Deutschlandfunk tobt: Die DDR und Walter Benjamins ‚Blut-Hilde‘

Hannes Sies

Reichsbürger sollten es lesen, ehe sie ihr Urteil über den aktuellen deutschen Staat brechen: Das Buch von Uwe-Karsten Heye kommt harmlos als Familienbiografie daher, hat es aber in sich. Entsprechend hysterisch gerieten Reaktionen bei Kalten Kriegern in Redaktionen etwa von DLF oder Focus. Jeder Medien- oder Philosophiestudent kennt heute Walter Benjamin, den großen Begründer der (post-) modernen Medienphilosophie. Doch nur wenige kannten seine Schwägerin Hilde Benjamin, Frau seines Bruders, des kommunistischen Arztes Georg. Hilde Benjamin war, in den 20er-Jahren erstaunlich genug, Rechtsanwältin und Kommunistin. Sie bekämpfte die Nazis, überlebte und verurteilte in der DDR als Richterin nicht weniger als 67 Nazi-Verbrecher (nur zwei davon zum Tode, was BRD-Hetzmedien nicht abhielt, sie als „Blut-Hilde“ oder „Rote Guillotine“ zu diffamieren), also weit mehr als die gesamte, von Altnazis dominierte BRD-Justiz.

Fünf Menschen, fünf dramatische Schicksale – Walter Benjamin, der Philosoph und Autor. Hilde Benjamin, als rote Guillotine verschrien, aber auch deren Mann Georg Benjamin, Kommunist und Arzt, ermordet im KZ Mauthausen. Schwester Dora, Sozialwissenschaftlerin, die als Jüdin ebenfalls ins Exil getrieben wurde. Und schließlich Hildes Sohn Michael, Rechtsprofessor in Moskau und Ost-Berlin, der zeit seines Lebens mit der Familiengeschichte rang. Auf der Grundlage von bislang unbekanntem Archivmaterial sowie Gesprächen mit Zeitzeugen entwickelt Heye das spannende Psychogramm einer deutschen Familie und rückt ganz nebenbei so manches Zerrbild aus den Zeiten des Kalten Krieges zurecht.“ (Klappentext des Buches)

Der Autor ist kein Unbekannter, sondern führender Funktionär der SPD-Ära: Von 1974 bis 1979 war Uwe-Karsten Heye Pressereferent und Redenschreiber bei Willy Brandt, in den 1980er Jahren war er freier Autor für ARD und ZDF. 1990 wurde er Staatssekretär und Regierungssprecher in Niedersachsen bei Gerhard Schröder, dem späteren Bundeskanzler der rotgrünen Hartz-IV-Regierung, die Deutschland in Jugoslawien wieder zur kriegführenden Nation machte. Dort avancierte Heye 1998 bis 2002 als Staatssekretär zum Leiter des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung und Regierungssprecher. Von 2003 bis 2005 war er deutscher Generalkonsul in New York, 2006 bis 2010 schließlich Chefredakteur der SPD-Parteizeitung Vorwärts. Kann so einer ein kritisches Buch über Westdeutschland schreiben? Er kann, denn die Kritik betrifft die langen, braunen Jahre des CDU-Regimes von Konrad Adenauer. Hauptsächlich deren mangelnde Verfolgung von NS-Verbrechern (die ja in höchsten Ämtern saßen), aber auch die Dämonisierung der DDR (auch weil sie NS-Verbrecher jagte) wird kritisch gewürdigt -was in vielen Buchbesprechungen verschwiegen wurde.

„Wer in den Ausgaben von ‚Spiegel‘ und ‚Zeit‘ bis in die späten 50er-Jahre zurückblättert, und dort über die DDR liest, muss eine Sprache ertragen, die der Tonlage der gleichgeschalteten Nazi-Propaganda noch sehr nahe kam.“ Heye S.225f.

Das Blatt Focus ist zwar noch zu jung, um damals mit gehetzt zu haben, aber er zetert trotzdem über die Blasphemie an Mainsstream-Medien: „Die als „rote Guillotine“ in die Geschichte eingegangene umstrittene Juristin war Ausgangspunkt… Auch Walter Benjamin starb als Verfolgter der Nazis. Diese privaten Tragödien erklären zum Teil Hilde Benjamins spätere Unerbittlichkeit. Dem Buch fehlt es leider an Distanz. In dem Bemühen, die Zerrbilder der Adenauer-Zeit über die „blutige Hilde“ zu korrigieren, schießt Heye übers Ziel hinaus.“

Abgesehen davon, dass der Focus hier offenbar glaubt, Hilde wäre Ehefrau des berühmten Walter Benjamin gewesen (sie war mit dessen Bruder Georg verheiratet, beide wurden von den Nazis ermordet), und damit erkennen lässt, das Buch gar nicht gelesen zu haben -denn genau diese Verwechslung kritisiert Heye bei oberflächlichen Medienberichten über Hilde: Noch weit aufgeregter verreißt Susanne Schädlich im DLF das Buch von Uwe-Karsten Heye. Kein Wunder: der Deutschlandfunk hält es als „Stahlhelm auf Sendung“ mit derAdenauer-Stiftung.

