Gerd R. Rueger
Tunesien wurde im Laufe seiner Geschichte von etlichen Kulturen bevölkert. Früh war es von den Berbern besiedelt, um 800 v. Chr. gründeten die seefahrenden Phönizier erste Niederlassungen. Die Römer gliederten es in ihre Provinz Africa ein, das Christentum herrschte dann bis zur Islamisierung und Arabisierung ab dem 7. Jahrhundert. Eine kulturelle Blütezeit erlebte das islamische Land im 12. Jahrhundert. Im 16. Jahrhundert begann die Periode des Osmanischen Reiches, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts andauerte, als das Land französisches Protektorat wurde. Seine (zunächst nur formale) Unabhängigkeit erlangte Tunesien vor 60 Jahren -im März 1956.
Am 3. Juni 1955 kamen die Regierungen Frankreichs und Tunesiens infolge freier Verhandlungen zwischen ihren jeweiligen Delegationen darin überein, Tunesien die volle Ausübung seiner inneren Souveränität zuzugestehen. Sie brachten damit ihren Willen zum Ausdruck, dem tunesischen Volk zu erlauben, zur vollen Entfaltung zu gelangen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. (…) Mit der Antrittsrede des französischen Ministerpräsidenten und der Antwort Seiner Exzellenz le Bey hatten beide Regierungen ihren Willen, ihre Beziehungen im Geiste des Friedens und der Freundschaft auszubauen, bekräftigt und am 27. Februar Verhandlungen in Paris aufgenommen Frankreich anerkennt feierlich die Unabhängigkeit Tunesiens. (Auszug aus dem Protokoll der Übereinkunft zwischen Frankreich und Tunesien, unterzeichnet am 20. März 1956)
Ein Protektorat befreit sich
Am 20. März 1956 wurde so zwischen Frankreich und Tunesien, das als Protektorat nur Restbestände von Staatlichkeit besaß, das Unabhängigkeitsprotokoll unterzeichnet. Gut neun Monate zuvor, am 3. Juni 1955, war zwischen beiden Parteien ein Abkommen über die »Innere Autonomie« Tunesiens geschlossen worden, das wesentliche Elemente der tunesischen Souveränität wie Außenpolitik und ein eigenes Militär für weitere zwanzig Jahre bei Frankreich beließ. Habib Bourguiba hatte dieses Abkommen befürwortet, sein Gegenspieler Salah Ben Youssef, mit dem er gemeinsam die nationalistische Neo-Destour anführte, und große Teile dieser Partei betrachteten es als Verrat an den Zielen der nationalistischen Bewegung. Mit Hilfe der mächtigen Gewerkschaftszentrale UGTT entschied Bourguiba den Machtkampf für sich. Ben Youssef wurde aus der Partei ausgeschlossen und auf Befehl Bourguibas am 13. August 1961 von tunesischen Geheimdienstlern in einem Hotel in Frankfurt am Main ermordet.
Bourguiba, ein genialer Taktiker, hatte den internen Konflikt genutzt, um Frankreich dieses »Unabhängigkeitsprotokoll« abzutrotzen, das in sich widersprüchlich war: Zwar war darin die »Unabhängigkeit« Tunesiens anerkannt, allerdings sollte erst zu einem späteren Zeitpunkt – das Protokoll nennt den 16. April 1956 – darüber verhandelt werden, inwieweit die Verträge vom 3. Juni 1955 »zu verändern oder außer Kraft zu setzen« seien, sofern sie sich im Widerspruch zur Unabhängigkeit und Souveränität des Landes befänden. Bourguiba scherte sich nicht um diese Abmachungen, sondern ließ die sofortige Unabhängigkeit erklären. Postwendend erkannten wichtige Staaten wie die USA und Italien die Souveränität Tunesiens an – Frankreich blieb nichts anderes übrig, als seinerseits diesen Schritt ohne weitere Verhandlungen zu akzeptieren.
Taktiken des Bourguibismus
Diese für Tunesien entscheidende Episode dokumentiert Bourguibas Politikstil, den er selbst »Bourguibismus« nennen ließ: Bar jeder Ideologie war er ein reiner Taktiker, der früh erkannt hatte, dass der Westen die stärkere Kraft im bipolaren System war, deshalb musste man sich mit ihm arrangieren, statt sich ihm zu widersetzen. Also beschwor er die Werte von Freiheit und Demokratie, um den Westen – allen voran Frankreich – damit zu konfrontieren, dass die Kolonialpolitik diese Werte permanent verletzte.
