Kiew: Morde an politischer Opposition nehmen zu

BanderaBriefmarke

Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera

Gilbert Perry

Eine Reihe unaufgeklärter Todesfälle russlandfreundlicher Regierungsgegner erschüttert die Ukraine. Der Kreml sieht darin politische Morde, aber die prowestliche Regierung Poroschenko spricht von einer „Provokation“ Moskaus und verbreitet wilde Verschwörungstheorien, die Putin hinter den Morden an Putin-Freunden sehen wollen. Jetzt sieht es aber eher so aus, als stünden Anhänger des Massenmörders und Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera hinter den Morden: Die Terrorgruppe UPA.

Während westliche Medien bei der Ermordung des proukrainischen russischen Oppositionellen Nemzov mit dem Finger sehr schnell auf den Kreml zeigten, ist man nun, sofern die politischen Morde überhaupt erwähnt werden, bei Kiew vorsichtiger formuliert.  Die Tagesschau hastete gestern über die infamen Terrorangriffe in einer 20-Sekunden-Meldung hinweg, um sich in 300-Sekunden Fußball-Blabla zu retten. Die nach einer totalitären Serienmordwelle aussehenden Vorfälle wollten einfach nicht ins verbreitete Hurra-Bild der prowestlichen Ukraine passen. Heute berichtet sie über Trauerfeiern für Oles Busina, aber nicht ohne „Stimmen“ zu erwähnen, die hinter der UPA Putin oder Putin-Freunde sehen und auf die Verschwörungstheorien aus Poroschenkos Regierung zu verweisen. Putin wird „in einer Fernsehshow“ gezeigt, wo er auf die Morde hinweist -subkutaner ARD-Tenor: „So schlachtet der Kreml-Herr die Terror-Untaten in Kiew aus“.

Was war geschehen?

Attentäter erschossen am Donnerstag in der ukrainischen Hauptstadt Kiew den prominenten Publizisten und Oppositionellen Oles Busina, einen Kritiker von Poroschenko. Das frühere Regierungsmitglied des vom Maidan-Putsch gestürzten ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, Oleg Kalaschnikow, wurde letzten Mittwoch tot aufgefunden. Medien berichteten von mehr als zehn mysteriösen Todesfällen unter Kiews Oppositionellen in den vergangenen Wochen -die meisten davon angeblich „Selbstmorde“, meldet der Tagesspiegel.

Kalaschnikow gehörte wie Janukowitsch der Partei der Regionen an. Nach Angaben aus Regierungskreisen soll Kalaschnikow (52) möglicherweise Verbindungen zu der Anti-Maidan-Bewegung gehabt haben, die gegen die damalige Protestbewegung arbeitete, deren angebliche Vertreter durch den Putsch 2014 an die Macht kamen. Der 45 Jahre alte Busina hatte seit Jahren mit seinen auflagenstarken Büchern zu Geschichtsthemen und als Kolumnist der Tageszeitung „Segodnja“ polarisiert. Als Schriftsteller hatte Busina die Zensur durch die neuen prowestlichen Machthaber sowie ein Auftrittsverbot im Fernsehen beklagt und legte kürzlich seinen Posten als Chefredakteur der Zeitung „Segodnja“ nieder. Busina war Gegner der prowestlichen Proteste auf dem Maidan 2014, galt aber auch als unabhängiger Kopf mit Distanz zu Janukowitsch.

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Putin-Bild bei ARD&ZDF

Während das ukrainische Innenministerium die Verschwörungstheorie verbreitete, der Mord an Kalaschnikow habe zur Vertuschung der Finanzierung der „Anti-Maidan“-Bewegung gedient, ist wohl eher anzunehmen, dass der Ex-Minister einer der zahlreichen rechtsextremen Milizen, die in der Ukraine auf prowestlicher Seite kämpfen, zum Opfer fiel. Prowestliche Medien bleiben vermutlich dabei, dass Putin an allem Schuld ist. Wird ein Putin-Gegner ermordert, wie Nemzow, ist Putin der Hintermann. Sterben Putin-Freunde gleich reihenweise, ist steckt Putin dahinter, um seinen Gegnern Morde unterstellen zu können. Was Wunder, wenn Putin den Nemzow-Mord analog deutet.

UPA bekennt sich zu Morden
BanderaUkraine

Bandera-Verehrung in Kiew

Am Freitag hatte sich auch noch eine bislang unbekannte Gruppe zur Verantwortung für die Mordanschläge bekannt. Das Bekennerschreiben spricht von der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA) und brüstet sich damit, dass man nicht nur Kalashnikov und Buzina getötet habe, sondern auch die mit Janukowitsch verbundenen Politiker Mykhailo Chechetov, Oleksandr Peklushenko und Stanislav Melnyk. Um zu beweisen, dass sie Kalashnikov getötet haben, schrieb die UPA, dass dieser mit Schusswaffen mit dem Kaliber 7.65х17 und 9х18 erschossen wurde, nachdem er selbst einen Schuss abgefeuert haben soll. Die UPA-Terroristen warnten, dass sie gegen „das anti-ukrainische Regime von Verrätern und Moskaus Lakaien“ kämpfen würden. Sie wollen zu diesen nur noch in der Sprache der Waffen sprechen, „bis sie vollständig eliminiert“ seien, so Telepolis.

