Reblogged: Demokratur

Interviewer: Jens Wernicke

Die Eliten im Lande diskutieren bereits seit Jahren über Sinn und Unsinn, die Vor- und Nachteile der Demokratie. Die Fesseln der Demokratie werden ihnen zunehmend lästig. Wer aber sind diese „Eliten“? Wie organisieren und exekutieren sie ihre Macht? Und wie erreichen sie es, dass es so wenig Gegenwehr gegen immer weiteren Sozialabbau, Entsolidarisierung und Entdemokratisierung gibt? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit dem Autor und Journalisten Marcus Klöckner, dessen Buch „Wie Eliten Macht organisieren: Bilderberg & Co.: Lobbying, Think Tanks und Mediennetzwerke“ soeben erschien. (VSA-Verlag, Hamburg)

-Herr Klöckner, wir verdanken Ihnen nicht nur wunderbare Telepolis-Artikel zum Vertrauensverlust in die Medien und den Gründen hierfür; gerade erschien auch noch das Buch „Wie Eliten Macht organisieren: Bilderberg & Co.: Lobbying, Think Tanks und Mediennetzwerke“, dessen Mitherausgeber Sie sind. Warum dieses Buch? Was treibt Sie an?

Da gibt es mehrere Gründe. Der Aufhänger für das Buch ist, dass es in diesem Jahr genau 60 Jahre her ist, seitdem die Soziologie mit der Theorie der Machtelite bereichert wurde. Es war nämlich im Jahr 1956, als der Soziologe Charles Wright Mills ein Buch mit dem bezeichnenden Titel „The Power Elite“, das in Deutschland zu Beginn der 60er Jahre unter dem Titel „Die amerikanische Machtelite“ veröffentlicht wurde, herausbrachte.

In dem Buch hat Mills etwas getan, was ein guter Soziologe geradezu tun muss und was leider ziemlich selten geworden ist: Er hat ganz grundlegende „Wahrheiten“ kritisch hinterfragt und ist nicht davor zurückgeschreckt, Antworten zu geben, die feste an dem politischen Wirklichkeitsverständnis von so manchem Zeitgenossen gerüttelt haben.

Sein besonderes Interesse galt dabei der Frage, ob die demokratischen Strukturen in den USA auch tatsächlich in der Praxis, also faktisch funktionieren, oder ob es nicht vielmehr so ist, dass es zwar eine demokratische Oberfläche gibt, sich hinter dieser aber längst Netzwerke gebildet haben, denen es gelingt, den demokratischen Gedanken immer weiter zu unterlaufen.

Das Ergebnis von Mills‘ Forschung war die bereits erwähnte Machtelitentheorie. Demnach geht Mills davon aus, dass es Akteure gibt, die unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Gruppen angehören und zusammen ein komplexes Gebilde formen.

Mills erkannte: Diese Akteure, die aufgrund ihres Status und ihrer Vernetzung eine Machtelite bilden, sind in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die sich mindestens auf nationaler Ebene bewegen. Anders gesagt: Der Soziologe hat herausgearbeitet, dass es in der amerikanischen Gesellschaft Akteure gibt, die sich quasi von den „normalen“ Reichen und Mächtigen noch weiter abgesetzt haben und über eine enorme Struktursetzungsmacht verfügen.

Hans Jürgen Krysmanski: Machtstrukturen

Da die Machtstrukturforschung insbesondere innerhalb der Soziologie in Deutschland eher am Rande vegetiert, haben wir uns entschlossen, dieses Buch herauszugeben: Eine kritische Machtstrukturforschung ist für eine Demokratie sehr wichtig, da sie in der Lage ist, Bruchstellen im demokratischen Gefüge aufzuzeigen und die Ursachen für diese zu benennen. Wenn Sie so wollen, ist der Antrieb für das Buch also ein sehr demokratischer.

-Was verstehen Sie denn unter „Eliten“ und warum ist ein Blick auf diese und ihre Macht wichtig in einer parlamentarischen Demokratie?

