Reblogged: Demokratur

Interviewer: Jens Wernicke

Die Eliten im Lande diskutieren bereits seit Jahren über Sinn und Unsinn, die Vor- und Nachteile der Demokratie. Die Fesseln der Demokratie werden ihnen zunehmend lästig. Wer aber sind diese „Eliten“? Wie organisieren und exekutieren sie ihre Macht? Und wie erreichen sie es, dass es so wenig Gegenwehr gegen immer weiteren Sozialabbau, Entsolidarisierung und Entdemokratisierung gibt? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit dem Autor und Journalisten Marcus Klöckner, dessen Buch „Wie Eliten Macht organisieren: Bilderberg & Co.: Lobbying, Think Tanks und Mediennetzwerke“ soeben erschien. (VSA-Verlag, Hamburg)

-Herr Klöckner, wir verdanken Ihnen nicht nur wunderbare Telepolis-Artikel zum Vertrauensverlust in die Medien und den Gründen hierfür; gerade erschien auch noch das Buch „Wie Eliten Macht organisieren: Bilderberg & Co.: Lobbying, Think Tanks und Mediennetzwerke“, dessen Mitherausgeber Sie sind. Warum dieses Buch? Was treibt Sie an?

Da gibt es mehrere Gründe. Der Aufhänger für das Buch ist, dass es in diesem Jahr genau 60 Jahre her ist, seitdem die Soziologie mit der Theorie der Machtelite bereichert wurde. Es war nämlich im Jahr 1956, als der Soziologe Charles Wright Mills ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „The Power Elite“, das in Deutschland zu Beginn der 60er Jahre unter dem Titel „Die amerikanische Machtelite“ veröffentlicht wurde, herausbrachte.

In dem Buch hat Mills etwas getan, was ein guter Soziologe geradezu tun muss und was leider ziemlich selten geworden ist: Er hat ganz grundlegende „Wahrheiten“ kritisch hinterfragt und ist nicht davor zurückgeschreckt, Antworten zu geben, die feste an dem politischen Wirklichkeitsverständnis von so manchem Zeitgenossen gerüttelt haben.

Sein besonderes Interesse galt dabei der Frage, ob die demokratischen Strukturen in den USA auch tatsächlich in der Praxis, also faktisch funktionieren, oder ob es nicht vielmehr so ist, dass es zwar eine demokratische Oberfläche gibt, sich hinter dieser aber längst Netzwerke gebildet haben, denen es gelingt, den demokratischen Gedanken immer weiter zu unterlaufen.

Das Ergebnis von Mills‘ Forschung war die bereits erwähnte Machtelitentheorie. Demnach geht Mills davon aus, dass es Akteure gibt, die unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen angehören und zusammen ein komplexes Gebilde formen.

Mills erkannte: Diese Akteure, die aufgrund ihres Status und ihrer Vernetzung eine Machtelite bilden, sind in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die sich mindestens auf nationaler Ebene bewegen. Anders gesagt: Der Soziologe hat herausgearbeitet, dass es in der amerikanischen Gesellschaft Akteure gibt, die sich quasi von den „normalen“ Reichen und Mächtigen noch weiter abgesetzt haben und über eine enorme Struktursetzungsmacht verfügen.

Hans Jürgen Krysmanski: Machtstrukturen

Da die Machtstrukturforschung insbesondere innerhalb der Soziologie in Deutschland eher am Rande vegetiert, haben wir uns entschlossen, dieses Buch herauszugeben: Eine kritische Machtstrukturforschung ist für eine Demokratie sehr wichtig, da sie in der Lage ist, Bruchstellen im demokratischen Gefüge aufzuzeigen und die Ursachen für diese zu benennen. Wenn Sie so wollen, ist der Antrieb für das Buch also ein sehr demokratischer.

-Was verstehen Sie denn unter „Eliten“ und warum ist ein Blick auf diese und ihre Macht wichtig in einer parlamentarischen Demokratie?

In der Elitenforschung gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen, mit denen sich das Phänomen von Eliten erfassen lässt. Ohne darauf jetzt näher einzugehen: Das Elitesein dreht sich vor allem um die Pole Einfluss und Position. Wer in den zentralen gesellschaftlichen Teilbereichen wie zum Beispiel Politik, Wirtschaft, Militär usw. eine besonders hervorgehobene Position hat, also „weit oben“ steht, gehört in gewisser Weise zur Elite oder, wenn Sie so wollen, zur „Spitze“ eines Landes. Und, je nach Positionierung, damit geht auch die Möglichkeit einher, Einfluss auszuüben – und zwar Einfluss, der größer und weitreichender ist, als es denjenigen Menschen möglich ist, die weiter unten stehen.

Um auf den Punkt zu kommen: Wenn jemand Einfluss ausübt, ist es wichtig, genau hinzuschauen und zu fragen: Welchen Einfluss übt er oder sie aus? Wie sieht dieser aus? Was sind seine oder ihre Motivationslagen? Warum lässt diese Person ihren Einfluss in die eine, aber nicht in die andere Richtung wirken, um es einfach auszudrücken? Und mit diesen Gedanken kommen wir dann auch zu der Frage, warum eine demokratische Gesellschaft den analytischen Blick auf ihre Eliten nicht scheuen sollte. Wer nämlich verstehen will, warum Politik so ausfällt, wie sie dies tut, muss sich auch mit denen auseinandersetzen, die direkt oder indirekt im Land die Weichen stellen, die mächtiger als andere sind.

Stellen Sie sich nur einmal vor, was wäre, wenn plötzlich über Nacht in den Parlamenten und an den anderen Schaltstellen der Macht nur die Armen und Ärmsten sitzen würden. Hätten wir dann nicht schlagartig eine andere – ich will erstmal gar nicht sagen: eine „bessere“, aber eben doch eine andere – Politik? Von daher: Wer oben steht, wer in der Lage ist, weitreichende Entscheidungen zu treffen, die die Bürger betreffen, das ist von zentraler Bedeutung für ein Land und seine Gesellschaft.

-Wie kommt es denn, dass die in den Parlamenten sitzenden Politiker kaum je die Interesse der Armen vertreten, obwohl es sich um einen bedeutenden Bevölkerungsanteil handelt?

Dafür gibt es viele Ursachen. Grundlegend scheint mir: Der Umgang mit den Armen in unserem Land ist oftmals gekennzeichnet von offener oder heimlicher Verachtung und Ausgrenzung; und das zieht sich von da eben auch bis in die Parlamente. Ich möchte gar nicht wissen, wie weit die klassistischen Ressentiments gegenüber den Prekären in unserer Gesellschaft bei so manchem Abgeordneten gehen.

Der im Parlament vorhandene Blick auf die Armen und das Phänomen der Armut lässt es insofern erst gar nicht zu, dass politische Mehrheiten entstehen, die tatsächlich zu Entscheidungen führen, die den unteren Schichten, den Schwachen, den Armen, zugutekommen: Grundlegende Strukturveränderungen, die auch einmal den Armen richtig in die Karten spielen würden, lassen sich mit einem Parlament, dessen Mitglieder in ihren Entscheidungen oft genug ein Verhalten erkennen lassen, das von alles anderem als Sympathie für die Armen geprägt ist, einfach nicht durchsetzen.

Eine Politik, die den Armen in unserem Land richtig hilft, ist einfach „nicht sexy“. Mit solch einer Politik würden viele Parlamentarier auf Ablehnung bei genau den Schichten und Klassen in der Gesellschaft stoßen, die ihnen ihre Stimme geben und von denen natürlich auch die größten Spenden und maßgeblichste politische Unterstützung zu erwarten sind. Das ist bitter, aber so ist es. Der Kreis zwischen Teilen der Bevölkerung, die den Armen am liebsten noch weniger zukommen lassen möchte, und einer Politik, die Veränderungen herbeiführen könnte, es aber nicht will, schließt sich.

-Ist das womöglich einer der Gründe für die vielzitierte „Politikverdrossenheit“: dass die „normalen Menschen“ längst bemerkt haben, dass es „denen da oben“ ohnehin nicht um sie geht? Will sagen: dass es im neoliberalen Parteienkarussell fast schon egal ist, wen man wählt; die große Politik unterstützt ja doch stets die Reichen und Mächtigen auf Kosten der anderen 99 Prozent?

Über die sogenannte Politikverdrossenheit wurde ja schon viel diskutiert. Wir erwähnen den Begriff in unserem Buch auch, aber ich muss sagen, dass ich ihn nicht sonderlich mag, weil er ein gesellschaftliches Phänomen zwar erkennt, es aber falsch benennt.

Wenn wir von einer „Verdrossenheit“ reden, dann heißt das, dass Menschen, Bürger und letztlich Wähler einen Mangel an Interesse an der Politik haben. Aber das sehe ich nicht so. Zu beobachten ist vielmehr, dass es sehr wohl ein Interesse an der Politik gibt, aber viele Menschen erkennen, dass zentrale politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden und Politik nicht für, sondern gegen sie gemacht wird.

Mein Eindruck: Ein nicht geringer Teil der Bürger beobachtet die Politik sehr genau, diskutiert über sie, macht sich auch seine Gedanken. Aber gleichzeitig weigern diese Menschen sich, sich in den vorgegebenen politischen Strukturen einzubringen, weil sie realistisch abschätzen können: Ihre Stimme ist dort im Hinblick auf ihre politischen Interessen, ihre Wünsche und Hoffnungen nahezu bedeutungslos.

Reden Sie nur einmal in Ruhe mit den Armen und Ärmsten in unserem Land. Man läge sehr falsch, wenn man diesen Menschen zuschreiben würde, dass sie sich nicht für Politik interessieren. Sie wissen nur genau: Wen auch immer sie wählen, auf absehbare Zeit wird es nicht zu einer Politik kommen, die sich ihrer annimmt.

 

Wodurch ist die Macht der Eliten über uns alle und über die gesellschaftlich vorherrschende Ideologie denn so immens groß?

Eine einfache Antwort lautet: Die Strukturen in unserer Gesellschaft sind von vorneherein so ausgelegt, dass sie diejenigen, die „oben“ stehen, begünstigen und diejenigen, die unten stehen, benachteiligen. Das zeigt sich im Kleinen wie im Großen, allerorts.

Der Handlungsradius einer alleinerziehenden Mutter, die von Sozialhilfe lebt, ist beispielsweise um ein Vielfaches geringer, als jener einer Familie aus der Oberschicht. Die einen verfügen über reichlich ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, wie der französische Soziologe Bourdieu das einmal gut analysiert und aufgeschlüsselt hat, die anderen leben von der Hand in den Mund und verfügen weder über Geld noch über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, öffentliche Diskurse zu steuern.

Man muss sich einfach einmal vorstellen, wie umfangreich die verschiedenen Kapitalarten bei den Eliten und Machteliten sind. Dann wird einem schlagartig klar, über welchen Handlungsradius der Präsident der Vereinigten Staaten, der Direktor der NSA, der Chef von Google sowie die Multimillionäre und Multimilliardäre mit ihren großen Konzernen verfügen. Und nun stelle man sich vor, was passiert, wenn auch nur einige von ihnen ihre Kräfte bündeln und ein Projekt, von dem sie überzeugt sind, gemeinsam anstoßen.