UPA hatte sich im Zweiten Weltkrieg die Miliz der rechtsnationalistischen „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) genannt, die zeitweise mit den Nazis kooperiert und gegen die Russen, aber auch gegen die Polen gekämpft hatten. Chef der OUN war Stepan Bandera, der auch heute von ukrainischen Faschisten, Neonazis und Rechtsnationalisten als Held verehrt wird. Stepan Bandera wurde schon von der abgewählten prowestlichen Rechts-Regierung von Julia Timoschenko in Kiew zum Volkshelden erklärt. Weil Bandera in die Ermordung von Polen und Juden verwickelt war, erntete Kiew damals internationale Proteste. Aus Warschau, Israel und jüdischen Gemeinden auch in Deutschland hagelte es Kritik und Aufforderungen, diese ungeheuerliche Geschichtsfälschung zu unterlassen. Erst Janukowitsch entzog Bandera diese Ehrungen wieder und zog sich damit den Hass vor allem westukrainischer Faschisten zu –einer der nie erwähnten Hintergründe der Maidan-Proteste.

Am 9.4.2015 hat die Rada jetzt ein Gesetz verabschiedet, nach dem offiziell die nationalen Kämpfer der OUN und auch der UPA als Helden anerkannt werden, deren Erinnerung gepflegt werden soll. Eingebracht hatte den Gesetzentwurf der Abgeordnete Yurii Shukhevych, der heute 82-jährige Sohn des ehemaligen UPA-Kommandeurs. Am 16.4.2015 spekulierte inzwischen die OSZE-Beobachtermission, dass möglicherweise eine „unbekannte dritte Partei“ für Störungen des vereinbarten Waffenstillstands verantwortlich sein könnte. Es kommen jedoch auch Verehrer des dubiosen Nationalhelden Bandera in Frage. Über Bandera wird der deutsche Medienkonsument höchst verzerrt informiert, nicht nur im Tendenzfunk, etwa beim Kultursender 3sat, sondern auch im deutschen Wikipedia:

1934 wurde Stepan Bandera in Polen wegen der Beteiligung an der Ermordung des polnischen Innenministers Bronislaw Pieracki zum Tode verurteilt (Polen hatte Teile der Ukraine besetzt gehalten). Banderas Todesstrafe wurde jedoch in lebenslange Haft umgewandelt und im September 1939 kam Bandera wieder frei -nach der Eroberung Polens durch Hitler und Stalin. Im von Deutschland besetzten Krakau arbeitete Bandera für den Geheimdienst von Hitlers Wehrmacht. Die Nazis hofften, Bandera würde den Ukrainischen Widerstand (OUN) für den geplanten Angriff auf die Sowjetunion auf die Seite der Nazis ziehen. Bandera und der OUN “werden von zahlreichen internationalen Historikern vorgeworfen” (so die tendenziösen Formulierungen von Wikipedia, die hier aber immerhin halbwegs bei der Wahrheit bleiben), am 30. Juni 1941 und noch vor Einmarsch der regulären deutschen Truppen ein Massaker in der Stadt Lemberg angerichtet zu haben: Hierbei seien rund 7000 Menschen, überwiegend Kommunisten und Juden, ermordet worden.

Der von Bandera ausgerufene unabhängige ukrainische Staat widersprach jedoch den Plänen der Nazis, weshalb sie Bandera im Juli 1941 im KZ Sachsenhausen inhaftierten, wo auch der austro-faschistische Ex-Kanzler Kurt Schuschnigg saß. Im September 1944 wurde er von den Nazis jedoch entlassen, die den Führer der UPA (bewaffneter Arm der OUN) nun gegen die vorrückende Rote Armee einsetzen wollten. Banderas UPA kämpfte dann auch tatsächlich, mit deutschen Waffen versorgt, zeitweise gegen die Sowjetarmee, wechselte aber die Seite und attackierte die Nazi-Wehrmacht als diese von Stalins Truppen zurückgedrängt wurde. 1946 flüchtete Bandera nach München, wo er 1959 vom KGB als flüchtiger Massenmörder und Kriegsverbrecher getötet wurde.

So klingt in etwa die deutsche Wikipedia (Abruf 27.4.2014), die wahrlich nicht für ihre progressive Weltanschauung bekannt ist und wo man unter dem Deckmantel angeblicher „Neutralität“ oft alles weglöscht, was dem Westen, seinen Machteliten und deren Verbündeten unlieb sein könnte. Bei Bandera nennt Wikipedia z.B. die OUN lapidar „Organisation Ukrainischer Nationalisten“, ohne ihre faschistische Ideologie zu erwähnen. Historiker wissen mehr dazu:

„Der bedeutendste westliche Historiker, der sich mit dem ukrainischen Nationalismus beschäftigt hat, ist zu der Einschätzung gelangt, daß ‚die Theorie und die Lehren der Nationalisten dem Faschismus sehr nahestanden und in mancher Hinsicht –wie dem Beharren auf >Rasse-Reinheit<- über die ursprünglichen faschistischen Doktrinen noch hinausgingen.“ So zitiert Stanley Payne in seiner „Geschichte des Faschismus“ (Berlin 2001/London 1995) auf S.526 den Historiker J.A.Armstrong.

