfunden, ohne all jene zu nennen, die seit Jahr und Tag gegen die Umweltzerstörung ankämpfen. Stattdessen mündet sein Lamento immer wieder in adressatlosem Moralisieren für “Gemeinwohlökonomie” und in einer Flut von Appellen an “uns alle”, inklusiv der appellativen Mahnung, die “Praxis des Widerstands” gelinge “nur praktisch, nie appellativ” (S.77). “Deshalb kommt es auf uns an. Ausschließlich auf uns.” Welzers genialer Lösungsvorschlag für die Probleme der Welt: “…die besseren Möglichkeiten der Zukunft gegen die schlechteren der Gegenwart durchzusetzen.” Darauf muss man erstmal kommen –bleibt abzuwarten, wie viele Leser der “Blätter” in Zukunft nach der Möglichkeit einer besseren Quelle für politische Artikel suchen werden.

Der “Spiegel”: Entpolitisierung für Fortgeschrittene

Doch die “Blätter” sind nicht allein: Welzer darf auch im “SpiegelWahl des kleineren Übels(Kritikern als BILD am Montag bekannt) über volle zwei Seiten Werbung für sein neues Buch machen. Titel des “Spiegel-Essays”: “Das Ende des kleineren Übels: Warum ich nicht mehr wähle”. Darin jammert er über die enttäuschten Hoffnungen auf Änderung der Welt durch Beteiligung an Wahlen. Nie hat Welzer begriffen, warum es “ausgerechnet Rot-Grün war, die mit der Agenda 2010 genau jene Deregulierungs-, Privatisierungs- und Steuersenkungspolitik exekutiert hatte, die dem neoliberalen Wunschzettel so punktgenau entsprach”. “Spiegel”-Leser wohl auch nicht, sonst hätten sie Bertelsmanns neoliberales Propagandablatt wohl abbestellt, das von jenem Konzern stammt, der Rotgrün zu Marktgläubigen umerzogen hat. Nie kapierte Welzer auch, warum Schwarz-Gelb “das energiepolitische Jahrhundertprojekt auf den Weg brachte, von dem die Grünen jahrzehntelang geträumt hatten”. Wahrlich verwunderlich, hat Welzer nicht mitbekommen, dass da in Fukushima was explodiert ist? Oder dass Merkel vorher just dabei war, die symbolischen Atomausstieg-St.Nimmerlein-Gesetzchen der Grünen abzuwickeln? So spricht er das politisch nur noch marginal interessierte und informierte Spiegel-Publikum an, dass sich aber irgendwie immer noch links oder grün wähnt und damit in Gefahr ist, doch zur einzigen nicht neoliberalen Alternative abzuwandern: Der Linken, deren Kritik Welzer in seinem Lamento teilweise nachgeplappert hat, natürlich unter Auslassung der Ursachenanalyse.

Aber nur so ergibt Welzers weiteres Jammern über “den Wahlakt als ein masochistisches Exerzitium” einen Sinn, denn jahrelang wurde sein “Kreuzchen bei CDUFDPGRÜNELINKE” von der Suche nach dem “kleineren Übel” getrieben. Halt. Hat Welzer da tatsächlich die Linke in eine Reihe mit den (Ex-) Regierungsparteien gestellt? Obwohl sie im Bund noch nie die Chance hatte, Welzer zu enttäuschen? Obwohl sie im Westen als WASG erst entstand, nachdem die SPD sich kurz nach Schröders Wahlsieg über Kohl brüsk dem Neoliberalismus  zuwandte? Soviel zu Welzers “Selbst denken”. Seine “Anleitung zum Widerstand”: “Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung eines Einverständnisses mit der Politik der Parteien”. Leider ist dies, wie schon die maoistischen Sektierer vom KBW 1981 nach ihrem Aufruf zum Wahlboykott (“Zeigt es den Bonzen in Bonn!”) feststellen mussten, ein dümmlicher Akt, der den besagten Bonzen am Anus vorbeigeht. Seine Individualisierung und Psychologisierung der Politik endet in gelernter politischer Hilflosigkeit. Nach den Lobpreisungen des “Konsumismus”, Motto: “An sich selbst denken”, nun also das lamoryante Fazit “Sich Selbst bemitleiden: Anleitung zur Hilflosigkeit”. Damit wird sein Buch bestimmt zum Bestseller -die neoliberale Firma dankt.

Und am Bertelsmann-Stammsitz in Gütersloh ist abends der Sozialpsychologe und Bestsellerautor Prof. Dr. Harald Welzer zu Gast auf dem „Grünen Sofa“. Er diskutiert faktenreich wie unterhaltsam mit dem Philosophen und „Quer“-Moderator (Bayerisches Fernsehen) Christoph Süß vor Bertelsmann-Mitarbeitern über die möglichen Folgen des Klimawandels – und unseren täglichen Kampf gegen die Endzeit. Bertelsmann Pressemitteilung

32. Netzwerktreffen der Initiative „Wege zur Selbst GmbH“: Professor Meinhard Miegel machte sich in seinem Vortrag Gedanken zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in diesem Jahrhundert…
Abschließend skizzierte Professor Harald Welzer, Autor des Buches „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“, ein Zukunftsszenario aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Bertelsmann-Stiftung

Quellen:

Harald Welzer, “Das Ende des kleineren Übels: Warum ich nicht mehr wähle”, “Spiegel” 22/2013, S.122f.

Harald Welzer, “Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand”, Frankfurt 2013