Hinter solch einem „Anstoß“ steht eine geballte Wucht – an wie gesagt: Kontakten, Geld, Einfluss, der Fähigkeit, das öffentliche Bewusstsein zu beeinflussen und Diskurse zu steuern, Themen zu setzen etc. -, dass er unglaublich viel in Bewegung zu setzen und verändern vermag. Und, ja: Auch viel mehr Wucht als es der Fall wäre, wenn selbst eine große Anzahl von Armen und denen, die für diese ihre Stimmen erheben, etwas in Bewegung setzen wollten.

Alles in allem ist die Macht der Eliten, die sich in unserer Gesellschaft, in unserem System immer wieder bemerkbar macht, so allumfassend, dass sich den Strukturen und den Ideologien, die sie hervorbringt, nichts wirklich entziehen kann. Stellen Sie sich einfach ein Fußballspiel vor zwischen den Spielern eines Spitzenfußballclubs und elf durchschnittlichen Menschen, also Männer, Frauen, Kinder, die allesamt vielleicht bestenfalls einmal an einen Ball getreten haben. Wer wird dieses Spiel dominieren? Wer wird die entscheidenden Akzente setzen? Wer wird als Gewinner vom Platz gehen? Wobei das noch ein sehr freundliches Bild ist…

 

Da haben Sie recht. Mir käme im Sinne Warren Buffets, der von einem „Krieg“ der Reichen gegen die Armen spricht, auch eher eine bellizistische Metapher in den Sinn. Etwa ein Kampf um sehr wohl auch Leben oder Tod, in dem die einen über Massenvernichtungswaffen, Panzer und Drohnen verfügen und die anderen über Stöcke und Steine… Aber gut; das ist sicher schon sehr schwarzmalerisch. – Können Sie denn sagen, wie es diese „Eliten“, diese Wenigen immer wieder schaffen, ihre Partikular- und Profitinteressen als „Gemeinwohl“ auszugeben, unabhängig davon, wie viele Menschen hierdurch Schaden erleiden? Vielleicht haben Sie ja ein oder zwei konkrete Beispiele für derlei „Machtdurchsetzungen“ parat…

Nehmen wir doch einfach die sozialpolitischen „Veränderungen“, welche die SPD und die Grünen unter der Führung von Gerhard Schröder durchgezogen haben. Das, was da vonseiten der Eliten als „Reformen“ bezeichnet wurde, diese brutalen Einschnitte in den Sozialstaat und den Arbeitsmarkt, zeitigt seine verheerenden Wirkungen ja bis heute; sie haben das gesellschaftliche Gefüge nachhaltig und schwer in Mitleidenschaft gezogen.

-Etwas, worauf Albrecht Müller in „Die Reformlüge“ ja bereits frühzeitig hingewiesen hat…

So ist es. An der Art und Weise, wie der Begriff „Reformen“ in den vergangenen Jahren in der Politik verwendet wurde, ist deutlich zu erkennen, dass die Macht der Elite bis tief in die Sprache hinein vordringen kann.

Wer von den „normalen“ Bürgern verfügt über die Möglichkeit, einen so gewichtigen und positiv besetzten Begriff wie den der Reformen aufzugreifen und darunter eine Politik zu verkaufen, die das genaue Gegenteil von dem ist, was der Begriff eigentlich inhaltlich transportiert? Herrschaft bedient sich der Sprache. Das war schon immer so.

In George Orwells „1984“ wird deutlich, dass Herrschaft so weit in die Sprache eindringen kann, dass sie, sozusagen, aus Krieg Frieden werden lässt. Das ist ein extremes Beispiel, aber außerhalb der Orwellschen Dystopie bestimmen die Mächtigen durch Sprache, durch die Kraft der Benennung, über die sie aufgrund ihrer Position und ihres Einflusses verfügen, wie „die Dinge“ zu sehen sind. Es gab eine Zeit, da bedeutete „Reformen“ Demokratisierung, Versuche, die Lebensbedingungen der Menschen im Land zu verbessern, aus etwas, das alt und schlecht war, etwas Neues, tatsächlich für viele Menschen Besseres zu machen.

Und das ist auch das, was die Menschen normalerweise unter Reformen verstehen. Auf diese positiven Erwartungen, die in den Köpfen und Herzen der Bürger waren, haben die Eliten gesetzt. Die neoliberalen Strategen wussten, wie wichtig der Reformbegriff war, um eine Politik mit weitreichenden negativen Folgen durchziehen zu können, die sich bis in die Fundamente unseres Staates fressen würde.

Wenn man die politische Situation heute im Land sieht, wenn man sieht, wie die große Volkspartei SPD in Umfragen Mühe hat, die 20 Prozent zu halten, wenn man sieht, wie sich plötzlich „Außenseiterparteien“ formieren und es quasi aus dem Stand in die Parlamente schaffen, dann hat das auch sehr viel mit einer völlig fehlgeleiteten Politik der Eliten zu tun, die seit vielen Jahren ihre Wirkung entfaltet.

-In der Psychologie gibt diesbezüglich ja beispielsweise das Konzept der sogenannten „Täter-Opfer-Umkehr“, das heißt, die Opfer werden zu Tätern und die Täter zu Opfern erklärt, es wird mit Schuldgefühlen hantiert, und Tatsachen in ihr Gegenteil verkehrt…

Das erleben wir doch auf der gesellschaftspolitischen Ebene genauso. Die, die erkennen, was die verfehlte Sozial- und Arbeitsmarktpolitik anrichtet und nicht mit in den Chor der „Reformer“ einstimmen, werden als „Reformverweigerer“ oder als „Blockierer“ bezeichnet. Der herrschende Diskurs versucht so, die kritischen Stimmen auszuschließen und ins Abseits zu stellen.

-Aber geschieht nicht Ähnliches auch durch die Hartz IV-Ideologie und viele weitere Mythen, Legenden und Verdrehungen im öffentlichen Diskurs? Nimmt man nicht beispielsweise diejenigen, die nicht mehr gebraucht werden, nicht mehr verwertbar, weil etwa krank oder anderes sind, und verunglimpft sie als „Sozialschmarotzer“, „faul“, „Simulanten“, „Leistungsverweigerer“ und vieles mehr, um sie hierdurch als amoralische Täter an der Gesellschaft abstempeln zu können, was schließlich Sanktionen gegen sie legitimiert? Hier erfolgt doch auch jene „Benennung“, die sie erwähnt haben, oder?

Ja natürlich. Die, die nichts haben, die arm sind, die unten stehen, die nicht so funktionieren können, wie so manches „neoliberale Subjekt“, das oben steht, es erwartet, werden auch durch Sprache abgewertet und stigmatisiert.

Den meisten der politischen Gestalter fehlt doch völlig der Blick von unten. Sie haben keine Ahnung von den Kämpfen, die die Armen Tag für Tag bestreiten müssen. Sie begreifen nicht und wollen auch nicht begreifen, dass das als „unmöglich“ klassifizierte Verhalten von so manchem Armen oft auf Lebensschicksale und Lebenssituationen zurückzuführen ist, die niemand derjenigen, die sich den Armen gegenüber als Richter aufspielen, selbst je erleben wöllte.

Die neoliberale Politik jedenfalls, die ihre Entscheidungen nicht am Wohl der Menschen, sondern am Wohl des Kapitals ausrichtet, konnte überhaupt nur deshalb so erfolgreich sein, weil es tonangebenden Eliten aus unterschiedlichen Bereichen gelang, weite Teile der Gesellschaft mittels solcher „Denkgifte“, die uns unsere Mitbürger zu Feinden erklären, von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen.

Und diese Überzeugungsarbeit war deshalb möglich, weil diese Eliten auf eine ausgefeilte Infrastruktur zurückgreifen konnten: Think Tanks, Lobbyorganisationen, Stiftungen, private Medien, Netzwerke etc. pp., durch die die Elite öffentlichkeitswirksam ihre Vorstellungen und Vorhaben kommunizieren konnte.

Der Soziologe und Mitherausgeber Ihres Buches, Michael Walter, hat dazu ja eine geistreiche Analyse verfasst.

Ja, er hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie die neoliberalen Ideen unter Schröder in der deutschen Öffentlichkeit etabliert wurde. Über beispielsweise den Think Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, den Bürgerkonvent und den „Partner für Innovation“ liefen dabei massive „publizistische Interventionen“.

Walter stellt fest, dass die Eliten sehr geschickt ihre eigenen, ideologisch geprägten Vorstellungen universalisiert und versucht haben, diese der Bevölkerung quasi überzustülpen.

Über eine Mischung aus Politmarketing, Werbung, PR, wissenschaftlichen Analysen und Publikationen in den Medien, wurde vordergründig versucht, ein „positives Klima“ in der Bevölkerung zu schaffen, in dem man sich scheinbar unverfänglichen, aber in Wirklichkeit politisch hochgradig aufgeladenen Begriffen wie etwa dem der Eigenverantwortung bediente, um der Bevölkerung hinterrücks den neoliberalen Kraftschlag schmackhaft zu machen. So wurde ein Bild in die Köpfe der Menschen gepflanzt, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied sei und alles schaffen könne – so er sich nur wirklich aufopferungsvoll bemüht.

Die Botschaft ist doch aber im Prinzip nicht falsch.

Nein, natürlich nicht. Das ist, im Prinzip, eine positive Botschaft. Und sie ist tatsächlich nicht per se falsch, nein. Sie ist aber auch nicht richtig. Man könnte daher sagen: Wir haben es mit einer klug verkauften Halbwahrheit zu tun. Und Halbwahrheiten sind bekanntlich gefährlich.

Nichts spricht dagegen, den Menschen positive Botschaften zu übersenden, um ihnen dabei zu helfen, die ein oder andere Limitierung, die im eigenen Denken verwurzelt sein mag, selbst aufzuheben. Aber wenn man den Menschen zugleich verschweigt, dass viele der Begrenzungen, die sie in ihrem Leben erfahren, eben mit genau jener Politik zu tun haben, die ihnen mit lauwarmen Worten versucht, weiß zu machen, ihr Scheitern und ihre Misserfolge gingen alleine auf ihr eigenes Konto zurück, dann haben wir es mit einem bösartigen politischen Doppelspiel zu tun.

Dem Bürger sagt man: Es ist Dein Leben, mach etwas daraus! Gleichzeitig verändert man aber die Rahmenbedingungen, innerhalb derer er etwas machen kann, soweit, dass dies seine eh bereits sehr begrenzten Möglichkeiten noch weiter beschränkt.

Und Teile unserer kulturellen Elite – also Schauspieler, Sportler und andere Berühmtheiten – sind dann dieser Politik auch noch zur Seite gesprungen und haben als sogenannte Testimonials in entsprechenden neoliberalen Werbespots fungiert – wobei ich mich frage, ob diese Prominenten überhaupt verstanden haben, welcher Politik sie da Vorschub leisten.

Man muss sich nur nochmal den „Wohlfühlspot“ der Du-bist-Deutschland-Kampagne ansehen: Oliver Pocher steht da hinter einem Haus auf dem Grundstück, vor ihm steht ein etwas beleibter Mann und neben den beiden ein Grill. Pocher sagt dann zu dem Mann, der offensichtlich das männliche Familienoberhaupt darstellt:

„Unrealistisch, sagst Du? Und warum feuerst Du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn Deine Stimme so unwichtig ist?“

Walter hat analysiert und herausgearbeitet, dass Pocher hier zu einem „zu aktivierenden Subjekt“ spricht, „dessen pessimistische Grundhaltung (durch den „Aktivator“ Pocher) zu ‚reformieren‘“ sei. Pocher, so interpretiert Walter weiter, übernimmt dabei die Figur des Lehrers, der „durch Blick und Gestik einen belehrenden, fordernden“ Part einnimmt und durch die Grillzange, die er in der Hand hält, auch noch „latent aggressiv“ auftritt. Walter kommt zu dem Schluss, dass die Szene dazu dient, den Rezipienten, also „uns“, regelrecht zu erziehen, zu manipulieren also. Hinter all dem verbirgt sich die neoliberale Botschaft: „Der Sozialstaat wird sich zurückziehen. Bürger, schaut, wo ihr bleibt!“ Und das wird auch noch als “zum Wohl des Landes“ inszeniert.