In der Elitenforschung gibt es eine ganze Reihe von Ansätzen, mit denen sich das Phänomen von Eliten erfassen lässt. Ohne darauf jetzt näher einzugehen: Das Elitesein dreht sich vor allem um die Pole Einfluss und Position. Wer in den zentralen gesellschaftlichen Teilbereichen wie zum Beispiel Politik, Wirtschaft, Militär usw. eine besonders hervorgehobene Position hat, also „weit oben“ steht, gehört in gewisser Weise zur Elite oder, wenn Sie so wollen, zur „Spitze“ eines Landes. Und, je nach Positionierung, damit geht auch die Möglichkeit einher, Einfluss auszuüben – und zwar Einfluss, der größer und weitreichender ist, als es denjenigen Menschen möglich ist, die weiter unten stehen.

Um auf den Punkt zu kommen: Wenn jemand Einfluss ausübt, ist es wichtig, genau hinzuschauen und zu fragen: Welchen Einfluss übt er oder sie aus? Wie sieht dieser aus? Was sind seine oder ihre Motivationslagen? Warum lässt diese Person ihren Einfluss in die eine, aber nicht in die andere Richtung wirken, um es einfach auszudrücken? Und mit diesen Gedanken kommen wir dann auch zu der Frage, warum eine demokratische Gesellschaft den analytischen Blick auf ihre Eliten nicht scheuen sollte. Wer nämlich verstehen will, warum Politik so ausfällt, wie sie dies tut, muss sich auch mit denen auseinandersetzen, die direkt oder indirekt im Land die Weichen stellen, die mächtiger als andere sind.

Stellen Sie sich nur einmal vor, was wäre, wenn plötzlich über Nacht in den Parlamenten und an den anderen Schaltstellen der Macht nur die Armen und Ärmsten sitzen würden. Hätten wir dann nicht schlagartig eine andere – ich will erstmal gar nicht sagen: eine „bessere“, aber eben doch eine andere – Politik? Von daher: Wer oben steht, wer in der Lage ist, weitreichende Entscheidungen zu treffen, die die Bürger betreffen, das ist von zentraler Bedeutung für ein Land und seine Gesellschaft.

-Wie kommt es denn, dass die in den Parlamenten sitzenden Politiker kaum je die Interesse der Armen vertreten, obwohl es sich um einen bedeutenden Bevölkerungsanteil handelt?

Dafür gibt es viele Ursachen. Grundlegend scheint mir: Der Umgang mit den Armen in unserem Land ist oftmals gekennzeichnet von offener oder heimlicher Verachtung und Ausgrenzung; und das zieht sich von da eben auch bis in die Parlamente. Ich möchte gar nicht wissen, wie weit die klassistischen Ressentiments gegenüber den Prekären in unserer Gesellschaft bei so manchem Abgeordneten gehen.

Der im Parlament vorhandene Blick auf die Armen und das Phänomen der Armut lässt es insofern erst gar nicht zu, dass politische Mehrheiten entstehen, die tatsächlich zu Entscheidungen führen, die den unteren Schichten, den Schwachen, den Armen, zugutekommen: Grundlegende Strukturveränderungen, die auch einmal den Armen richtig in die Karten spielen würden, lassen sich mit einem Parlament, dessen Mitglieder in ihren Entscheidungen oft genug ein Verhalten erkennen lassen, das von alles anderem als Sympathie für die Armen geprägt ist, einfach nicht durchsetzen.

Eine Politik, die den Armen in unserem Land richtig hilft, ist einfach „nicht sexy“. Mit solch einer Politik würden viele Parlamentarier auf Ablehnung bei genau den Schichten und Klassen in der Gesellschaft stoßen, die ihnen ihre Stimme geben und von denen natürlich auch die größten Spenden und maßgeblichste politische Unterstützung zu erwarten sind. Das ist bitter, aber so ist es. Der Kreis zwischen Teilen der Bevölkerung, die den Armen am liebsten noch weniger zukommen lassen möchte, und einer Politik, die Veränderungen herbeiführen könnte, es aber nicht will, schließt sich.

-Ist das womöglich einer der Gründe für die vielzitierte „Politikverdrossenheit“: dass die „normalen Menschen“ längst bemerkt haben, dass es „denen da oben“ ohnehin nicht um sie geht? Will sagen: dass es im neoliberalen Parteienkarussell fast schon egal ist, wen man wählt; die große Politik unterstützt ja doch stets die Reichen und Mächtigen auf Kosten der anderen 99 Prozent?