Hilde Benjamin als Justizministerin nennt Staatsfunkredakteurin Schädlich „berühmt und berüchtigt“ und krittelt: „Als „rote Hilde vom Wedding“ war sie schon in den 20er Jahren bekannt, die Bezeichnung war keine Erfindung der Adenauerschen BRD, wie Heye suggeriert.“ Was Heye keineswegs tut, er nennt weit üblere Beschimpfungen aus West-Journalistenkreisen. Doch der DLF tobt: „Den Begriff ‚Unrechtsstaat‘ für die DDR setzt Heye stets in Gänsefüßchen“, was aber Sinn macht, wenn man die Justiz-Erfolge der DDR gegen Nazis beschreibt und dagegen die BRD als Hort der Strafvereitelung zugunsten von Massenmördern betrachtet.

Aber gerade die DDR sieht der DLF in diesem Punkt immer noch kritisch: „In der frühen DDR saß Hilde Benjamin Naziverbrechern gegenüber vor Gericht, verurteilte dann gnadenlos so genannte Feinde des SED-Regimes. Sie fällte Todesurteile.“ Ein Skandal? Angesichts der übelsten Verbrecher der Geschichte? Die Todesstrafe gab es zu diesem Zeitpunkt in den USA, Frankreich, Großbritannien -nicht alle glauben, dass die BRD sie nur aus humanitären Gründen abschaffte; zu viele Nazis-Funktionäre mussten in den das Bonner Parlament dominierenden C-Parteien eine Strafverfolgung fürchten.Wer anderen vorwirft, sie würden etwas „suggerieren“ wollen, sollte nicht im Plural von „Todesurteilen“ sprechen, ohne zu sagen, dass es um genau zwei davon geht -oder soll suggeriert werden, es ginge um viel mehr Todesurteile, um Hunderte gar? (Billigste Propaganda-Methoden à la DLF…)

Doch Fakten oder Ehrlichkeit? Das ficht Redakteurin Schädlich nicht an, sie geht mit Heye hart ins Gericht: „Gut beraten wäre der Autor gewesen, die Biografie nicht als Mittel zum Zweck eigener Reflexionen zu benutzen. Die seitenlangen Ausschweifungen über seine politischen Ansichten wirken störend, ja: aufdringlich, und haben in einer Biografie nichts zu suchen.“ Wirklich nicht? Oder passen sie nur reaktionären Altkonservativen nicht in den Kram, die sich gegen die Aufarbeitung auch der BRD-Geschichte sträuben? „Politische Ansichten“, die den DLF bei einer eminent politischen Biografie „aufdringlich stören“? Will Susanne Schädlich etwa die Politik ästhetisieren? Lesen wir mal beim politischen Medienphilosophen Walter Benjamin nach, was er dazu schrieb, bevor die Nazis ihn in den Tod trieben:

„Die Massen haben ein Recht auf Veränderung der Eigentumsverhältnisse; der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht. Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg, und nur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben.“ Walter Benjamin Das Kunstwerk

Dem DLF gilt die DDR als Hort alles Bösen

Der Aufbau-Verlag gibt einen Gratis-Einblick ins Vorwort des Buches:

Der Kalte Krieg und die Einverleibung Osteuropas in den sowjetischen Machtbereich schufen ein Klima, das es erleichterte, den Terrorstaat Hitlers und die eigene Mitschuld daran zu verdrängen. Entsprechend geriet die DDR im Propagandagetümmel zwischen Ost und West zum Hort alles Bösen, das die Mordtaten der Nazis vergessen machten sollte, sie jedenfalls an die zweite Stelle rücken ließ. Da wurde unbesehen jeder verurteilte Nazi-Täter zum Opfer des »Unrechtssystems« DDR und Hilde Benjamins, die als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts und nach 1953 als Justizministerin der DDR für die Strafverfolgung der NS-Täter zuständig war. Keine Aufregung verursachte hingegen, dass mit dem Verbot der KPD im Westen zugleich mehrere tausend Verfahren gegen ihre Mitglieder und Funktionäre stattfanden.“ Heye S.8

Susanne Schädlich vom Deutschlandfunk DLF ist über diese Argumentation in ihrem Verriss des Buches empört und poltert: „Die Vergangenheit erklärt vielleicht das Handeln, auch das einer Hilde Benjamin. Eine Relativierung ihres Handelns und der SED-Diktatur, wie die Biografie sie nahelegt, verbietet sich. Die Linie verläuft nicht zwischen schlimm und schlimmer, sondern zwischen Diktatur und Demokratie.“

Ein ewig-gestriges Schwarz-Weiß-Denken, das die dunklen Seiten der eigenen Geschichte verschweigen möchte: Das Thema der Nazis in Westdeutschland schweigt Susanne Schädlich dabei völlig tot -nicht nur eine tendenziöse Rezension, wie sie laut Rundfunkstaatsvertrag den Redakteuren des DLF verboten ist, sondern eine reaktionäre Geschichtsklitterung und damit eigentlich ein Medienskandal für sich. Heye reibt den öffentlich-rechtlichen Kalten Kriegerinnen die Fakten aber auch allzu deutlich unter die himmelwärts gereckten „Qualitäts-Journalistinnen“-Nasen:

Dass in Westdeutschland die Nazi-Akteure in Verwaltung, Justiz und Wirtschaft unbehelligt weitermachen konnten, blieb nicht folgenlos. Das in den beginnenden fünfziger Jahren gegründete Bundeskriminalamt zum Beispiel unterschied sich in seiner personellen Struktur kaum vom Reichssicherheitshauptamt, der Terrorzentrale des Nazi-Staates.“ Heye S.9

Eine gerade vorgelegte Studie belege, dass die Hälfte der leitenden Beamten des BKA noch 1959 ehemalige SS-Männer oder Angehörige der Sondereinheiten der Polizei waren, die an Massenmorden hinter den Linien in Russland beteiligt waren. Entsprechend »erfolglos« gerieten Ermittlungen des Amtes immer dann, wenn rechtsextremistische und neonazistische Vorkommnisse aufgeklärt werden sollten -was Heye an die aktuellen NSU-Prozesse erinnert.

BRD-Justiz: Amnestierung der NS-Verbrecher

Leider endet die Gratisleseprobe, die der Verlag aus dem Vorwort gibt, genau da wo es eigentlich interessant wird. Aber dort wird es auch sehr peinlich für die Kalten Krieger des Westens, die bis heute in den Medien sitzen, etwa beim DLF. Der DLF hatte in seinem Verriss des Buches von Heye alle Informationen über die BRD-Nazi-Eliten wohlweislich verschwiegen.

Auf S.9 geht das Vorwort weiter: „Die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus begann in Nürnberg. In 13 Prozessen vor dem Tribunal der alliierten Ankläger ging es um Täter in Partei, Wirtschaft und Wehrmacht, die für Leichenberge verantwortlich waren und für die Raubkriege, die sie angezettelt hatten. Die von den westlichen Siegermächten vorgenommene Entnazifizierung der Täter und Mitläufer, die höchst unpopulär war, wurde schnell deutschen Spruchkammern überlassen. Sie war schließlich nur noch eine Farce und wurde dann bald ganz eingestellt. Der Bundestag verabschiedete eine Reihe von Gesetzen, die einer Amnestie der Nazis-Funktionseliten gleichkamen und ermöglichten, dass sie in ihren Ämtern verbleiben konnten.

Dies erklärt zu einem Teil, warum in den damals von Ex-Nazis durchsetzten Redaktionsstuben der Bundesrepublik, anders als in der DDR, wenig bis kein Interesse bestand, sich mit der Nazi-Vergangenheit zu befassen. Hilde Benjamin war bevorzugtes Ziel von Kampagnen verbunden mit einer Neigung, das SED-Regime derart schwarzzumalen, dass die Ungeheuerlichkeit des SS-Staates dagegen zu verblassen schien. Eine geschichtsblinde Überzeichnung, die bis heute wahrzunehmen ist. Erst 1972, in der ersten Rede des Bundeskanzlers Willy Brandt zur Lage der Nation, wurde der Unterschied im Umgang mit dem Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten eingeräumt.“ (Autor Heye war damals dessen Ghostwriter!) …

So sind Akten über NS-Verbrecher wie Klaus Barbie oder Adolf Eichmann, die sich ins Ausland absetzen konnten, noch immer Verschlusssache… was auch verhindert, dass die Öffentlichkeit Genaueres über die Rolle erfährt, die der Geheimdienst BND in Pullach dabei spielte. (Heye S.11)

Aber der DDR-“Unrechtsstaat“ verfolgte NS-Verbrecher

Interessant wird die Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte dann im 10.Kapitel: Alles was Recht ist. „Die Abneigung der Justiz in der BRD, die Verbrechen des Hitler-Staates aufzuklären, hat nicht nur die Angehörigen der Opfer zur Verzweiflung gebracht…

„Der regelmäßige Freispruch fußte ebenso regelmäßig auf dem Tatbestand… ‚Befehlsnotstand’… Der Völkermord auf Befehl blieb straffrei.“ (Heye S.219)

Die Zahl der Verfahren von Nazi-Unrecht lag 1948 (unter alliiertem Recht) noch bei 1800 Verfahren, 1955 waren es noch 21, so Heye (S.220)

1968, als es durch den jüdischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und seine Auschwitz-Prozesse mit erstmals echter Strafverfolgung von Nazis durch die westdeutsche Justiz gekommen war, kam es in der BRD praktisch zu einer Generalamnestie der Nazi-Mörder. In ein Gesetz über Ordnungswidrigkeiten hatte ein Ministerialbeamter Namens Eduard Dreher eine Verkürzung der Verjährungsfrist für Beihilfe zum Mord auf 15 Jahre eingeschmuggelt, berichtet Heye. Da eine genaue Täterschaft eines konkreten Mörders an einem identfizierten Opfer sich bei den NS-Massenmorden kaum je nachweisen ließ, blieb der Justiz de facto nur der Straftatbestand der Beihilfe zum Mord. Gerade dieser Tatbestand war ab 1968 aber verjährt gemacht worden -eine Debatte darüber blieb aus.