Und wer sind diese Leute, diese Eliten, die derlei „Gehirnwäsche“ verbreiten, denn nun genau?

Wenn Sie Namen von Personen möchten, die man zu den Machteliten zählen darf, dann schauen Sie sich einfach einmal die Teilnehmerliste der Bilderberg-Gruppe an. Da kommen einige Angehörige der Machtelite zusammen.

Und was genau geschieht auf so einer „Bilderberg-Konferenz“?

Die Bilderberg-Konferenzen, aber auch andere, ähnliche gelagerte Elite-Treffen und Veranstaltungen, verweisen auf einen vorgelagerten politischen Formationsprozess der Mächtigen.

Das heißt konkret?

Ich will es mal so formulieren: Einflussreiche Personen bewegen sich in Strukturen, die neben den klassischen, bekannten und für jedermann einsehbaren demokratischen Strukturen bestehen. Diese Strukturen sind politische Strukturen. Sie existieren, um direkt oder indirekt Einfluss auf die Politik zu nehmen. Das große Problem ist: Sie sind völlig intransparent, sie funktionieren wie eine geschlossene Gesellschaft.

Um es zuzuspitzen: Der politisch klug denkende Mechaniker von der kleinen Werkstatt an der Ecke, der vielleicht auch ein paar Gedanken im Hinblick auf die Gestaltung der Welt an jenen Orten vorzubringen hätte, wo Konsense geschmiedet und Weichen gestellt werden, bleibt der Zugang verwehrt. Die Elite bzw. die Machtelite möchte eben unter sich bleiben. Warum das so ist, kann man sich denken: Meinungen, Ansichten und Interessen, die zu weit weg von denen der Weltenlenker sind, würden wie ein Bremsklotz bei der machtelitären Konsensfindung wirken.

Aber noch etwas Anderes sollte erwähnt werden: Wenn hier davon die Rede ist, dass es „Konsensschmieden der Mächtigen“ gibt, soll das nicht heißen, dass die existierenden demokratischen Strukturen keinerlei Bedeutung mehr hätten oder dass quasi eine Art Geheime Weltregierung die Geschicke der Welt aus dem Verborgenen lenkt. Diesen Eindruck könnte man bei einer oberflächlichen Betrachtung der Verhältnisse vielleicht erhalten, tatsächlich ist alles aber viel komplexer.

Auch dürfen wir uns, wenn wir von „der“ Machtelite reden, nicht der Vorstellung hingeben, dass auf der Welt eine homogene Machtelite existiere, deren Mitglieder alle genau gleich denken und alle genau die gleichen Ziele verfolgen würden: Auch wenn diejenigen, die beispielsweise bei einer Bilderberg-Konferenz zusammenkommen, sich sicherlich im Hinblick auf ihre Sozialisation, auf ihre Kapitalstruktur, auf ihre Stellung in der Gesellschaft bzw. ihre Klassenzugehörigkeit und natürlich ihre Akkumulations- respektive Profitinteressen sehr ähnlich sind, so gibt es dennoch durchaus auch Meinungsunterschiede unter ihnen, die sich allerdings in einem sehr viel engeren Korridor als das Meinungsbild in der Gesamtbevölkerung bewegen.

Kein Wunder auch, denken „normale Menschen“ ja nicht in den Sach- und Strukturzwängen von Kapitalverwertung und -akkumulation, wollen nicht „noch reicher“ werden, diesen und jenen Multi im nächsten Jahr übernehmen oder anderes, sondern wollen einfach ein vernünftiges und auskömmliches Leben haben, über die Runden kommen, so gut es eben geht.

Werden solche undemokratischen „Klüngelrunden“ von Medien und Öffentlichkeit denn beobachtet und kritisiert? Ich meine: Das täte offensichtlich ja dringend not…

Die Medien haben meines Erachtens diesbezüglich eine ganz schlechte Arbeit geleistet: Ein Journalismus, der Mediennutzer über die mehr oder weniger verborgenen Pfade der Mächtigen informiert, ein Journalismus, der in diese Gruppen und Organisationen reinleuchtet, sie beleuchtet, ihre Arbeit, ihr Wirken, ihren Handlungsradius und ihren Einfluss kritisch hinterfragt, existiert in der Breite der Berichterstattung nicht.

Gerade auch im Hinblick auf den demokratischen Prozess ist es ein großes Problem, dass die Presse den politischen Formierungsprozess der Machtelite geradezu ausblendet. Damit versagt sie darin, aufzuzeigen, wie Weltsichten, die vorherrschen oder eben dabei sind, sich zu etablieren, zustande kommen.

Die Berichterstattung erweckt stattdessen immer wieder den Eindruck, dass die jeweils gerade alles umgreifende Ideologie quasi gottgegeben und vom Himmel gefallen sei. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der sich etwa intensiv mit dem Neoliberalismus und der Globalisierung auseinandergesetzt hat, sagte einmal:

„Der Thatcherismus stammt nicht etwa von Frau Thatcher, er war seit langer Zeit von Intellektuellengruppen vorbereitet worden, denen die großen Zeitungen oft eine breite Öffentlichkeit verschafft haben.“

Bourdieu betonte auch, wie wichtig es ist, aufzuzeigen, wie „Weltsichten erzeugt, verbreitet und eingetrichtert werden.“ Und er betonte, wie wichtig es ist, auf die „Einflüsterungen“, die aus den Think Tanks und „ihrer, von den Mächtigen handverlesenen Experten“ kommen, zu achten.

Doch genau das haben Medien nicht gemacht und unterlassen es nach wie vor. Im Gegenteil: Nicht nur, dass sie diesen machtelitären Part unserer politischen Wirklichkeit den Lesern und Zuschauern nicht vor Augen führen, einige sind sogar selbst Teil des machtelitären Umfelds und werden zum handelnden Akteur darin.

Wenn Journalisten, um nur mal ein Beispiel zu nennen, etwa über lange Zeit im Lenkungsausschuss der Bilderberg-Gruppe gesessen haben und selbst deutsche Politiker in den exklusiven Zirkel eingeladen haben, zugleich aber nicht über diese Zusammenkunft berichten, dann ist das aus journalistischer Sicht untragbar.

Immerhin scheinen die Medien mittlerweile aber erkannt zu haben, dass die Bilderberg-Konferenzen ein Thema sind, das sie auf ihrem Radar haben sollten. Über die diesjährige Bilderberg-Konferenz, die in Dresden stattfinden wird, berichten die daher schon jetzt, also frühzeitig. 60 Jahre hat es gedauert, aber immerhin. Besser spät als nie. Aber ob auch die großen Nachrichtenformate bei ARD und ZDF über die Konferenz berichten werden? Ich zweifle daran.

Warum? Was sollte sie daran hindern?

Ich gehe davon aus, dass die Einstellung der Redaktionsverantwortlichen zu dem Thema bisher dazu geführt hat, nicht über die Konferenzen zu berichten. Wahrscheinlich wird die Bilderberg-Konferenz einfach als etwas ohne Berichterstattungswert betrachtet. Schließlich wird in Dresden ja auch nur die Weltelite zusammenkommen, um für drei Tage hinter verschlossenen Türen über zentrale Themen zu sprechen, die uns alle angehen. Aufgabe der verantwortlichen Redakteure ist es eben, Ereignisse und Informationen zu gewichten und dann zu entscheiden, ob eine nachrichtliche Relevanz gegeben ist.

Wenn ich, allgemein gesprochen, an die ein oder andere Berichterstattung im Zusammenhang mit Unglücksfällen, Katastrophen oder zu Themen, die im Bereich des Boulevards liegen, denke, da war keine Anstrengung zu absurd, um einen Mangel an Informationen irgendwie auszufüllen. Beim Germanwings-Absturz lässt man Teenager vor der Kamera erzählen, wie sie sich so fühlen, als sie erfahren haben, dass Mitschüler gerade mit dem Flugzeug an einer Felswand zerschellt sind, beim Kachelmann-Prozess hat ein dpa-Journalist sogar versucht, Richter abzuhören.

So ist das eben oft: Dort, wo es um Emotionen, um Klatsch und Tratsch geht, wird jeder Stein dreimal umgedreht, um ja nicht ein Zipfelchen an Informationen zu übersehen; wenn aber 140 Gestalter der Welt sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit treffen, dann respektieren Qualitätsmedien eben den „privaten Charakter“ der Veranstaltung.

Es gibt ja Journalisten, die sich mit derlei Elitenetzwerken gerne gut stellen wollen und wo das möglich ist, schließlich sogar assoziieren. Der Medienkritiker Uwe Krüger spricht diesbezüglich von Alpha-Journalisten bzw. Alpha-Journalismus und sieht hierin eine große Gefahr… Der Korridor der veröffentlichten Meinung werde auch wegen diesen aktuell immer geringer und sei zurzeit bereits so eng wie selten zuvor, sagte er etwa im Interview mit mir.

Bourdieu hat einmal gesagt, dass es in der Politik um die Durchsetzung von Wahrnehmungskategorien geht. Und wie werden solche für die Politik wichtige Wahrnehmungskategorien in unsere Gesellschaft getragen? Natürlich auch durch die Medien.

Wenn Machteliten also der Ansicht sind, dass „wir“ weniger Sozialstaat brauchen, dass Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung die Zauberworte sind, die „die Gesellschaft“ voranbringen, dann müssen diese Vorstellungen und Konzepte auch nach außen transportiert werden, sie müssen irgendwie bei der Bevölkerung und bei anderen systemrelevanten Eliten ankommen.

Hierbei kommt dann die Berichterstattung ins Spiel. Von daher: Es hat schon seinen Grund, dass nicht nur Journalisten die Nähe zu den Mächtigen, sondern auch die Mächtigen eine gewisse Nähe zu Journalisten suchen. Die Folgen hiervon hat unter anderem Uwe Krüger sehr pointiert analysiert.

-Was können wir tun gegen manipulierte Journalisten und Elitenmacht?

Ich würde nicht sagen, dass wir es mit „manipulierten Journalisten“ zu tun haben. Oder anders gesagt: Gewiss mag es, wie eben in allen menschlichen Beziehungen, so sein, dass sich auch einmal Journalisten bei ihren Beziehungen zu hochrangigen Personen manipulieren oder instrumentalisieren lassen.

Aber allgemein gesprochen gehe ich nicht davon aus, dass Journalisten, die sich in diesen Kreisen bewegen, „manipuliert“ sind.

Sondern? Was sind sie denn dann?

Uwe Krüger hat in seiner Studie angesprochen, dass bestimmte Journalisten wahrscheinlich eben deshalb in diesen Netzwerken der Mächtigen sind, weil sie den dort vorherrschenden Sichtweisen im Wesentlichen sowieso zustimmen. Da gilt also eher ein „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Und als Soziologe würde ich die darüberhinausgehenden Prozesse eher als „Anpassung“ denn als „Manipulation“ beschreiben. Die Leute werden ja nicht belogen und betrogen, sondern umworben, umgarnt, belohnt oder -straft.