Über die sogenannte Politikverdrossenheit wurde ja schon viel diskutiert. Wir erwähnen den Begriff in unserem Buch auch, aber ich muss sagen, dass ich ihn nicht sonderlich mag, weil er ein gesellschaftliches Phänomen zwar erkennt, es aber falsch benennt.

Wenn wir von einer „Verdrossenheit“ reden, dann heißt das, dass Menschen, Bürger und letztlich Wähler einen Mangel an Interesse an der Politik haben. Aber das sehe ich nicht so. Zu beobachten ist vielmehr, dass es sehr wohl ein Interesse an der Politik gibt, aber viele Menschen erkennen, dass zentrale politische Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen werden und Politik nicht für, sondern gegen sie gemacht wird.

Mein Eindruck: Ein nicht geringer Teil der Bürger beobachtet die Politik sehr genau, diskutiert über sie, macht sich auch seine Gedanken. Aber gleichzeitig weigern diese Menschen sich, sich in den vorgegebenen politischen Strukturen einzubringen, weil sie realistisch abschätzen können: Ihre Stimme ist dort im Hinblick auf ihre politischen Interessen, ihre Wünsche und Hoffnungen nahezu bedeutungslos.

Reden Sie nur einmal in Ruhe mit den Armen und Ärmsten in unserem Land. Man läge sehr falsch, wenn man diesen Menschen zuschreiben würde, dass sie sich nicht für Politik interessieren. Sie wissen nur genau: Wen auch immer sie wählen, auf absehbare Zeit wird es nicht zu einer Politik kommen, die sich ihrer annimmt.

 

Wodurch ist die Macht der Eliten über uns alle und über die gesellschaftlich vorherrschende Ideologie denn so immens groß?

Eine einfache Antwort lautet: Die Strukturen in unserer Gesellschaft sind von vorneherein so ausgelegt, dass sie diejenigen, die „oben“ stehen, begünstigen und diejenigen, die unten stehen, benachteiligen. Das zeigt sich im Kleinen wie im Großen, allerorts.

Der Handlungsradius einer alleinerziehenden Mutter, die von Sozialhilfe lebt, ist beispielsweise um ein Vielfaches geringer, als jener einer Familie aus der Oberschicht. Die einen verfügen über reichlich ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, wie der französische Soziologe Bourdieu das einmal gut analysiert und aufgeschlüsselt hat, die anderen leben von der Hand in den Mund und verfügen weder über Geld noch über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, öffentliche Diskurse zu steuern.

Man muss sich einfach einmal vorstellen, wie umfangreich die verschiedenen Kapitalarten bei den Eliten und Machteliten sind. Dann wird einem schlagartig klar, über welchen Handlungsradius der Präsident der Vereinigten Staaten, der Direktor der NSA, der Chef von Google sowie die Multimillionäre und Multimilliardäre mit ihren großen Konzernen verfügen. Und nun stelle man sich vor, was passiert, wenn auch nur einige von ihnen ihre Kräfte bündeln und ein Projekt, von dem sie überzeugt sind, gemeinsam anstoßen.

Hinter solch einem „Anstoß“ steht eine geballte Wucht – an wie gesagt: Kontakten, Geld, Einfluss, der Fähigkeit, das öffentliche Bewusstsein zu beeinflussen und Diskurse zu steuern, Themen zu setzen etc. -, dass er unglaublich viel in Bewegung zu setzen und verändern vermag. Und, ja: Auch viel mehr Wucht als es der Fall wäre, wenn selbst eine große Anzahl von Armen und denen, die für diese ihre Stimmen erheben, etwas in Bewegung setzen wollten.