In der DDR dagegen wurden zwischen 1945 und 1965 die (angesichts großer Nazi-Verbrecher-Fluchtbewegungen gen Westen) stattliche Anzahl von 1200 NS-Schergen verurteilt, etwa jeder 10. davon erhielt die Todesstrafe, 230 Täter bekamen lebenslange Haftstrafen. Nur zur Erinnerung: Die Nazi-Richter des Hitler-Faschismus hatten ca. 50.000 Todesurteile verhängt, keiner von ihnen wurde in der BRD angeklagt. Adenauer wird zitiert mit der angesichts dieser Faktenlage skandalösen Behauptung: „Der Druck, den der Nationalsozialismus… durch seine Konzentrationslager ausgeübt hat, war mäßig gegenüber dem, was jetzt in der Ostzone geschieht.“ (z.n.Heye S.222)

Adenauer, Globke und das Sturmgeschütz der Demokratie

Der starke Mann hinter dem greisen CDU-Kanzler Adenauer war der Nazi-Jurist Hans Maria Globke, dem Heyes Buch leider nur den Nebensatz widmet, dass er „1963 in der DDR in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde“. Unter Hitler war Globke ein maßgeblicher Drahtzieher der rassistischen Gesetze zur Judenverfolgung, unter Adenauer organisierte er vermutlich die Integration der Nazi-Beamtenschaft in den BRD-Staatsapparat. Dafür beleuchtet Heye die Medien-Propaganda auch des späteren selbsternannten „Sturmgeschützes der Demokratie“, Bertelsmanns ‚Spiegel‘, gegen die DDR und speziell gegen Hilde Benjamin.

Für ehemalige Nazis in den Medien der BRD war Hilde Benjamin eine willkommene Projektionsfläche… Wer in den Ausgaben von ‚Spiegel‘ und ‚Zeit‘ bis in die späten 50er-Jahre zurückblättert, und dort über die DDR liest, muss eine Sprache ertragen, die der Tonlage der gleichgeschalteten Nazi-Propaganda noch sehr nahe kam.“ Heye S.225f.

Der Spiegel giftete damals hinterfotzig gegen Hilde Benjamin („über wieselflinken Augen nisten Zöpfe“), die als Richterin Nazi-Schergen aburteilte. „Blut-Hilde“ (Spiegel) verurteilte doch tatsächlich Nazi-Massenmörder zum Tode -ein Skandal? Dass es in Westdeutschland, anders als in Frankreich und England, keine Todesstrafe mehr gab, war wohl nicht nur humanistischen Motiven zu verdanken -Altnazis unter den C-Parteien im Bonner Parlament hatten vermutlich auch auf eine zu erwartende Prozesswelle gegen Nazi-Mörder geschielt. Dass diese im Westen ausblieb, stellte sich erst später heraus.

Der Spiegel müht sich laut Heye penetrant, Hilde Benjamin in die Nähe des Nazi-Blutrichters Freisler zu rücken, musste jedoch nach einigen Jahren der Hetze 1959 verblüfft zugeben, es sei „bemerkenswert, wie wenig Todesurteile sie in den vier Jahren ihrer Amtszeit aussprach… von 67 Angeklagten… verurteilte sie nur zwei zum Tode.“ (Heye S.233) Leider sagt uns Heye nicht, wer die beiden waren und welcher gewiss barbarischen Nazi-Verbrechen sie sich in in ihren KZ-, Vernichtungs- und Folterlagern schuldig gemacht hatten. Dafür nennt er Fälle von NS-Verbrechern, die im Westen straffrei davonkamen.

Sabotage der DDR-Wirtschaft brachte das MfS

Ferner beschreibt Heye noch Hilde Benjamins Kampf als Richterin und Justizministerin gegen Wirtschaftskriminelle und breit angelegte Sabotage, mutmaßlich vom Westen gesteuert: Sprengstoffanschläge auf Fabriken, Eisenbahnzüge usw. Obwohl die CIA sich inzwischen mit umfangreichen Terror-Programmen gegen die DDR brüstete, glaubt Heye, die Urheberschaft sei bis heute „unklar“? Gegen diesen verdeckten Krieg, den er freilich nicht so nennt und ins Konjunktiv setzt, erfahren wir aber immerhin bei Heye, gründete die DDR 1950 den Inlandsgeheimdienst MfS. Was natürlich nicht dessen spätere Stasi-Repressionen gegen friedliche politische Oppositionelle rechtfertigt. Doch wie wir erfahren haben, wurden linke Oppositionelle auch im Westen drangsaliert. Die DDR als Hort des Bösen der güldenen BRD im Freien Westen gegenüberzustellen, wie im DLF „hie Demokratie, da Diktatur“, erweist sich nicht nur als tendenziöse Versimpelung, sondern als pure Propaganda und Geschichtsklitterung.

Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie,
Aufbau Verlag, Berlin 2015, 361 Seiten, 12,99 Euro

Globale Sklavenhaltung und neoliberaler Sozialdarwinismus

Hannes Sies Sklavenhalter

Globalisierungskritiker wie Attac kämpfen seit Jahrzehnten gegen die globale Ausbeutung, doch nun sollen ihnen ihre schärfsten Argumente aus der Hand geschlagen werden: In der BWL (Betriebswirtschaftslehre) hat eine PR-geschulte Professorin das Thema Sklavenarbeit und globale Ausbeutung in neoliberalem Sinne umgedeutet und versucht, eine großangelegte Kampagne daraus zu machen: Nicht neoliberale Ideologen und globale Konzerne sind verantwortlich für Ausbeutung und Sklaverei in der Dritten Welt, sondern „wir alle“. Eine bequeme Methode für die Konzerne und Geldeliten, sich ihrer Verantwortung zu entledigen und dem Kampf für Menschenrechte in den Rücken zu fallen. Zur neoliberalen Kampagne „Wie viele Sklaven halten Sie?“

Der Neoliberalismus will die Gesellschaft nach dem sozialdarwinistischen Wettbewerbsregime umformen. Sozial Schwache sollen dem Zugriff der Geldeliten schutzlos ausgeliefert werden. Zentraler Hebel sind dabei die globalen Finanzmärkte, deren Deregulierung Großkonzernen (fast immer von Weißen geführt) den Weg zu grenzenloser Macht öffnet -statt demokratischer Transparenz herrschen oligarchische Kartelle. Nur der „Erfolgreiche“ (sprich: der neoliberale Konformist, meist schon durch Herkunft und Erbe privilegiert) soll seine Menschenrechte zugestanden bekommen -für alle anderen gilt: Bist du arbeitslos, bist du grundsätzlich selber schuld (auch wenn gar nicht genug Arbeitsplätze für alle vorhanden sind) und wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Hartz IV bei uns und globale Ausbeutung für den armen Teil der Welt sind Programme, um diese Ideologie umzusetzen. BWL-Professorin Hartmann will die Verantwortung für Ausbeutung jetzt großzügig mit jenen Hartz-IV-Drangsalierten teilen, mit denen unsere Machtelite sonst am liebsten gar nichts teilen würde:

„Wenn Sie Kleidung tragen, Nahrung zu sich nehmen, ein Auto fahren oder ein Smartphone haben, arbeiten derzeit ungefähr 60 Sklaven für Sie und mich. Ob wir wollen oder nicht. Und ohne dass wir das veranlasst hätten. Wie fühlen Sie sich damit?“, fragt uns BWL-Professorin Evi Hartmann. Das klingt kritisch, das klingt gut und viele auch links der Mitte haben den Köder geschluckt (Bertelsmann-Medien Stern/Spiegel usw. sind natürlich die Haupt-Propagandisten): Sogar Labournet und die altsozialdemokratischen Nachdenkseiten haben es empfohlen -offensichtlich ohne es zu lesen. Die immer mehr nach rechts abdriftenden „Blätter für deutsche und internationale Politik“ haben der Autorin sogar ihre Titelseite geschenkt (Nr.3+4/2016) und sie einen Zweiteiler von unsäglich miserabler Qualität schreiben lassen, um für ihr Opus werben zu können.

Das allerorten hochgepriesene Buch verspricht im Untertitel „Über Globalisierung und Moral“ zu informieren. Genau das tut es aber nicht. Es bemüht sich vielmehr auf raffinierte Weise, die moralische Verantwortung für Ausbeutung und Sklaverei zu vertuschen: Am Ende sind wir bei Evi Hartmann alle „Sklavenhalter“, denn „unsere Wirtschaft“ mache uns alle zu Sklavenhaltern – das führe uns „jedes Drei-Euro-T-Shirt und jede Reportage über die Sweatshops in der Dritten Welt vor Augen“. Ob die Professorin wohl jemals ein solches Billig-T-Shirt getragen hat?

„Über den Daumen gerechnet eineinhalb Milliarden privilegierter Menschen im Westen konsumieren rund 80 Prozent aller Güter dieser Welt.“ (Hartmann, a.a.O., S. 22)

Das meiste davon, das verschweigt Hartmann, konsumieren freilich nicht die im Westen ausgebeuteten Träger von Drei-Euro-T-Shirts, sondern die reichen zehn Prozent, die über 50% des Vermögens angehäuft haben (zu denen Frau Hartmann selber zählen dürfte). Worauf will sie also hinaus? Wir kennen diese Anklagen gegen eine ausbeuterische globale Industrie doch seit Jahrzehnten, besonders von Globalisierungskritikern wie Attac. Doch die Logistik-Professorin Hartmann hat ein Mantra für ihre Kritik, das für Attac wie ein Schlag ins Gesicht klingt: „Wir können die Globalisierung nicht abschaffen, auch können wir die Spielregeln nicht ändern.“