Aber nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen: Dass Spitzenjournalisten in diesen Netzwerken unterwegs sind und auch selbst eine politische Meinung haben, die jener der Eliten ähnelt, ist nicht unbedingt das große Problem.

Nicht? Was ist denn dann des sprichwörtlichen Pudels Kern?

Problematisch wird meines Erachtens die Nähe zur Elite für den Journalismus und die Gesellschaft dann, wenn sich das Meinungsspektrum in den großen, tonangebenden Medien bei bestimmten gewichtigen Themen so stark verengt, dass, um es zuzuspitzen, nur noch die Sicht der Mächtigen überhaupt Eingang in die Berichterstattung findet.

Was ja bezüglich Russland zurzeit oder auch der vermeintlichen Eigenverantwortung der Armen für ihr Elend bereits seit einigen Jahren deutlich der Fall zu sein scheint…

Genau. Die großen Medien bilden zu den zentralen gesellschaftlichen und politischen Themen unserer Zeit längst das Meinungsgewicht nicht mehr so ab, wie dieses in der Bevölkerung vorhanden ist. Stattdessen ist ein Journalismus zu beobachten, der immer wieder die Sichtweisen der Herrschenden, der Mächtigen transportiert und dadurch die Realität verzerrt und, wenn Sie so wollen, ebenso „erzieherisch“ fungiert, wie dies der „Du bist Deutschland!“-Spot, den ich bereits erwähnt habe, tat.

Der Knackpunkt ist: Journalisten, die in Elitezirkel eingebunden sind, sind nicht irgendwelche Medienschaffenden aus der vierten oder fünften Reihe. Es sind in der Regel eben die Alphajournalisten, also jene, die die großen Leitartikel schreiben. Sie haben eine herausragende Stellung innerhalb des journalistischen Feldes. Das, was sie sagen, schreiben, kommentieren, wie sie sich entscheiden, was sie tun oder lassen, hat eine ganz andere Wirkung als das, was ein Journalist schreibt, der für ein Nischenmedium tätig ist.

Wenn nun eine Vielzahl derjenigen, die die Alphajournalisten umgeben bzw. direkt hinter ihnen stehen, im Wesentlichen ebenfalls die Sichtweise der Tonangebenden teilt, dann verengt sich die Perspektive. Impulse, um es bildlich zu formulieren, von vorne, von hinten, von unten, von der Seite gibt es keine mehr, weil sich keiner mehr umdreht, nach unten, nach hinten etc. schaut, da alle davon ausgehen, ohnehin bereits die richtige Perspektive eingenommen zu haben. So entsteht ein elitärer Einheitsjournalismus, der für viele Mediennutzer nicht mehr hinnehmbar ist.

Und was wäre hiergegen zu tun? Was raten Sie?

Wichtig ist, die Problematik zu erkennen und transparent zu machen. Das, was wir derzeit sehen, nämlich die Formierung vieler alternativer Formate im Internet, also ein Journalismus, der außerhalb der großen Medien heranwächst, ist dabei von zentraler Bedeutung, um Schieflagen in der Berichterstattung entgegenzutreten. Die Meinungsgegengewichte sind dann eben nicht in den sogenannten Leitmedien zu finden, sondern bei dem kleinen Internetmagazin, der alternativen Nachrichtenseite, auf diesem und jenen Blog usw. Oder eben – auch – auf den NachDenkSeiten, ja.

Allerdings: Optimal ist auch das nicht. Die großen Medien sind aufgrund ihrer Ressourcen und ihrer Reichweite kaum zu ersetzen; der Widerspruch der Alternativen ist daher stets in Gefahr, ohnmächtig zu verhallen. Zu einer wirklichen Veränderung wird es daher nur kommen, wenn die Zusammensetzung des journalistischen Feldes als solchem wieder heterogener wird.

Anders gesagt: Die großen Medien würden den Mediennutzern und so eben auch sich selbst einen großen Gefallen tun, wenn sie dafür sorgten, dass sich das journalistische Feld in seiner Zusammensetzung öffnet. Alle Klassen und Schichten müssen vertreten sein, in der Redaktionskonferenz sollten neben dem Hochschulabsolventen, der mehrere Semester im Ausland verbracht und aus dem hochkulturellen Milieu stammt, genauso der talentierte Blogger sitzen können, der vielleicht einen ganz anderen Lebensweg aufweist, aber auch das Zeug zum Journalisten hat und nochmal einen ganz eigenen Blick auf die Verhältnisse wirft.

Doch genau danach sieht die Entwicklung gerade nicht aus. In den großen Häusern wird vielmehr aktuell genau jener Nachwuchs rekrutiert, von dem erwartet wird, dass er in etwa so auf die Welt schaut, wie es diejenigen tun, die ohnehin bereits in den Redaktionen sitzen.

Ich erinnere an der Stelle an ein Interview, das der Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, im Jahr 2014 dem Medienmagazin ZAPP gegeben hat. Darin sagt er in Sachen journalistischem Nachwuchs sehr bemerkenswerte Sätze, die es verdienen, hervorgehoben zu werden:

„Aber im Gegenteil, es ist ja sogar großartig: Wir haben es mit einer Generation zu tun, die jetzt in den Journalismus kommt, die so international ist wie keine zuvor. Jeder Volontär bei uns hat zwei, drei Jahre Auslandserfahrung in den noch so exotischsten Ländern hinter sich, spricht Sprachen, das ist wirklich toll und bemerkenswert. Es gibt die komplette Erasmus-Generation, die rumläuft, die ist offen und versteht, wie die Welt tickt. Also eigentlich müsste es ein leichtes Spiel sein, aber das darf man sich nicht durch die Verrückten verderben lassen.“

Hier ist nicht der Platz, um die soziologisch-medienwissenschaftliche Dimension dieser Äußerungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, aber auch ohne viel zu analysieren, ist zu erkennen, dass der verengte Blick, der den großen Medien immer wieder von Mediennutzern vorgeworfen wird, bereits in der DNA eben jener Medien angelegt ist. Wie sollen die großen Medien die Vielfalt der Betrachtungsweisen, wie sie in der Gesellschaft vorhanden sind, erfassen und in ihrer Berichterstattung widerspiegeln, wenn die personelle Zusammensetzung dieser Medien das genaue Gegenteil von gesellschaftlicher Vielfalt ist?

b1954rev

1.Bilderberger-Konferenz 1954

-Eine letzte Frage noch… Diese „Macht der Wenigen über die Vielen“ ist ja so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was man gemeinhin unter Demokratie versteht. Würden Sie denn so weit gehen, Rainer Mausfeld zuzustimmen, der argumentiert, der Neoliberalismus sei die Ideologie der Eliten zur finalen Überwindung der Demokratie? Oder vielleicht David Harvey, dessen wunderbare „Kleine Geschichte des Neoliberalismus“ folgender Klappentext ziert: „Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse‘ des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt. Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn ‚nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war‘? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten“…

Lassen Sie es mich einmal so sagen: Wenn man sich die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte anschaut, wenn man sieht, welche Entscheidungen wie getroffen werden, dann muss man schon mit Blindheit geschlagen sein, um hier nicht eine Systematik zu erkennen.

Wir erleben eine Politik der Eliten, eine Schwächung der Demokratie und eine Schere zwischen Arm und Reich, die viel zu weit auseinandergegangen ist. Die Ursachen für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältig. Aber dass die Mächtigen mitunter so ihre Probleme mit der Demokratie haben und ein sehr vitales Interesse daran besteht, ihre eigene Macht auszubauen, ist doch offensichtlich.

-Ich bedanke mich für das Gespräch.

Marcus Klöckner studiert Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Er wirft als Journalist und Autor in seiner Arbeit einen kritischen Blick auf Medien und Herrschaftsstrukturen. Bisher erschienen von ihm unter anderem „Machteliten und Elitenzirkel – Eine soziologische Auseinandersetzung“, „9/11 – Der Kampf um die Wahrheit“, „Staatsversagen auf höchster Ebene – Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss“, „Medienkritik – Zu den Verwerfungen im journalistischen Feld“ und „Wie Eliten Macht organisieren“.

Dieser Text erschien zuerst auf den NachDenkSeiten. Die Publikation hier erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC2.0 Non-Commercial, die Bilderberger-Debatte mit Hintergrundwissen zu versorgen.

Neues von Hartz-IV-Dissidentin Inge Hannemann

Carola Birkner

Hamburg. Sie wollte das tägliche Drangsalieren von Arbeitslosen nicht mitmachen und wurde deshalb selbst suspendiert. Jetzt kämpft sie vor dem Arbeitsgericht gegen ihre ideologisch motivierte Versetzung und hat eine politische Heimat bei der Linkspartei gefunden. Als Abgeordnete im Bezirksparlament kann ihr Engagement der Hansestadt Hamburg nur nützen. Mit ihren H4-Protesten haben die Kritikerin und ihre Mitstreiter schon einiges erreicht, etwa die übertrieben harten Strafen für Jüngere künftig zu entschärfen sowie den Mehrbedarf für Alleinerziehende zu erhalten.

Schuld am sozialpolitischen Desaster haben DIE GRÜNEN und die SPD, deren korrupte Funktionäre sich das H4-Konzept von der Bertelsmann-Stiftung haben aufschwatzen lassen (als Teil der neoliberalen Agenda 21). „Dosenpfand statt Sozialhilfe“ war das Motto der grünen Rechtsabbieger wohl insgeheim. Heute sammeln viele Renter und Arbeitslose Dosen und Flaschen um nicht zu verhungern -mitten im reichen Deutschland. Das rechtspopulistische Merkel-Regime in Berlin wurde dafür schon mehrfach von der UNO wegen Verletzung des Menschenrechts auf ein angemessenes Existenzminimum gerügt. Ein Skandal, der sich durch das Schweigen der Medien täglich wiederholt.

Bertelsmann hat den neoliberalen Sturmangriff auf unseren Sozialstaat zu verantworten: Die Agenda 2010 nebst Hartz IV geht maßgeblich auf Konto der Bertelsmann-Stiftung, eines dubiosen Think Tanks, der Haupteigner des Bertelsmann-Konzerns ist. Bertelsmann ist einer der mächtigsten Konzerne Deutschlands und Europas und ist in den Händen des Milliardärsclan der Familie Mohn. Besonders die Drangsalierung der Arbeitslosen ist ein Hauptziel der Bertelsmann-Medien, etwa in demütigenden Darstellungen auf RTL. So will man Menschen weichklopfen, auch mieseste Jobs zu mieser Bezahlung anzunehmen, weil dies „die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärkt“ –sprich: Lohndumping, um Konzernprofite zu steigern. Auch links-bürgerliche Medien wie die Nachdenkseiten des Alt-SPDlers Albrecht Müller kritisieren dies inzwischen, Soziologie-Professor Butterwegge übersetzt uns dort aktuell die Misere ebenso grundsätzlich wie langatmig ins Soziologenchinesische, allerdings fehlt ihm der Mut oder die Analysetiefe, Bertelsmann als Urheber der H4-Gesetze zu nennen.