Alles in allem ist die Macht der Eliten, die sich in unserer Gesellschaft, in unserem System immer wieder bemerkbar macht, so allumfassend, dass sich den Strukturen und den Ideologien, die sie hervorbringt, nichts wirklich entziehen kann. Stellen Sie sich einfach ein Fußballspiel vor zwischen den Spielern eines Spitzenfußballclubs und elf durchschnittlichen Menschen, also Männer, Frauen, Kinder, die allesamt vielleicht bestenfalls einmal an einen Ball getreten haben. Wer wird dieses Spiel dominieren? Wer wird die entscheidenden Akzente setzen? Wer wird als Gewinner vom Platz gehen? Wobei das noch ein sehr freundliches Bild ist…

 

Da haben Sie recht. Mir käme im Sinne Warren Buffets, der von einem „Krieg“ der Reichen gegen die Armen spricht, auch eher eine bellizistische Metapher in den Sinn. Etwa ein Kampf um sehr wohl auch Leben oder Tod, in dem die einen über Massenvernichtungswaffen, Panzer und Drohnen verfügen und die anderen über Stöcke und Steine… Aber gut; das ist sicher schon sehr schwarzmalerisch. – Können Sie denn sagen, wie es diese „Eliten“, diese Wenigen immer wieder schaffen, ihre Partikular- und Profitinteressen als „Gemeinwohl“ auszugeben, unabhängig davon, wie viele Menschen hierdurch Schaden erleiden? Vielleicht haben Sie ja ein oder zwei konkrete Beispiele für derlei „Machtdurchsetzungen“ parat…

Nehmen wir doch einfach die sozialpolitischen „Veränderungen“, welche die SPD und die Grünen unter der Führung von Gerhard Schröder durchgezogen haben. Das, was da vonseiten der Eliten als „Reformen“ bezeichnet wurde, diese brutalen Einschnitte in den Sozialstaat und den Arbeitsmarkt, zeitigt seine verheerenden Wirkungen ja bis heute; sie haben das gesellschaftliche Gefüge nachhaltig und schwer in Mitleidenschaft gezogen.

-Etwas, worauf Albrecht Müller in „Die Reformlüge“ ja bereits frühzeitig hingewiesen hat…

So ist es. An der Art und Weise, wie der Begriff „Reformen“ in den vergangenen Jahren in der Politik verwendet wurde, ist deutlich zu erkennen, dass die Macht der Elite bis tief in die Sprache hinein vordringen kann.

Wer von den „normalen“ Bürgern verfügt über die Möglichkeit, einen so gewichtigen und positiv besetzten Begriff wie den der Reformen aufzugreifen und darunter eine Politik zu verkaufen, die das genaue Gegenteil von dem ist, was der Begriff eigentlich inhaltlich transportiert? Herrschaft bedient sich der Sprache. Das war schon immer so.

In George Orwells „1984“ wird deutlich, dass Herrschaft so weit in die Sprache eindringen kann, dass sie, sozusagen, aus Krieg Frieden werden lässt. Das ist ein extremes Beispiel, aber außerhalb der Orwellschen Dystopie bestimmen die Mächtigen durch Sprache, durch die Kraft der Benennung, über die sie aufgrund ihrer Position und ihres Einflusses verfügen, wie „die Dinge“ zu sehen sind. Es gab eine Zeit, da bedeutete „Reformen“ Demokratisierung, Versuche, die Lebensbedingungen der Menschen im Land zu verbessern, aus etwas, das alt und schlecht war, etwas Neues, tatsächlich für viele Menschen Besseres zu machen.

Und das ist auch das, was die Menschen normalerweise unter Reformen verstehen. Auf diese positiven Erwartungen, die in den Köpfen und Herzen der Bürger waren, haben die Eliten gesetzt. Die neoliberalen Strategen wussten, wie wichtig der Reformbegriff war, um eine Politik mit weitreichenden negativen Folgen durchziehen zu können, die sich bis in die Fundamente unseres Staates fressen würde.

Wenn man die politische Situation heute im Land sieht, wenn man sieht, wie die große Volkspartei SPD in Umfragen Mühe hat, die 20 Prozent zu halten, wenn man sieht, wie sich plötzlich „Außenseiterparteien“ formieren und es quasi aus dem Stand in die Parlamente schaffen, dann hat das auch sehr viel mit einer völlig fehlgeleiteten Politik der Eliten zu tun, die seit vielen Jahren ihre Wirkung entfaltet.