Wäre ja auch dumm für ihr Fach Logistik, das seinen Reputations- und Postengewinn (unter dem neuen Label „Supply Chain Management“) der Globalisierung verdankt: Professorinnen wie sie bringen den Konzernen bei, wie sie die Ausbeutung global organisieren und die Produktion dahin verlegen müssen, wo sie ihre Arbeiter bis aufs Blut ausbeuten können. Besonders gern werden die Lieferketten bis in Länder verlegt, wo kleine Kinder wie Sklaven gehalten werden. Aber ist daran wirklich der hiesige prekär schuftende oder Ein-Euro-Sklave, der sich nur billige Hemden leisten kann, Schuld? Oder nicht vielmehr die Konzerne, die korrupte Politik, die keine Gesetze dagegen erlässt, und vor allem die VWL- und BWL-Professoren, die der Politik die Deregulierung und Globalisierung predigen und den Konzernen erklären, wie sie damit am meisten Profit machen können?

Ihre Lösung: Statt Politik muss der Markt die Menschenrechte regeln. Wenn wir alle nur bei „guten Konzernen“ kaufen, die nicht ausbeuten, dann gibt es keine Ausbeutung mehr. Also ein moralisch begründeter Warenboykott. Leider hat Hartmann scheinbar keine Ahnung von der bei ihr behandelten Materie. Sonst wüsste sie, dass Boykott -wenn überhaupt- nur bei Markenprodukten wirksam ist (etwa Greenpeace-Kampagne gegen Schokoriegel Kittkat mit ökologisch bedenklichem Palmöl). Ihr Fokus liegt nicht auf den Menschenrechten der Kinder, deren Leid sie ausufernd schildert, was ein guter Beitrag zur Globalisierungskritik wäre, wäre es nicht allzu offensichtlich als bloße Manipulation der Emotionen der Leser gedacht. Politische Ansätze sind ihr nicht bekannt, mit den Büchern etwa von Jean Ziegler, der sein Leben dem Kampf gegen globales Unrecht widmet, ist sie nicht vertraut.

Sie will den ausgebeuteten Menschen nicht mehr Rechte geben, sich etwa gewerkschaftlich zu organisieren und für bessere Arbeitsbedingungen, menschenwürdigen Lohn und Befreiung der Kindersklaven zu kämpfen. Hartmanns Perspektive ist ausschließlich die der Managerin, die geschockt von Tausenden Toten Näherinnen bei Fabrikbränden und -einstürzen in Bangladesh, nach Verantwortlichen sucht. Nach anderen Verantwortlichen als ihr selbst, hilfsweise nach Verantwortung „bei uns allen“. Von Ethik und Politik versteht sie nichts. Aber viel von BWL, PR und Marketing, wie der künstliche, nicht durch das dümmliche Propaganda-Büchlein zu rechtfertigende Hype um sie und ihre Opus zeigt.

„Jeder von uns ist ein Sklavenhalter, wenn er meint bestimmte Produkte so günstig kaufen zu sollen wie sie ihm angeboten werden. Jeder kennt die Unternehmen, die ihre Lieferanten ausquetschen. Globalisierung ist das Fortsetzen dieses Ausquetschens über moralische Grenzen hinweg mit Kinderarbeit und Sklaven, die in würdelosen Umgebungen menschenentrechtet arbeiten müssen. Der Kampf Moral gegen Moneten wird nicht gewonnen, wenn wir Konsumenten nicht beginnen, diese Dinge zu durchschauen – und zu handeln.“ So lässt sich Hartmann in zahlreichen auffällig oft positiven (angeblichen) „Kunden-Rezension“ bei Amazon bejubeln: Hat sie wirklich schon so viele begeisterte Leser gefunden, die ihr dort fünf von fünf Sternchen geben? Oder betreibt sie nur hochprofessionelles Marketing für ihre Rechtfertigung der Globalisierung?

Eine unter dem Decknamen „Vielleserin“ schreibende angebliche Kunden-Rezension klingt fast wie ein marktschreierischer Werbetext aus der PR-Branche: „..sie überzeugt auch durch einen spritzigen Schreibstil, der dazu verleitet, ihr Buch in einem Rutsch durchzulesen – fast schon wie bei einen packenden Krimi.“ Auf mich wirkte das zynisch herunter geschnodderte Opus der Professorin weniger spritzig als vielmehr wie kalter Kaffee, der altbekannte Kritik von Links in stramm rechtspopulistische Formen gießt. Der Krimi besteht allenfalls darin, wie hier eine Gruppe von hoch kriminellen Sklavenhalter-Konzernen durch eine aalglatte Anwältin die Fakten zu ihren Gunsten hinbiegen lässt. Sie vermischt dabei ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch Ausbeutung, Menschenhandel, Sklavenhaltung und (angebliche) Konsumkritik.