Hamburg ist ein Paradebeispiel für die soziale Spaltung, wir haben einen sichtbaren Zuwachs an Obdachlosen, vor allem bei Jugendlichen. Immer mehr Menschen sammeln Flaschen. Und es gibt hier immer noch Jobs, vor allem in der Gastronomie, bei denen Leute für 3,50 Euro die Stunde schuften. Inge Hannemann, jW

Die Medien schweigen Inge Hannemann so gut wie tot. Eine löbliche Ausnahme ist die bundesweit (!) am Kiosk erhältliche Tageszeitung Junge Welt (jW),

Inge Hannemann, Jobcenter-Dissidentin

die in Mainstream-Medien genauso totgeschwiegen oder diffamiert wird wie Inge Hannemann. Noch nie wurde in Pressespiegeln etwa im DLF aus der jungen Welt zitiert (in den 70ern und 80ern wurde beim DLF genauso die taz unterdrückt, jetzt steht die einst linke taz dort zwischen Springer- und Bertelsmann-Postillen). H4-Drangsalierte und Menschen, die sich angesichts sozialen Unrechts nicht desinteressiert abwenden mögen, auch wenn sie (noch) zu denen gehören, den es besser geht, sollten zu dieser Zeitung wechseln. Auch im Westen, wo die Vorurteile gegen ehemalige DDR-Medien besonders tief sitzen und die SPIEGEL-Propaganda gegen angebliche Stasi-Agenten und „Verschwörungstheoretiker“ bei der Jungen Welt mehr verfangen haben mag. Als DDR-Jugendzeitung genoss die jW einen Ruf als relativ unangepasst und hat im Osten viele Leser behalten -sie verdient mehr Zuspruch auch im Westen. Daher hier ein Auszug aus der jW.

Viel zu wenige Bezieher von Hartz IV sind organisiert

Wegen Kritik am System freigestellt: Exarbeitsvermittlerin klagt in zweiter Instanz. Inge Hannemann im Interview mit Susan Bonath (Junge Welt 7.11.2014)

Susan Bonath: Seit April 2013 kämpfen Sie um Ihren Arbeitsplatz als Arbeitsvermittlerin für Jugendliche im Jobcenter Hamburg-Altona. Am 20. November wird Ihr Fall vom Landesarbeitsgericht in zweiter Instanz verhandelt. Was wollen Sie erreichen?

Inge Hannemann: Ich wehre mich noch immer gegen die Suspendierung von meinem langjährigen Arbeitsplatz im Jobcenter. Außerdem gehe ich gegen die inzwischen erfolgte Zuweisung einer neuen Stelle in einer anderen Behörde vor. Kündigen konnte mich die Stadt Hamburg ja nicht einfach. Aber sie hätte mir ein Angebot unterbreiten müssen, das ich auch hätte ablehnen können. Statt dessen hat sie mich versetzt, mit Zustimmung der Vorinstanz. Dazu kommt, dass die neue Beschäftigung von den Anforderungen her höherwertiger ist als meine vorherige, aber nicht besser bezahlt wird.

Susan Bonath: Wie würden Sie handeln, wenn Ihnen die Stadt einen gleichwertigen Arbeitsplatz an anderer Stelle böte?

Inge Hannemann: Ich würde trotzdem weiter klagen. Im Grunde geht es ums Prinzip. Das Jobcenter hatte mich ausschließlich wegen meiner Kritik am System freigestellt. Man wirft mir vor, nicht loyal gegenüber dem Arbeitgeber gewesen zu sein.

Susan Bonath: Wie sehen Sie das?

Inge Hannemann: Ganz anders. Angestellte sind sogar verpflichtet zu »remonstrieren«, also Arbeit abzulehnen, die sie für rechtswidrig halten, und dies auch zu erklären. So habe ich gehandelt, als ich mich weigerte, Erwerbslose unter 25 Jahren zu sanktionieren. Darum habe ich auch Eingliederungsvereinbarungen häufig als Verwaltungsakt erlassen, was übrigens rechtskonform ist. In diesem Fall ist es nämlich kein beidseitiger Vertrag, und die Betroffenen können klagen, wenn sie wegen eines Verstoßes gegen eine darin enthaltene Auflage sanktioniert werden. Ich hielt und halte Kürzungen des Existenzminimums für grundgesetz- und menschenrechtswidrig. Zumal unter 25jährigen schon beim ersten »Vergehen« eine Vollsanktion droht. Das schafft Elend, ist aber keine Hilfe.

Susan Bonath: Wie setzen Sie sich zur Zeit für die Abschaffung von Hartz IV ein?

Inge Hannemann: Ich halte viele Vorträge. Ich merke, dass die Veranstaltungen immer höherwertiger werden und man mir zuhört. Immer häufiger sind Gewerkschafter oder Vertreter von Arbeitgeberverbänden anwesend. Diese muss ich ja auch erreichen, gerade weil sie das System unterstützen und selbst nicht betroffen sind.

Susan Bonath: Welche Erfahrungen haben Sie mit Geschäftsleitungen, Gewerkschaftern und Betroffenen gemacht?

Inge Hannemann: An Arbeitgeber heranzukommen, ist wie das Bohren dicker Bretter. Da höre ich viele klassische Phrasen wie »wir agieren im Sinne des Steuerzahlers« und »Leiharbeit ist nötig«. Beim DGB findet in kleinen Schritten schon ein Umdenken statt, weil klar wird, dass Hartz IV die Löhne drückt. Die organisierten Betroffenen sind sehr aktiv und kennen sich gut aus. Mit unserem Protest haben wir auch schon einiges erreicht. So sollen die harten Strafen für Jüngere mit der anstehenden Reform entschärft werden. Ebenso ist die Bundesregierung davon abgewichen, den Mehrbedarf für Alleinerziehende zu streichen. Allerdings sind viel zu wenige organisiert; etliche Hartz-IV-Bezieher sind mürbe und tun sich schwer, diese Lethargie zu durchbrechen. Betroffene stecken oft nicht nur in permanenter Geldnot, sondern auch in einer Opferrolle fest. Das ist kontraproduktiv. Sie müssen wieder kreativ werden. Stünden wir mal zu Zehntausenden vor dem Bundestag, wäre das ein großes Signal.

Susan Bonath: Sie sind inzwischen in der Linkspartei und sitzen in der Bezirksversammlung Hamburg-Altona. Kommendes Jahr kandidieren Sie für die Bürgerschaft. Was wollen Sie dort erreichen?

Inge Hannemann: Mir ist klar, dass ich im Kommunalparlament nicht Hartz IV kippen kann. Ich will aber versuchen, weiteren Sozialabbau abzuwenden. Hamburg ist ein Paradebeispiel für die soziale Spaltung, wir haben einen sichtbaren Zuwachs an Obdachlosen, vor allem bei Jugendlichen. Immer mehr Menschen sammeln Flaschen. Und es gibt hier immer noch Jobs, vor allem in der Gastronomie, bei denen Leute für 3,50 Euro die Stunde schuften. Außerdem finden Arme in Hamburg kaum noch eine Wohnung und werden in Randgebiete verdrängt. In all diesen Bereichen will ich etwas verbessern. (Junge Welt 7.11.2014)

Siehe auch:

Kampf gegen Hartz IV: Jobcenter-Mitarbeiterin drangsaliert

Tödliche Verelendung: Sterben durch Zwangsräumung

Hartz IV: Abschaffung der Sanktionen jetzt!

Blogroll für H4-Initiativen Werde aktiv!

Ukraine-Lügen vergessen? „Spiegel“-Belobigung auf „Nachdenkseiten“?!

Gilbert Perry StoppPutinSpi

Die „Nachdenkseiten“ verbreiten leider kaum kommentiert einen Artikel aus den Niederlanden, der ein völlig falsches Bild deutscher Medien liefert. Nato-Kritiker und Autor Karel van Wolferen muss ein sehr eingeschränktes Bild von deutschen Medien haben, dem dringend entgegen getreten werden muss. Haben die „Nachdenkseiten“ den „Stoppt Putin“-Spiegeltitel schon vergessen? Die Bilder niederländischer MH-17 Opfer wurden auf das widerwärtigste missbraucht, um Hetzpropaganda gegen Russland zu machen indem ohne jeden Beweis Putin als Täter hingestellt wurde.

Albrecht Müller, Ex-SPD-Funktionär, PR-Profi und NDS-Macher

Die „Nachdenkseiten“ (NDS) von Willy Brandts (SPD) legendärem PR-Mann Albrecht Müller verbreiten leider kaum kommentiert einen Artikel aus den Niederlanden, der ein völlig falsches Bild deutscher Medien liefert: „Die Ukraine, korrupter Journalismus und der Glaube der Atlantiker„. Sein Jubel über minimale Kritik an der NATO-Linie ist kaum verständlich -Autor Karel van Wolferen muss ein sehr eingeschränktes Bild von deutschen Medien haben.

Der Artikel, der schon am 14. August erschienen war, so NDS, sei immer noch aktuell und ein passender Beitrag zum Antikriegstag. Es sei erstaunlich,  dass dieser Text, der die aktuellen Vorgänge einzuordnen hilft, keine weitere Verbreitung gefunden hat. Karel von Wolferen setzt sich darin immerhin kritisch mit der NATO und den Atlantikern auseinander und sieht im Versagen der Medien eine Ursache für die Misere, aber seine Einschätzung der deutschen Debatte könnte falscher nicht sein. Sie betraf einen winzigen Moment des Aufmuckens einiger weniger gegen die Sanktionen, v.a. weil davon die deutsche Wirtschaft hart getroffen wird. NDS bietet nur eine kleine Relativierung dieses Zerrbildes an:

„Die deutschen Medien überschätzt er allerdings, vor allem den „Spiegel“, und wohl auch die in Deutschland entscheidenden Personen Merkel und Steinmeier. Aber dieses Manko beschädigt nicht den Gesamteindruck.“ Albrecht Müller, NDS

Doch das tut es, zumindest hier in Deutschland, wo wir Alternativ-Medien täglich gegen die Walze aus Hetze und Lügen ankämpfen, die für den Krieg gegen Russland trommeln. Wenn ein Niederländer für seine Debatte in seinem Land vor zwei Wochen ein paar deutsche Artikel als positive Beispiele für Journalismus zitiert, hat er sie aus einem Meer von Lügen herausgefischt. Dies muss erwähnt und bedacht werden, wenn ein solcher Text in deutscher Übersetzung präsentiert wird. Da van Wolferens Artikel tatsächlich viele bedenkenswerte Kritik enthält und NDS ihn nur im klobigen pdf-Format anbietet, soll er hier in voller Länge dokumentiert werden (siehe unten).

Karel van Wolferen (Mitte)

Karel van Wolferen ist pensionierter Professor der Universität von Amsterdam und Publizist, seine Artikel erschienen in der New York Times , Washington Post , Le Monde u.v.a. Seit 1969 hat er ca. zwanzig politische Bücher veröffentlicht; Auflage in elf Sprachen: weltweit über eine Million. Als Auslandskorrespondent für das NRC Dagblad hat er die höchste niederländische Auszeichnung für Journalisten und dennoch scheint van Wolferen die Wendung des deutschen Bertelsmann-Flaggschiffs „SPIEGEL“ zu einer neoliberalen Gazette, die z.B. jüngst mal wieder für mehr Rüstung trompetet, nicht mitbekommen zu haben. Sporadisch in dem zwischen reaktionär, rechtslibertär und Infotainment schwankenden Heft mit Spitznamen „BILD am Montag“ eingestreute Artikel, die halbwegs noch dem alten SPIEGEL entsprechen, scheinen im Ausland zu genügen, um das alte Image aufrecht zu erhalten. Doch auch van Wolferen sollte nach dem „Stoppt Putin“-SPIEGEL, der für seine billige Hetzpropaganda gnadenlos die Bilder niederländischer Todesopfer von MH-17 missbrauchte, seine veraltete, wohlwollende SPIEGEL-Bewertung geändert haben. Dies zu erwähnen fehlt leider bei NDS.