-In der Psychologie gibt diesbezüglich ja beispielsweise das Konzept der sogenannten „Täter-Opfer-Umkehr“, das heißt, die Opfer werden zu Tätern und die Täter zu Opfern erklärt, es wird mit Schuldgefühlen hantiert, und Tatsachen in ihr Gegenteil verkehrt…

Das erleben wir doch auf der gesellschaftspolitischen Ebene genauso. Die, die erkennen, was die verfehlte Sozial- und Arbeitsmarktpolitik anrichtet und nicht mit in den Chor der „Reformer“ einstimmen, werden als „Reformverweigerer“ oder als „Blockierer“ bezeichnet. Der herrschende Diskurs versucht so, die kritischen Stimmen auszuschließen und ins Abseits zu stellen.

-Aber geschieht nicht Ähnliches auch durch die Hartz IV-Ideologie und viele weitere Mythen, Legenden und Verdrehungen im öffentlichen Diskurs? Nimmt man nicht beispielsweise diejenigen, die nicht mehr gebraucht werden, nicht mehr verwertbar, weil etwa krank oder anderes sind, und verunglimpft sie als „Sozialschmarotzer“, „faul“, „Simulanten“, „Leistungsverweigerer“ und vieles mehr, um sie hierdurch als amoralische Täter an der Gesellschaft abstempeln zu können, was schließlich Sanktionen gegen sie legitimiert? Hier erfolgt doch auch jene „Benennung“, die sie erwähnt haben, oder?

Ja natürlich. Die, die nichts haben, die arm sind, die unten stehen, die nicht so funktionieren können, wie so manches „neoliberale Subjekt“, das oben steht, es erwartet, werden auch durch Sprache abgewertet und stigmatisiert.

Den meisten der politischen Gestalter fehlt doch völlig der Blick von unten. Sie haben keine Ahnung von den Kämpfen, die die Armen Tag für Tag bestreiten müssen. Sie begreifen nicht und wollen auch nicht begreifen, dass das als „unmöglich“ klassifizierte Verhalten von so manchem Armen oft auf Lebensschicksale und Lebenssituationen zurückzuführen ist, die niemand derjenigen, die sich den Armen gegenüber als Richter aufspielen, selbst je erleben wöllte.

Die neoliberale Politik jedenfalls, die ihre Entscheidungen nicht am Wohl der Menschen, sondern am Wohl des Kapitals ausrichtet, konnte überhaupt nur deshalb so erfolgreich sein, weil es tonangebenden Eliten aus unterschiedlichen Bereichen gelang, weite Teile der Gesellschaft mittels solcher „Denkgifte“, die uns unsere Mitbürger zu Feinden erklären, von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen.

Und diese Überzeugungsarbeit war deshalb möglich, weil diese Eliten auf eine ausgefeilte Infrastruktur zurückgreifen konnten: Think Tanks, Lobbyorganisationen, Stiftungen, private Medien, Netzwerke etc. pp., durch die die Elite öffentlichkeitswirksam ihre Vorstellungen und Vorhaben kommunizieren konnte.

Der Soziologe und Mitherausgeber Ihres Buches, Michael Walter, hat dazu ja eine geistreiche Analyse verfasst.

Ja, er hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie die neoliberalen Ideen unter Schröder in der deutschen Öffentlichkeit etabliert wurde. Über beispielsweise den Think Tank Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, den Bürgerkonvent und den „Partner für Innovation“ liefen dabei massive „publizistische Interventionen“.

Walter stellt fest, dass die Eliten sehr geschickt ihre eigenen, ideologisch geprägten Vorstellungen universalisiert und versucht haben, diese der Bevölkerung quasi überzustülpen.

Über eine Mischung aus Politmarketing, Werbung, PR, wissenschaftlichen Analysen und Publikationen in den Medien, wurde vordergründig versucht, ein „positives Klima“ in der Bevölkerung zu schaffen, in dem man sich scheinbar unverfänglichen, aber in Wirklichkeit politisch hochgradig aufgeladenen Begriffen wie etwa dem der Eigenverantwortung bediente, um der Bevölkerung hinterrücks den neoliberalen Kraftschlag schmackhaft zu machen. So wurde ein Bild in die Köpfe der Menschen gepflanzt, wonach jeder seines eigenen Glückes Schmied sei und alles schaffen könne – so er sich nur wirklich aufopferungsvoll bemüht.

Die Botschaft ist doch aber im Prinzip nicht falsch.