Die von ihrem Verlag zur „Expertin für globale Netzwerke“ hochgejubelte Autorin („BWL-Professorin und vierfache Mutter“) liefert angeblich „weit mehr als eine kritische Analyse“, nämlich einen „Wegweiser, wie Fairplay in der Globalisierung funktioniert“, „die persönlichste Globalisierungskritik, die Sie je gelesen haben“. Das Buch sei zwar „keine Aufforderung, die Globalisierung abzuschaffen“, aber biete „eine Anleitung zum kritischen Denken und pragmatischen Handeln“. Kritisches Denken ist aber nicht feststellbar und die „globalen Netzwerke“, für die Evi Hartmann „Expertin“ ist, sind nicht die der Menschen, die auf Sozialforen, bei Attac und in der UNO für Menschenrechte kämpfen. Hartmann steht für die Finanz-Netzwerke der Großkonzerne und ihre rassistische Ausbeutung (weiße Menschen werden weniger brutal ausgebeutet als farbige). Expertin ist sie dafür, diese Ausbeutung zu verschleiern, indem Konzerne etwa mit windigem, unverbindlichem Firmenkodex der kritischen Öffentlichkeit Sand in die Augen streuen können. Die dort oft versprochene „Social Responsibility“ der Großkonzerne ist nur PR und soll den Kampf für echte soziale Verantwortung per Gesetz und Regulierung schwächen.

Das „pragmatische Handeln“ der Expertin besteht darin, mit dem Finger auf andere zu zeigen und in Wahrheit nichts am Elend der Ausgebeuteten ändern zu wollen. Denn die Möglichkeiten dafür liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch, die unter Dominanz des Neoliberalismus deregulierte Weltwirtschaft braucht dringend eine Reregulierung. Im Weg stehen korrupte Politik und Medien (zu denen jetzt offenbar auch der Campus-Verlag gehört), die Globalisierungskritik weitmöglichst totschweigen und Bücher und Texte von Akteuren der Globalisierung unters Volk bringen, wo sie nur können. vgl. SolidarWerkstatt (Österreich)

Hartmann, Evi: Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral, Campus Verlag: Frankfurt/NY 2016.

Das verspielte EGO des Frank Schirrmacher

Theodor Marloth  05.06.2013 https://i0.wp.com/www.tip-berlin.de/files/mediafiles/214/0_1020_191771_00.jpg

Neoliberale kritisieren den Neoliberalismus. Neoliberale Medien umjubeln sie als radikale Zeitdiagnostiker und Kapitalismuskritiker. Was FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher uns in seinem Buch „EGO: Spiel des Lebens“ da wirklich präsentiert? Versatzstücke linker Kritik und Spieltheorie auf Stammtisch-Niveau, alarmistisch aufgeblasen, ohne Ursachen-Analyse –dafür mit dem zynischen Fazit: Man kann ja eh nix machen. Bleib zu Hause, Widerstand ist zwecklos, spiel nicht mehr mit.

Bundesverdienstkreuzträger Frank Schirrmacher, als FAZ-Herausgeber einer der mächtigsten Pressemänner im Land, hat angeblich eine Wandlung durchgemacht: Vom erzreaktionären Wirschaftsliberalen zum Freidenker, der linke Kritik nicht mehr als kommunistische Propaganda abtut. Die Finanzkrise brachte die Erleuchtung, dass freie Märkte doch nicht zwangsläufig ins Paradies des „größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl“ führen müssen. Vielmehr kam es zum größtmöglichen Zahlenmüssen der Allgemeinheit für die größtmögliche Zahl von gaunernden Bankstern. Das haben auch immer mehr FAZ-Leser unter finanziellen Schmerzen begriffen. Und bevor die nun alle ins Grübeln kommen, nicht mehr Kohl, sondern den Krisenmahner Altkanzler Schmidt anhimmeln, am Ende noch die FAZ ab- und stattdessen die FR (Frankfurter Rundschau, ehemals liberales Konkurrenzblatt) bestellen, dreht Frank Schirrmacher hektisch rhetorische Pirouetten. Vom neoliberalen Saulus der Märkte zum libertären Paulus der Gesellschaftskritik?

Neobiologist Frank Schirrmacher: “Mein (Überlebens-) Kampf”

War vorher alles toll, was reichen Leuten noch mehr Geld bringt, entdeckt der FAZ-Konsument in Schirrmachers neuem Buch “EGO. Das Spiel des Lebens” plötzlich die Schattenseiten des Neoliberalismus: Eine kalte, gnadenlose Theorie hinter den Märkten, die heute –digital implementiert– unsere Hirne infiziert. Und überall tobt der darwinistische Kampf der “Überlebensmaschinen” (Gene, Meme, Menschen, Märkte), wie einst der Kampf der Rassen beim Biologismus1.0. Heimtückisch firmiert die teuflische Lehre der Marktokraten unter dem drolligen Namen „Spieltheorie“, wurde aber im Kalten Krieg von einem militär-kapitalistischen Think Tank, der berüchtigten RAND-Corporation, entwickelt. (1) Einst für Militärstrategien der nuklearen Abschreckung ersonnen, machte sie sich an der Wall Street breit und peinigt die Welt heute mit der Finanzkrise. Doch im digitalen Datennetz und durch die Massenmedien erfasst sie auch unsere Hirne, diszipliniert und degradiert uns zu ökonomisch ferngesteuerten Robotern. Schirrmacher fragt entsetzt: „Was wird hier mit uns gespielt?“

