Gerd R. Rueger
Aufstände erschüttern Tunesien. Seit Donnerstag demonstrierten in Tunis und anderen Städten Tausende Menschen für mehr Jobs. Nach Angaben von Medizinern wurden ca. 40 Protestierende, laut Innenministerium auch 59 Beamte verletzt, am Rande der Kundgebungen wurde ein Polizist getötet. Ministerpräsident Habib Essid brach seinen Besuch beim Weltwirtschaftsforum in Davos ab, denn für Samstagmorgen ist eine Krisensitzung anberaumt. Wie die Jasminrevolution wurden die Aufstände ausgelöst durch einen Suicid. Diesmal den Freitod eines arbeitslosen Jungakademikers in der Stadt Kasserine. So kam es in den vergangenen Tagen landesweit in vielen Städten zu Demonstrationen und Protesten, auch Plünderungen, in der südtunesischen Stadt Guebeli setzten Demonstranten eine Polizeistation in Brand.
Auslöser war der Tod des 28-jährigen Arbeitslosen Ridha Yahyaoui, vor dem Gouverneurssitz in Kasserine auf einen Strommast geklettert war, um gegen die mangelhafte Sozialpolitik und hohe Arbeitslosigkeit zu protestieren. Sein Protest betraf konkret, dass sein Name von einer Einstellungsliste für den öffentlichen Dienst gestrichen worden war. Er bekam einen Stromschlag und starb, ob dies Absicht gewesen sein könnte ist nicht völlig klar.
In der Folge der Proteste gab es bereits mehrere Dutzend Verletzte und ein Todesopfer. Die Proteste haben sich rasch ausgebreitet: 16 von 24 Gouvernements wurden erfasst, die Liste der Städte und Orte, in denen sich die Unzufriedenheit auf der Straße zeigt, wird länger. Kasserine, das eine große Rolle bei den Aufständen 2011 gespielt hat, gehört dazu, auch der geschichtsträchtige Ort Kairouan und viele hierzulande weniger bekannte Orte, die sich nicht an der wirtschaftlich besser gestellten Küste befinden.
Betroffen waren neben Kasserine unter anderem die Städte Douz, Tozeur, Mahdia, Enfidha, Kairouan, Sidi Bouzid, Gabès sowie einige Kommunen im Großraum Tunis. Auch in Sfax kam es zu 20 Festnahmen. Ein Zentrum der Proteste ist erneut die Stadt Sidi Bouzid. Dort hatte mit der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi vor fünf Jahren die Revolution begonnen, die zum Sturz des westorientierten Diktators Ben Ali führte. Jetzt haben Demonstranten erneut die Zufahrtstraßen nach Sidi Bouzid blockiert.
Nächtliche Ausgangssperre
Für die Stadt Kasserine haben die tunesischen Behörden am 19.01.2016 bis auf weiteres eine nächtliche Ausgangssperre von 18:00-05:00 Uhr verhängt. Da die Protestaktionen fortdauern, die nicht selten mit Brandanschlägen auf öffentliche Gebäude, Plünderungen und Straßenblockaden einhergehen, wurde von der deutschen Botschaft empfohlen, besondere Vorsicht walten zu lassen, Menschenansammlungen (auch z.B. im Rahmen der Freitagsgebete um die Moscheen) zu meiden und Anweisungen der Sicherheitskräfte zu folgen.
Ursache der Proteste ist die anhaltend ungerechte Verteilung des Reichtums Tunesiens, die einige Tunesier eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der Jasminrevolution fordern lässt. Nur 27 Prozent der Bewohner etwa vom besonders benachteiligten Kasserine haben Zugang zum Trinkwasserkreislauf, der Landesdurchschnitt liegt bei 56 Prozent. Die Arbeitslosenrate liegt in Kasserine bei 26,2 Prozent, der Landesdurchschnitt bei 17,6 Prozent. Die Schulabbruchsrate ist höher, der Analphabetismus, die Kindersterblichkeit, die Lebenserwartung liegt unter dem Durchschnitt.