PDF-doc bei NDS

Hier bei uns in voller Länge dokumentiert und bebildert mit -zur besseren Lesbarkeit- eingefügten Zwischenüberschriften:

Die Ukraine, korrupter Journalismus und der Glaube der Atlantiker

von Karel van Wolferen, 14. August 2014

übersetzt von Carsten Weikamp für die Nachdenkseiten, engl. Quelle

Die europäische Union wird nicht (mehr) von Politikern geführt, die ein Verständnis von Geschichte haben, eine nüchterne Einschätzung der globalen Wirklichkeit oder auch nur gesunden Menschenverstand in Verbindung mit den langfristigen Zielen dessen, was sie führen. Falls es noch eines Beweises bedurft hätte, ist der spätestens mit den Sanktionen erbracht, die sie vorige Woche beschlossen haben und die Russland bestrafen sollen.

Ein Weg, ihre Dummheit zu ergründen, wäre, bei den Medien anzufangen, denn welche Ansicht oder welche Besorgnis die Politiker auch immer persönlich haben mögen, sie müssen wahrgenommen werden als diejenigen, die das richtige tun, und darum kümmern sich Fernsehen und Zeitungen. In weiten Teilen der europäischen Union leitet sich das allgemeine Verständnis der globalen Wirklichkeit seit dem schrecklichen Schicksal der Menschen an Bord des malaysischen Flugzeugs aus den Mainstream Zeitungen und Fernsehsendern ab, die die Herangehensweise der angloamerikanischen Mainstream-Medien kopiert und ‚Nachrichten‘ präsentiert haben, in denen Andeutungen und Verunglimpfungen die saubere Berichterstattung ersetzen. Renommierte Publikationen wie die Financial Times oder das früher sehr angesehene niederländische NRC Handelsblad , für das ich sechzehn Jahre als Ostasien-Korrespondent gearbeitet habe, haben in diesen korrupten Journalismus nicht nur eingestimmt, sondern selbst dazu beigetragen, irrwitzige Feststellungen zu verbreiten. Die Expertisen und Leitartikel die dabei herausgekommen sind, sind weiter gegangen als alle vorherigen Beispiele fortgesetzter Medienhysterie, an die ich mich erinnern kann, die für politische Zwecke angeheizt wurden. Das abscheulichste Beispiel, das mir über den Weg gelaufen ist, ein Anti-Putin- Aufmacher im Economist Magazine (vom 26. Juli), war vom Tonfall wie Shakespeares Heinrich der Fünfte, der seine Truppen vor der Schlacht von Agincourt einschwört, als er in Frankreich einmarschiert.

Man sollte immer daran denken, dass es keine europaweite Zeitung oder Publikation gibt, die eine europäische Öffentlichkeit bietet im Sinne einer Plattform für politisch interessierte Europäer, um über große internationale Entwicklungen zu sinnieren oder zu debattieren. Weil diejenigen, die sich für Weltpolitik interessieren, normalerweise die internationalen Ausgaben der New York Times oder der Financial Times lesen, sind Fragen und Antworten zu geopolitischen Fragestellungen in aller Regel dadurch geprägt oder zumindest stark beeinflusst, was die Redakteure in New York und London für wichtig erachten. Gedanken, die davon signifikant abweichen, wie man sie jetzt in Der Spiegel, der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit und dem Handelsblatt finden kann, überschreiten die deutschen Grenzen nicht. Dementsprechend können wir keine Entwicklung erkennen von so etwas wie einer europäischen Meinung zu globalen Fragen, selbst wenn diese direkten Einfluss auf die Interessen der Europäischen Union haben.

MH-17 rüttelte Niederlande wach

Die niederländische Bevölkerung wurde durch den Tod von 193 Landsleuten (zusammen mit ##MH-17_Sonnenblumen105 Menschen anderer Nationalitäten) in dem abgeschossenen Flugzeug rüde wachgerüttelt aus seiner allgemeinen Gleichgültigkeit hinsichtlich globaler Geschehnisse, und die nationalen Medien waren schnell dabei, in die von Amerika initiierten Schuldzuweisungen Richtung Moskau einzustimmen. Erklärungen, die nicht wenigstens irgendwie die Schuld des russischen Präsidenten beinhalteten, schienen völlig tabu zu sein. Das stand im genauen Gegensatz zu den Statements eines nüchternen niederländischen Premierministers, der unter beachtlichem Druck stand, auch in die Schuldzuweisungen einzustimmen, aber darauf beharrte, die gründliche Untersuchung der genauen Abfolge der Geschehnisse abzuwarten. Die TV-Nachrichtensendungen, die ich in jenen Tagen direkt danach gesehen habe, hatten, neben anderen anti-russischen Kommentatoren, amerikanische, mit den Neokonservativen verbandelte Fachleute eingeladen, um einer verwirrten und aufgewühlten Zuschauerschaft die Situation zu erschließen. Ein niederländischer Außenpolitik-Experte erklärte, dass weder der Außenminister noch sein Stellvertreter die Absturzstelle aufsuchen könnten (wie es malaysische Beamte taten), um die sterblichen Überreste der niederländischen Staatsbürger zu bergen, weil das einer impliziten Anerkennung eines diplomatischen Status für die ‚Separatisten‘ gleichkäme. Wenn aber die Europäische Union en bloc ein Regime anerkennt, das durch einen von Amerika initiierten Staatsstreich an die Macht gekommen ist, dann muss man sich diplomatisch daran halten.

Die Einheimischen und Anti-Kiew-Kämpfer an der Absturzstelle wurden mit Bildern aus Youtube als unkooperative Kriminelle porträtiert, was für viele Zuschauer einer Bestätigung von deren Schuld gleichkam. Dies änderte sich, als später Berichte von Journalisten vor Ort schockierte und zutiefst besorgte Dorfbewohner zeigten, aber die Diskrepanz wurde nicht erläutert, und frühere Unterstellungen von Schurkereien wurden nicht abgelöst durch eine objektive Analyse, wofür diese Leute vielleicht überhaupt kämpfen. Tendenziöse Twitter- und Youtube-‚Nachrichten‘ waren zur Grundlage der offiziellen niederländischen Empörung über die Ostukrainer geworden, und eine allgemeine Stimmung machte sich breit, dass da etwas wieder geradegerückt werden müsse, was, so ebenfalls allgemein verbreitete Ansicht, durch eine große, landesweit im TV übertragene Inempfangnahme der menschlichen Überreste (die durch malaysische Vermittlung herausgegeben worden waren) in einer würdevollen, nüchternen und martialischen Zeremonie bewerkstelligt wurde.

Nichts, das ich gesehen oder gelesen habe, hat auch nur angedeutet, das die Ukraine-Krise – die zum Staatsstreich und Bürgerkrieg geführt hat – von Neokonservativen und ein paar R2P-Fanatikern („Responsibility to Protect“ – „Verantwortung zu schützen“) im Außenministerium und im Weißen Haus angefacht wurde, denen Präsident Obama offenbar freie Hand gelassen hatte. Die niederländischen Medien schienen sich auch nicht bewusst zu werden, dass die Katastrophe sofort zu einem politischen Spielball für die Zwecke des Weißen Hauses und des Außenministeriums umgedeutet wurde.

Dass Putin wahrscheinlich Recht gehabt hat, als er sagte, dass die Katastrophe nicht passiertBanderaUkraine wäre, wenn man auf seinen Vorschlag eines Waffenstillstands eingegangen wäre, wurde nicht in Erwägung gezogen. Es war nämlich so, dass Kiew die Waffenstillstandsvereinbarung – am 10. Juni – gebrochen hat in seinem Bürgerkrieg gegen russisch-sprechende Ostukrainer, die nicht regiert werden möchten von einer Sammlung von Verbrechern, Abkömmlingen ukrainischer Nazis und in den IWF und die EU verliebten Oligarchen. Die vermeintlichen ‚Rebellen‘ haben geantwortet auf beginnende ethnische Säuberungen (systematische Terror-Bombardierung und Gräueltaten – 30 oder mehr Ukrainer sind bei lebendigem Leib verbrannt), die Kiewer Truppen begangen haben, wovon wenig bis gar nichts in die europäischen Nachrichtensendungen durchdrang.

USA investierten 5 Milliarden Dollar in Kiew-Putsch

Es ist unwahrscheinlich, dass die amerikanischen NGOs plötzlich aus der Ukraine verschwunden sind, die öffentlich zugegebene fünf Milliarden Dollar für politische Destabilisierungsmaßnahmen im Vorfeld des Februar-Putsches in Kiew ausgegeben haben, oder dass amerikanische Militärberater oder Spezialeinsatzkräfte unbeteiligt dabeigesessen aac53-yes-we-scan-round-200haben, als Kiews Militär und Milizen ihre Bürgerkriegs- Strategie aufgemalt haben; die neuen Verbrecher hängen als Regime schließlich am finanziellen Tropf von Washington, der Europäischen Union und des IWF. Wir wissen, dass Washington das fortlaufende Töten im Bürgerkrieg, das es ausgelöst hat, weiter befeuert. Aber Washington hat konstant die besseren Karten gehabt in einem Propagandakrieg gegen einen – ganz im Gegensatz zu dem, was uns die Mainstream-Medien glauben machen wollen – im Grunde unwilligen Gegner. Wellen der Propaganda kommen aus Washington, die das Bild eines Putin stützen sollen, der, angetrieben und unterstützt von einem durch den Verlust des sowjetischen Imperiums erhöhten Nationalismus, versucht, die russische Föderation bis an die Grenzen jenes erloschenen Imperiums auszudehnen.

Die abenteuerlicheren Expertisen, mit neokonservativem Fieber infiziert, lassen Russland als Bedrohung erscheinen, der den Westen umschließen will. So wird Europäern Glauben gemacht, Putin lehne Diplomatie ab, obwohl er fortdauernd darauf gedrängt hat. So hat die vorherrschende Propaganda den Effekt gehabt, dass nicht Washingtons, sondern Putins Aktionen als gefährlich und extrem angesehen werden. Jeder, der eine Story hat, die Putin oder Russland in schlechtes Licht rückt, muss sich jetzt bewegen; niederländische Redakteure scheinen im Moment unersättlich. Zweifellos gibt es die Moskauer Propaganda, auf die häufig hingewiesen wird. Aber es gibt Wege für seriöse Journalisten, konkurrierende Propaganda abzuwägen und wahrzunehmen, wieviel Wahrhaftigkeit oder Lüge und Schwachsinn sie jeweils enthalten. In meinem Sichtbereich hat das lediglich in Deutschland ein wenig stattgefunden. Im übrigen müssen wir uns die politische Realität zusammenstückeln, indem wir uns auf die jetzt mehr denn je unverzichtbaren amerikanischen Webseiten verlassen, die Whistleblowern und investigativem Journalismus alter Prägung eine Plattform bieten, welche speziell seit dem Beginn des ‚war on terrorism‘ und der Invasion des Irak eine beständige Form des Samizdat-Publizierens bilden.