Schon früh fand er einen wichtigen Verbündeten: die USA, die sich damals noch antiimperialistisch gebärdeten und für die Unabhängigkeit der Kolonien eintraten, da das Kolonialstatut sie am freien Zugang zu einem großen Teil der Märkte der Welt hinderte. Kern der Strategie des »obersten Kämpfers«, wie Bourguiba sich in den bald gleichgeschalteten Medien nennen ließ, war der Kompromiss, nicht die Konfrontation: Tunesien, so sein Plädoyer, müsse sich als kleines Land mit dem Stärkeren arrangieren und sollte deshalb Teil des Westens sein – nur so könne es seine Ziele erreichen.
Paris blieb mit Militär
Die Unabhängigkeit bedeutete noch nicht die volle Souveränität Tunesiens: Zwar wurde das Land international anerkannt, aber die französische Armee verblieb auf tunesischem Territorium, eine Reserve für den im Nachbarland Algerien bis 1962 tobenden Befreiungskrieg. Dieser Militärpräsenz entledigte sich Tunis auf »bourguibistische« Weise: Am 8. Februar 1958 bombardierte die französische Luftwaffe völkerrechtswidrig das tunesische Dorf Sakiet Sidi Youssef an der algerisch-tunesischen Grenze und tötete mehr als 70 Menschen. Tunesien wandte sich an den UN-Sicherheitsrat und erreichte mit Unterstützung der USA den Abzug der französischen Armee aus Tunesien. Ihr verblieb nur die Marinebasis Bizerta.
1961 versuchte Bourguiba auch dort die französische Präsenz zu beenden. Das misslang wegen des autoritären Regimes der V. Republik General de Gaulles: Der Putsch der französischen Generäle in Algier hatte der IV. französischen Republik am 13. Mai 1958 ein Ende gesetzt und de Gaulle zurück an die Macht gebracht. Zum anderen war die »Schlacht um Bizerta« keine rein antikolonialistische Aktion mehr, da Tunesien – vor der absehbaren Unabhängigkeit Algeriens – gleichzeitig versuchte, sich nach Süden militärisch zu erweitern und die Ölfelder von Edjeleh in der damals noch französischen Sahara unter seine Kontrolle zu bringen. Dieses Unternehmen scheiterte kläglich.
Die relativ friedliche erreichte Unabhängigkeit Tunesiens bleibt ohne Zweifel das große Verdienst Bourguibas. Dennoch trieb er äußerst ehrgeizig einen Staatsaufbau voran und machte so das kleine Land für eine Weile zu einem nicht unbedeutenden Mitspieler im internationalen System: Mongi Slim war 1961/62 Präsident der UN-Vollversammlung, Tunesien betrieb erfolgreiche Vermittlungsaktionen in internationalen Konflikten und Bourgiba wurde zum Gegenspieler Ägyptens unter Gamal Abdel Nasser im bipolaren System, vor allem aber war er Vaterfigur des tunesischen Nationalismus. Daran änderte auch der »medizinische Staatsstreich« seines damaligen Innenministers Zine El Abidine Ben Ali am 7. November 1987 nichts, der den an Demenz leidenden Staatschef absetzte, das diktatorische System Bourguibas zu einem Terrorregime umbaute und den Staat in eine Kleptokratie verwandelte. Damit verschwand auch der diplomatische Glanz, den Bourguiba dem kleinen Land auf der internationalen Bühne verliehen hatte.
Was bleibt, ist ein tunesischer Nationalstolz, der in unzähligen Nationalfahnen zum Ausdruck kommt, die einem überall im Land begegnen. Sie wurden geschwenkt, als das Volk am 14. Januar 2011 Ben Ali ins saudische Exil verjagte. Dazu sang die Bevölkerung die Nationalhymne, die zuvor das Kampflied von Bourguibas nationalistischer Partei war. Fahne, Hymne und Verfassung sind die drei Symbole der tunesischen Identität, hatte doch der tunesische Nationalismus die Wiederherstellung jener Grundwerte gefordert, die ein aufklärerischer Regent 1863 – zwanzig Jahre vor der Kolonisation – in eine Verfassung gegossen hatte. Darin waren die Abschaffung der Sklaverei, die Gleichberechtigung aller Bürger – ob Muslime, Juden oder Christen – und der Aufbau einer unabhängigen Justiz festgeschrieben. Der 20. März 1956 ist im kollektiven Bewusstsein der Tunesierinnen und Tunesier der Tag, der die Befreiung vom kolonialen Joch ebenso symbolisiert wie den Stolz auf die nationale Identität eines Landes, dessen Geschichtsschreibung mit Karthago beginnt und das sich immer wieder auf seine multikulturellen Wurzeln beruft, für die symbolisch Namen stehen wie Augustinus, Ibn Khaldun – und Bourguiba.
Vgl. Werner Ruf, Geschickte Taktik: Vor 60 Jahren wurde die Tunesische Republik unabhängig, in: Junge Welt, 19.03.2016, Seite 15 / Geschichte