 

Technokraten auch in Tunesien: Die verratene Revolution

Gerd R. Rueger 07.02.2013 tunisia-flag-svg

Der Mord an Chokri Belaid hat die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Ein friedlicher Weg in die Demokratie scheint in weite Ferne gerückt. Bekennerschreiben fehlen zwar, aber alle glauben an islamistische Täter.

Oppositionspolitiker Belaid wurde vor seinem Haus erschossen. (Foto: AFP)

Chokri Belaid war es gelungen, in der Volksfront Front Populaire eine Koalition liberaler und linker Kräfte zu bündeln

Der 48-jährige Jurist Belaid gehörte zu den einflussreichsten Oppositionspolitikern Tunesiens. Auf dem Weg in sein Büroin Tunis trafen ihn die tödlichen Schüsse. Es war eine Hinrichtung: Vier oder fünf Schüsse, in Kopf und Brust -wie von professionellen Killern.  Chokri Belaid starb im Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen. Es war ein Mord, der Tunesien verändern wird: Das Land könnte erneut in eine schwere Krise stürzen. Tausende strömten auf die Straßen, als sich die Meldung verbreitete. Und das nicht nur in Tunis, auch in anderen Städten, zum Beispiel in der Nähe von Sidi Bouzid, wo die neue hoffnungsvolle Jasminrevolution vor mehr als zwei Jahren auch im Web2.0 ihren Anfang nahm.

Vier Parteien der linksliberalen Allianz „Front Populaire“ verließen aus Protest gegen den Mord an einem ihrer Anführer die verfassungsgebende Versammlung. Der ohnehin äußerst umstrittene Kompromiss über eine neue Festlegung der Verfassung kann nun als vor die Wand gefahren gelten. Ohne ein solches kann aber nicht gewählt werden. Und ohne Verfassung ist weiter unklar, welche Rolle am Ende der Islam in Tunesien spielen wird.

Moncef Marzouki (Foto: REUTERS)

Präsident Marzouki musste eine Auslandsreise abbrechen, seine Regierung steht vor der Auflösung

Wie schon die Regierungen in Rom und Athen, will nun auch will Ministerpräsident Dschebali ein Kabinett von Technokraten  aufstellen und kündigte die Bildung einer „Regierung der nationalen Kompetenz“ an. Allein der Regierungschef steht schon fest: Hamdi Dschebali. Die Ersetzung von parlamentarisch verantwortlichen Regierungen durch Technokraten, die angeblich nur Sachzwänge exekutieren, ist eine Methode des Neoliberalismus. Das heißt, es ist das Ziel der im Dunkeln operierenden Mächte von Finanz- und Geheimdienstkonglomeraten. Vielleicht ist es noch zu früh, sich bei der Suche nach den Mördern von Belaid allein auf die Islamisten festzulegen (obwohl diese sicher leicht für ein solches Attentat zu instrumentalisieren gewesen wären). Der Mittelmeerraum ist seit der Finanzkrise von 2008 vermehrt ins Visier von Machtspielen der westlichen Finanz-Oligarchen geraten.

Belaid war ein führender, unerschrockener Kopf der linksgerichteten Partei Demokratischer Patrioten, der die Ennahdavielfach kritisierte und auch gegen islamistischen Milizen kein Blatt vor den Mund nahm. Dschamel Chargui, ein Parteifreund von Belaid, vermutet hinter dem Mord „irgendwelche Islamisten“, die der Partei Ennahda nahe stehen würden, so zitiert ihn die tagesschau, „Das ist ein Schlag gegen die Demokratie und gegen die Revolution in Tunesien.“ Der Deutschlandfunk interviewte zu diesem Anlass den Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tunis, die im Verdacht steht, die Nachfolge der „Operation Goldhaus“ im Dienste des BND (der deutschen CIA) angetreten zu haben.

Proteste, Barrikaden, Tränengas, Polizeigewalt, Aufrufe zum Generalstreik – Tunesien ist zu einem Land geworden, in dem es immer wieder zu sozialen und politischen Unruhen kommt. Dabei gab es einige Zeichen der Besserung: Die zunehmende Einigung der linken Opposition, eine Demonstration der Polizei, die sich nicht mehr von der Ennahda zur Drangsalierung der Bevölkerung einsetzen lassen wollte. Wer immer Belaid ermordete, wollte das zarte Pflänzchen der Demokratie in Tunis vernichten und tödlichen Hass zwischen den politischen Bewegungen säen. Es bleibt die Hoffnung, dass die Täter damit scheitern werden. Nicht nur in Deutschland ist die zweite Jasminrevolution in Tunesien zum Symbol eines demokratischen Aufbruchs der arabischen Welt geworden, auch im Zeichen einer neuen Netzkultur von Bloggern und auch von Whistleblowern wie bei Wikileaks und Hackern wie Anonymous.