Niederländer glauben ihren Machteliten noch

In den Niederlanden wird fast alles, was vom Außenministerium kommt für bare Münze genommen. Die amerikanische Geschichte wirklich atemberaubender Lügen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion: über Panama, Afghanistan, Irak, Syrien, Venezuela, Libyen und Nordkorea; ihre Statistik gestürzter Regierungen; ihre geheimen und unter falscher Flagge geführten Operationen; und ihre verstohlenen Besetzungen des Planeten mit einigen tausend Militärbasen, wird praktisch nicht mit in die Betrachtung einbezogen. Die Beinahe-Hysterie während der Woche nach dem Flugzeugabschuss hat verhindert, dass Leute mit Wissen über einschlägige Geschichte ihren Mund aufmachten. Arbeitsplatzsicherheit ist in der heutigen Welt des Journalismus ziemlich wackelig, und gegen den Strom zu schwimmen käme fast einem Paktieren mit dem Teufel gleich, weil es die journalistische ‚Glaubwürdigkeit‘ beschädigen würde.

Was einer älteren Generation seriöser Journalisten als fragwürdig an der Glaubwürdigkeit der Mainstream-Medien erscheint, ist die redaktionelle Interesselosigkeit für potentielle Anhaltspunkte, die die offizielle Linie unterminieren oder zerstören könnten; eine Linie, die bereits die populäre Kultur durchdrungen hat, wie man an Ex-und-Hopp-Bemerkungen zur Ausschmückung von Buch- und Filmbesprechungen und vielem mehr erkennen kann. In den Niederlanden ist die offizielle Linie schon in Stein gemeißelt, wie zu erwarten ist, wenn sie zehntausende Male wiederholt wird. Man kann sie natürlich nicht einfach vom Tisch fegen, aber sie basiert nicht auf der Spur eines Beweises.

MH-17 in Westmedien: Propaganda statt Recherche

Die Anwesenheit zweier ukrainischer Kampfflugzeuge in der Nähe der malaysischen ##MH-17_SonnenblumenMaschine auf dem russischen Radar wäre ein möglicher Hinweis, den ich interessant fände, wenn ich entweder als Journalist oder als Mitglied des offiziell von den Niederlanden geführten Untersuchungsteams zu tun hätte. Dieser schien bekräftigt zu werden von einem BBC-Bericht mit Augenzeugenberichten von Dorfbewohnern vom Boden aus, die ein anderes Flugzeug, einen Kampfflieger, kurz vor dem Zeitpunkt des Absturzes deutlich nahe bei dem Passagierflugzeug gesehen haben, und die Explosionen am Himmel gehört haben. Dieser Bericht hat zuletzt Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er aus dem BBC-Archiv entfernt wurde. Ich würde gerne mit Michael Bociurkiw sprechen, einen der ersten Inspektoren der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der die Absturzstelle erreichte und mehr als eine Woche mit der Untersuchungen des Wracks beschäftigt war und CBC World News zwei oder drei „richtiggehend durchsiebte“ Teile des Flugzeugrumpfs beschrieben hat. „Es sieht fast aus wie eine Maschinengewehr-Salve; sehr, sehr starker Maschinengewehr-Beschuss, der diese eindeutigen Spuren hinterlassen hat, die wir sonst nirgendwo gesehen haben.“

Ich würde sicher auch mal einen Blick werfen wollen auf die angeblich konfiszierten Radar- und Funkverkehrs-Aufzeichnungen des Kiewer Flugsicherungs-Towers, um zu verstehen, warum der malaysische Pilot vom Kurs abdrehte und rapide sank kurz bevor das Flugzeug abstürzte, und herausfinden, ob ausländische Flugsicherungs-Mitarbeiter in Kiew wirklich direkt nach dem Absturz nach Hause geschickt wurden. Wie die ‚Veteran Intelligence Professionals for Sanity‘ würde ich sicherlich die amerikanischen Behörden mit Zugang zu Satellitenbildern dazu drängen, die Beweise zu zeigen, die sie zu haben behaupten für die BUK Flugabwehr-Einheiten in ‚Rebellenhand‘ und für russische Verstrickung, und ich würde sie fragen, warum sie das bisher nicht getan haben. Bisher verhält sich Washington wie ein Autofahrer, der sich weigert, einen Alkoholtest zu machen. Nachdem Geheimdienstmitarbeiter einigen amerikanischen Zeitungen gegenüber ausgedrückt haben, dass sie nicht ganz so sicher sind über die amerikanischen Gewissheiten, die der Welt vom Außenminister mitgeteilt wurden, wäre meine Neugier unerbittlich.

Um die europäische Medienloyalität Washington gegenüber in Sachen Ukraine und das sklavische Verhalten europäischer Politiker ins rechte Licht zu rücken, muss man den Atlantizismus kennen und verstehen. Es ist ein europäischer Glaube. Er ist natürlich nicht zu einer offiziellen Doktrin geworden, funktioniert aber wie eine. Es ist gut zusammengefasst durch den niederländischen Slogan zur Zeit des Irakkriegs „ zonder Amerika gaat het niet “ (ohne Amerika geht es nicht). Unnötig zu sagen, dass der Atlantizismus ein Kind des Kalten Krieges ist. Ironischerweise hat er an Kraft gewonnen, als die Bedrohung durch die Sowjetunion für eine immer größere Zahl europäischer politischer Eliten immer weniger überzeugend wurde. Das war wahrscheinlich eine Sache des Generationenwechsels: Je weiter vom Zweiten Weltkrieg entfernt, umso weniger erinnerten sich europäische Regierungen daran, was es heißt, eine unabhängige Außenpolitik in Bezug auf Themen globaler Größenordnung zu haben. Die aktuellen Regierungschefs der Europäischen Union haben keine Erfahrungen mit praktischen strategischen Erwägungen. Routinemäßiges Denken über internationale Beziehungen und globale Politik ist tief in der Erkenntnislehre des Kalten Krieges verwurzelt.

Das ruft unvermeidlich auch ‚verantwortliche‘ Redaktionspolitiken auf den Plan. Der Atlantizismus ist inzwischen ein schlimmes Gebrechen für Europa: er fördert die Geschichtsvergessenheit, absichtliches Wegsehen und gefährlich missverstandene politische Wut. Aber er gedeiht auf einer Mischung aus noch immer unhinterfragten Gewissheiten aus der Ära des Kalten Krieges bzgl. Schutz, in der Allgemeinkultur verankerten Kalter-Krieg-Loyalitäten, purer europäischer Ignoranz und einem verständlichen Widerwillen, einzugestehen, dass man auch nur ein kleines bisschen einer Gehirnwäsche unterzogen worden ist. Washington kann unerhörte Dinge tun und den Atlantizismus dennoch intakt lassen wegen jedermanns Vergesslichkeit, wogegen die Medien wenig oder nichts unternehmen. Ich kenne Niederländer, die die Verunglimpfung Putins anwidert, aber der Gedanke, dass im Zusammenhang mit der Ukraine die Schuldzuweisung an Washington gehen sollte, ist geradezu unakzeptabel. Niederländische Publikationen können sich also, genau wie viele andere in Europa, nicht so positionieren, dass sie die Ukraine-Krise nüchtern betrachten, indem sie anerkennen, dass Washington sie ausgelöst hat und dass Washington wohl eher als Putin den Schlüssel zur Lösung in der Hand hält. Das würde sie zwingen, den Atlantizismus aufzugeben.

Die Atlantiker und ihre NATO

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US-Söldner von Blackwater in Ukraine gesichtet (oder waren es JSOC-Killer vom Pentagon selbst?)

Der Atlantizismus bezieht viel von seiner Stärke aus der NATO, seiner institutionellen Verkörperung. Der Grund für die Existenz der NATO, der mit dem Untergang der Sowjetunion hinfällig war, ist größtenteils vergessen. Im Jahre 1949 ins Leben gerufen, basierte die NATO auf dem Gedanken, dass eine transatlantische Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung notwendig geworden war angesichts des Kommunismus, der, orchestriert von Moskau, darauf aus war, den ganzen Planeten zu erobern. Viel weniger wurde über das innereuropäische Misstrauen geredet, als die europäischen Staaten die ersten Schritte zu einer wirtschaftlichen Integration unternahmen. Die NATO stellte eine Art amerikanischer Garantie dar, dass keine europäische Macht jemals versuchen würde, die anderen zu beherrschen.

Die NATO ist seit einiger Zeit eine Bürde für Europa, da sie die Entwicklung einer abgestimmten europäischen Außen- und Verteidigungspolitik verhindert und die Mitgliedsstaaten gezwungen hat, dienende Instrumente des amerikanischen Militarismus zu werden. Sie ist auch eine moralische Last, denn die in der ‚Koalition der Willigen‘ beteiligten Regierungen haben ihren Bürgern die Lüge verkaufen müssen, dass die in Irak und Afghanistan sterbenden europäischen Soldaten ein notwendiges Opfer seien, um Europa sicher gegen Terroristen zu machen. Regierungen, die Truppen in von den USA besetzte Gebiete versendet haben, haben dies im allgemeinen mit beträchtlichem Zögern getan, wodurch sie sich den Vorwurf einer Reihe amerikanischer Offizieller eingehandelt haben, dass Europäer zu wenig für das gemeinsame Ziel der Verteidigung von Demokratie und Freiheit täten.

Wie es für Ideologien typisch ist, ist der Atlantizismus ahistorisch. Als Medizin gegen die Qual einer fundamentalen politischen Zweideutigkeit, erzeugt sie ihre eigene Geschichte: eine, die von amerikanischen Mainstream-Medien umgeschrieben werden kann, während sie die Botschaft aus Washington verbreiten. Dafür könnte es kaum eine bessere Veranschaulichung geben als die momentane niederländische Erfahrung. In den vergangenen drei Wochen habe ich in Gesprächen echte Überraschung angetroffen, wenn ich Freunde daran erinnert habe, dass der Kalte Krieg diplomatisch beendet wurde mit einem Abkommen zwischen Gorbatschow und dem älteren Bush im Dezember 1989 auf Malta, wo James Baker es geschafft hat, dass Gorbatschow die deutsche Wiedervereinigung und den Abzug der Truppen des Warschauer Pakts akzeptierte gegen das Versprechen, dass die NATO nicht auch nur um einen Zoll Richtung Osten erweitert würde.