Soweit alles altbekannt aus linker Kritik am Kapitalismus, hier als plattes, bis zur Lächerlichkeit überzogenes Abziehbild präsentiert. RAND wurde bekanntlich von der US-Bomber-Industrie zwecks schüren antisowjetischer Panik (McCarthy-Hexenjagd) zur Steigerung der Militäretats installiert, um der Kriegstreiberei einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Schirrmacher löst sich jedoch nicht von der kritisierten Ideologie, sondern versucht ihr neues Leben einzuhauchen. Dabei stellte schon 1966 der RAND-Dissident Anatol Rapoport ernüchtert fest:

“Wie die Ideen der primitiven Wirtschaftslehre, so stützen sich auch die Ideen des primitiven politischen Denkens auf eine grobschlächtige Interpretation des Existenzkampfes, was ebenso zu unerbittlichen Schlußfolgerungen über die Unvermeidbarkeit von Machtkämpfen geführt hat und folglich auch zu ihrer Rechtfertigung beiträgt.” A. Rapoport

Endgültig fällt die fadenscheinige Maske des Kritikers, wenn Schirrmacher altbekannte und viel kritisierte Parallelen von Ökonomie und Biologie wiederkäut. Denn den kruden Biologismus neoliberaler Menschenbilder jubelt der angebliche Kapitalismuskritiker Schirrmacher zu mythischer Größe hoch: Unsere egoistischen Gene seien winzige Überlebensmaschinen in uns. Wir Menschen aber seien winzige Überlebensmaschinen in den gewaltigen Überlebensmaschinen der globalen Märkte. Das mystische Wunder der modernen Spieltheorie wirke sowohl in Darwins Selektion des Stärkeren als auch in seiner digital implementierten Version der gewaltigen Finanzmärkte und damit in uns allen. Damit salbt Schirrmachers Pseudo-Kritik das sozialdarwinistische Gesellschaftsmodell des Neoliberalismus zur wissenschaftlichen Wahrheit.

Was Spieltheorie eigentlich genauer ist, scheint Schirrmacher nicht im Detail verstanden zu haben: Eine mathematisierte Scholastik des Homo Ökonomikus, des Menschen als wandelnde Registrierkasse aus der BWL. Ein Ökonom namens Herbert Simon bekam einst den Nobelpreis für die bahnbrechende Entdeckung, dass der Mensch außerdem auch noch ein soziales Wesen ist -der Rest der Sozialwissenschaften wusste dies freilich schon immer, wird jedoch nicht mit Nobelpreisen bedacht. So kreist eine bombastisch aufgeblähte Billigversion linker Kritikfiguren an Neuro-Bullshit-Biologisten, abzockenden Finanzokraten und der globalen Gestapo der Netzwelten um Schirrmachers „EGO“ -in seinem „Spiel des Lebens“. Fazit: Warum das alles geschieht, wer dafür verantwortlich ist und was man dagegen tun könnte -darüber weiß Schirrmacher angeblich nichts. Soll der von soviel Kritik aus seinem Rosa-Brille-Kapitalismus aufgeschreckte FAZ-Leser nicht weiter darüber nachdenken?  Schirrmachers Rat: Einfach nicht mehr mitspielen! Aha. Rückzug ins Private. Bloß nicht politisieren. Auf der konkreten Verhaltensebene gibt es also keinen Unterschied zwischen der ach so radikalen FAZ-Kapitalismuskritik und der üblichen FAZ-Propaganda für die neoliberalen Finanzmächtigen.

Fußnote

(1) Aus der akademischen Welt bezog Schirrmachers Buch jüngst mächtig Prügel von Clemens Knobloch, Professor für Linksgermanistik zu Wiesbaden. Knobloch sieht in seiner achtbaren Kritik Schirrmacher  als Angstmacher vor der “dämonischen Welt der Roboter”, verfällt jedoch in typisch deutsch-professorale Reflexe: Beim Reiz “RAND-Corporation” platzt die Reaktion “Verschwörungstheorie” aus Knobloch heraus und der Name “Foucault” wird mit dem Reflex “Feuilleton” quittiert. Beides spiegelt die hinterwäldlerische Haltung vieler Professoren hierzulande, die immer noch nicht mitbekommen haben, dass Machtstrukturanalyse (PSR) keine “Verschwörungstheorie” ist und Foucault längst als Klassiker des 20.Jahrhunderts kanonisiert wurde.

Quellen

Kees van der Pijl, Vordenker der Weltpolitik: Einführung in die internationale Politik aus ideengeschichtlicher Perspektive, Opladen 1996

Knobloch, Clemens, Schirrmachers >Ego<: Was wird hier mir uns gespielt?, Blätter 5/2013, 97-102

Anatol Rapoport 1966, Systemic and Strategic Conflict. What Happens When People Do Not Think –and When They Do, z.n. van der Pijl  1996, S.252.

Frank Schirrmacher, “EGO. Das Spiel des Lebens”, München 2013