Gorbatschow verpflichtete sich, in Osteuropa keine Gewalt anzuwenden, obwohl er rund 350.000 russische Soldaten allein in Ostdeutschland hatte, im Gegenzug für Bushs Versprechen, dass Washington keinen Vorteil aus dem Rückzug der Sowjets aus Osteuropa ziehen würde. Bill Clinton brach diese amerikanischen Versprechen, als er aus rein wahltaktischen Gründen mit einer Ausweitung der NATO prahlte und 1999 die Tschechische Republik und Ungarn zu Vollmitgliedern machte. Zehn Jahre später wurden neun weitere Länder Mitglieder, wodurch sich die Anzahl der NATO-Länder im Vergleich zum Kalten Krieg verdoppelt hatte. Der berühmte amerikanische Russlandspezialist, Botschafter George Kennan, Begründer der Containment-Politik im Kalten Krieg, nannte Clintons Schritt „den verhängnisvollsten Fehler amerikanischer Politik der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.“

Es gab keine „Invasion“ der Krim

Vom Atlantizismus angestiftete Geschichtsvergessenheit zeigt sich schmerzlich in der Behauptung, der ultimative Beweis in der Sache gegen Wladimir Putin sei seine Invasion der Krim. Hier wurde die politische Realität wieder von den amerikanischen Mainstream-Medien gemacht. Es gab keine Invasion, denn russische Matrosen und Soldaten waren bereits dort, da dort ja der „Warmwasser“-Schwarzmeer- Heimatstützpunkt der russischen Marine ist. Die Krim war schon so lange ein Teil Russlands wie es die USA überhaupt gibt. 1954 gab Chruschtschow, der selbst aus der Ukraine kam, sie an die ukrainische sozialistische Republik, was nicht mehr war, als eine Region einer anderen Provinz zuzuordnen, da Russland und die Ukraine ja zu demselben Land gehörten. Der russisch-sprechenden Krim-Bevölkerung war das ganz recht, sie stimmten in einem Referendum erst für die Unabhängigkeit vom Kiew-Regime, das das Ergebnis eines Staatsstreichs war, und anschließend für eine Wiedervereinigung mit Russland.

Die, die meinen, dass Putin kein Recht hatte, so zu handeln, sind sich eines anderen Teils derUSAirforce Geschichte nicht bewusst, in dem die USA (Star Wars) Flugkörper-Verteidigungssysteme immer näher an die russischen Grenzen vorgeschoben hat, vorgeblich um feindliche Geschosse aus dem Iran abzufangen, die es dort gar nicht gibt. Scheinheiliges Gerede über territoriale Integrität und Souveränität ergibt unter diesen Umständen gar keinen Sinn, und wenn es aus einem Washington erklingt, das seinerseits das Konzept der Souveränität in seiner Außenpolitik längst verworfen hat, dann ist es geradezu grotesk.

Ein abscheulicher atlantizistischer Zug war der Ausschluss Putins von den Treffen und anderen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Landung in der Normandie, erstmals seit 17 Jahren. Die G8 wurden daraufhin zur G7. Gedächtnisschwund und Ignoranz haben die Niederländer blind gemacht für eine Geschichte, die sie direkt angeht, denn die Sowjetunion hat das Herz aus der Nazi-Kriegsmaschine gerissen (die die Niederlande besetzt hielt) zum Preis einer unvergleichlich und unvorstellbar hohen Zahl toter Soldaten; ohne das hätte es niemals eine Invasion in der Normandie gegeben.

Vor nicht allzu langer Zeit sah es so aus, als ob die vollständigen militärischen Katastrophen im Irak und in Afghanistan die NATO an einen Punkt brächten, an dem ihre unvermeidliche Auflösung nicht mehr weit entfernt schien. Aber die Ukraine-Krise und Putins Entschiedenheit, zu verhindern, dass die Krim mit ihrer russischen Marinebasis möglicherweise in die Hände der Amerika-gehörenden Allianz fiel, war ein Geschenk des Himmels für diese taumelnde Institution.

Die NATO-Führung hat zur Stärkung ihrer Präsenz bereits Truppen in die baltischen Staaten verlegt und Raketen und Angriffsflugzeuge nach Polen und Litauen, und seit dem Abschuss der malaysischen Maschine hat sie weitere militärische Bewegungen vorbereitet, die zu gefährlichen Provokationen Russlands werden könnten. Es ist klar geworden, dass der polnische Außenminister gemeinsam mit den baltischen Staaten, die allesamt nicht NATO-Mitglieder waren, solange man deren Existenzberechtigung noch verteidigen konnte, die starke treibende Kraft hinter diesen Aktionen sind. In der vorigen Woche hat sich eine Mobilisations-Laune breitgemacht. Bei den Bauchrednerpuppen Anders Fogh Rasmussen und Jaap de Hoop Scheffer kann man sich darauf verlassen, dass sie die Fernsehschirme übernehmen und über die Zurückhaltung der NATO-Mitglieder schimpfen. Rasmussen, der aktuelle Generalsekretär, erklärte am 7. August in Kiew, dass die „Unterstützung [der NATO] für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine unerschütterlich“ sei und dass er die Partnerschaft mit dem Land beim Gipfeltreffen der Allianz im September stärken will. Die Partnerschaft sei schon stark, sagte er, „und als Antwort auf Russlands Aggression arbeitet die NATO umso enger mit der Ukraine an der Reformierung ihrer bewaffneten Truppen und Verteidigungsinstitutionen.“

Kriegsvorbereitungen im US-Kongress

Muzychko

US-Liebling Muzychko (Rechter Sektor der Kiewer Putsch-Regierung), inzwischen erschossen

Währenddessen haben im amerikanischen Kongress 23 republikanische Senatoren ein Gesetz eingebracht, das „Gesetz zur Verhinderung russischer Aggression“, das es Washington erlauben soll, die Ukraine zu einem Nicht-NATO-Alliierten zu machen, und das die Voraussetzungen schaffen könnte für einen direkten militärischen Konflikt mit Russland. Wir werden wahrscheinlich bis nach den Zwischenwahlen in Amerika warten müssen, ehe wir sehen, was daraus wird, aber es dient schon als politische Entschuldigung für diejenigen in Washington, die die nächsten Schritte in der Ukraine einleiten wollen.

Letztes Jahr im September hat Putin Obama geholfen, indem er es ihm möglich machte, die Forderungen nach einer Bombardierung Syriens zu stoppen, auf die die Neokonservativen gedrängt hatten, und er hat auch geholfen, den Nukleardisput mit dem Iran zu entschärfen, ein weiteres Projekt der Neokonservativen. Dies führte dazu, dass sich die Neokonservativen zusammentaten, um die Putin- Obama-Verbindung zu zerbrechen. Es ist kein Geheimnis, dass die Neokonservativen sehnlichst den Sturz Putins wünschen und am Ende die Zerstückelung der Russischen Föderation. Die Existenz zahlreicher NGOs, die in Russland daran arbeiten, ist in Europa weniger bekannt. Wladimir Putin könnte jetzt oder bald angreifen, um der NATO und dem amerikanischen Kongress zuvorzukommen, und die Ostukraine einnehmen – etwas, das er wahrscheinlich schon direkt nach dem Krim-Referendum hätte tun sollen. Das wäre in den Augen der europäischen Redakteure dann natürlich der Beweis für seine bösen Absichten.

Wann durchschauen die Europäer die Medienpropaganda?

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Hetze auf Sender PHOENIX über Krim-Referendum

Im Lichte all dessen ist eine der schicksalhaftesten Fragen, die in Sachen Weltgeschehen zu stellen ist, die folgende: Was muss passieren, dass die Europäer aufwachen und erkennen, dass Washington mit dem Feuer spielt und aufgehört hat, der Beschützer zu sein, auf den sie sich bisher immer verlassen haben, und stattdessen ihre Sicherheit gefährdet. Wird der Moment kommen, in dem klar wird, dass es bei der Ukraine-Krise als allererstes darum geht, Star Wars Raketen auf einem langen Abschnitt der russischen Grenze in Stellung zu bringen, was Washington – in der wahnwitzigen Sprache der Nuklearstrategen – die Möglichkeit eines ‚Erstschlags‘ eröffnet?

Älteren Europäern dämmert es, dass die Vereinigten Staaten Feinde hat, die nicht die Feinde Europas sind, weil sie sie aus innenpolitischen Gründen brauchen; um eine wirtschaftlich enorm wichtige Kriegsindustrie am Laufen zu halten und im Schnellverfahren die politische Eignung von Kandidaten für öffentliche Ämter zu testen. Während Schurkenstaaten und Terroristen als Ziele für ‚gerechten Krieg‘ nie so richtig überzeugend waren, könnte Putins Russland, so wie es von einer militaristischen NATO dämonisiert wird, geeignet sein, den transatlantischen Status Quo zu bewahren. Ich dachte vom ersten Moment an, als ich davon hörte, dass die Wahrheit über das Schicksal des malaysischen Flugzeugs politisch determiniert würde. Die Blackboxen sind in London. In NATO-Händen?

Es bleiben andere riesige Hindernisse für ein Aufwachen; Finanzialisierung und neoliberaleDollarPyramid Politik haben eine enge transatlantische Verflechtung plutokratischer Interessen erzeugt. Zusammen mit dem Atlantizistischen Glauben haben sie die politische Entwicklung der Europäischen Union verhindert und dadurch Europas Fähigkeit, unabhängige politische Entscheidungen zu treffen. Washington hat Großbritannien seit Tony Blair in der Tasche, und seit Nicolas Sarkozy kann man das mehr oder weniger auch über Frankreich sagen. Bleibt Deutschland. Angela Merkel war deutlich unglücklich mit den Sanktionen, machte am Ende aber mit, weil sie es sich mit dem amerikanischen Präsidenten gut halten will, und die USA als Eroberer im Zweiten Weltkrieg sitzt dank einiger Abkommen noch immer an einem langen Hebel. Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister, wies die Sanktionen im Fernsehen und in Zeitungsinterviews zurück und verwies auf den Irak und Libyen als Beispiele dafür, wohin Eskalation und Ultimaten führen, aber auch er drehte sich am Ende und fügte sich.

(Falscher) Hoffnungsschimmer beim „Spiegel“

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SPIEGEL Hetz-Titel missbrauchte MH-17 Opfer

Der Spiegel ist eine der deutschen Publikationen, die Hoffnung geben. Einer ihrer Kolumnisten, Jakob Augstein, greift die „Schlafwandler“, die den Sanktionen zugestimmt haben, an und verurteilt die Schuldzuweisungen seiner Kollegen an Moskau. Gabor Steingart, Herausgeber des Handelsblatt, schimpfte gegen die „amerikanische Tendenz zu verbaler und dann militärischer Eskalation, zur Isolation, Dämonisierung und zum Angriff auf Feinde“ und folgert, dass der deutsche Journalismus „innerhalb weniger Wochen von besonnen auf aufgeregt umgeschaltet hat“. Das Meinungsspektrum hat sich auf das Sichtfeld eines Scharfschützen verengt.“ Es muss in anderen Teilen Europas mehr Journalisten geben, die so etwas sagen, aber ihre Stimmen dringen nicht durch den Lärm der Schmähungen.

Es wird wieder Geschichte geschrieben. Was Europas Schicksal entscheiden wird, ist, dass sich auch anständige Europäer – jenseits der Verteidiger des atlantizistischen Glaubens – nicht dazu durchringen können, an die Fehlfunktion und äußerste Unverantwortlichkeit des amerikanischen Staats zu glauben.

Zum Autor: Karel van Wolferen (kannte offenbar den SPIEGEL-Hetztitel vom 14.7.2014 sowie die Kritik an BERTELSMANN nicht) ist ein niederländischer Journalist und pensionierter Professor der Universität von Amsterdam. Seit 1969 hat er über zwanzig Bücher über politische Themen veröffentlicht, die in elf Sprachen übersetzt und weltweit über eine Million Mal verkauft worden sind. Als Auslandskorrespondent für das NRC Dagblad , eine der führenden holländischen Zeitungen, hat er die höchste niederländische Auszeichnung für Journalisten erhalten, und seine Artikel sind im Laufe der Jahre in The New York Times , The Washington Post , The New Republic , The National Interest , Le Monde und vielen anderen Zeitungen und Zeitschriften erschienen.

Podcast-Interview von Scott Horton mit Karel van Wolferen über seinen Artikel