Nein, natürlich nicht. Das ist, im Prinzip, eine positive Botschaft. Und sie ist tatsächlich nicht per se falsch, nein. Sie ist aber auch nicht richtig. Man könnte daher sagen: Wir haben es mit einer klug verkauften Halbwahrheit zu tun. Und Halbwahrheiten sind bekanntlich gefährlich.

Nichts spricht dagegen, den Menschen positive Botschaften zu übersenden, um ihnen dabei zu helfen, die ein oder andere Limitierung, die im eigenen Denken verwurzelt sein mag, selbst aufzuheben. Aber wenn man den Menschen zugleich verschweigt, dass viele der Begrenzungen, die sie in ihrem Leben erfahren, eben mit genau jener Politik zu tun haben, die ihnen mit lauwarmen Worten versucht, weiß zu machen, ihr Scheitern und ihre Misserfolge gingen alleine auf ihr eigenes Konto zurück, dann haben wir es mit einem bösartigen politischen Doppelspiel zu tun.

Dem Bürger sagt man: Es ist Dein Leben, mach etwas daraus! Gleichzeitig verändert man aber die Rahmenbedingungen, innerhalb derer er etwas machen kann, soweit, dass dies seine eh bereits sehr begrenzten Möglichkeiten noch weiter beschränkt.

Und Teile unserer kulturellen Elite – also Schauspieler, Sportler und andere Berühmtheiten – sind dann dieser Politik auch noch zur Seite gesprungen und haben als sogenannte Testimonials in entsprechenden neoliberalen Werbespots fungiert – wobei ich mich frage, ob diese Prominenten überhaupt verstanden haben, welcher Politik sie da Vorschub leisten.

Man muss sich nur nochmal den „Wohlfühlspot“ der Du-bist-Deutschland-Kampagne ansehen: Oliver Pocher steht da hinter einem Haus auf dem Grundstück, vor ihm steht ein etwas beleibter Mann und neben den beiden ein Grill. Pocher sagt dann zu dem Mann, der offensichtlich das männliche Familienoberhaupt darstellt:

„Unrealistisch, sagst Du? Und warum feuerst Du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn Deine Stimme so unwichtig ist?“

Walter hat analysiert und herausgearbeitet, dass Pocher hier zu einem „zu aktivierenden Subjekt“ spricht, „dessen pessimistische Grundhaltung (durch den „Aktivator“ Pocher) zu ‚reformieren‘“ sei. Pocher, so interpretiert Walter weiter, übernimmt dabei die Figur des Lehrers, der „durch Blick und Gestik einen belehrenden, fordernden“ Part einnimmt und durch die Grillzange, die er in der Hand hält, auch noch „latent aggressiv“ auftritt. Walter kommt zu dem Schluss, dass die Szene dazu dient, den Rezipienten, also „uns“, regelrecht zu erziehen, zu manipulieren also. Hinter all dem verbirgt sich die neoliberale Botschaft: „Der Sozialstaat wird sich zurückziehen. Bürger, schaut, wo ihr bleibt!“ Und das wird auch noch als “zum Wohl des Landes“ inszeniert.

Und wer sind diese Leute, diese Eliten, die derlei „Gehirnwäsche“ verbreiten, denn nun genau?

Wenn Sie Namen von Personen möchten, die man zu den Machteliten zählen darf, dann schauen Sie sich einfach einmal die Teilnehmerliste der Bilderberg-Gruppe an. Da kommen einige Angehörige der Machtelite zusammen.

Und was genau geschieht auf so einer „Bilderberg-Konferenz“?

Die Bilderberg-Konferenzen, aber auch andere, ähnliche gelagerte Elite-Treffen und Veranstaltungen, verweisen auf einen vorgelagerten politischen Formationsprozess der Mächtigen.

Das heißt konkret?

Ich will es mal so formulieren: Einflussreiche Personen bewegen sich in Strukturen, die neben den klassischen, bekannten und für jedermann einsehbaren demokratischen Strukturen bestehen. Diese Strukturen sind politische Strukturen. Sie existieren, um direkt oder indirekt Einfluss auf die Politik zu nehmen. Das große Problem ist: Sie sind völlig intransparent, sie funktionieren wie eine geschlossene Gesellschaft.

Um es zuzuspitzen: Der politisch klug denkende Mechaniker von der kleinen Werkstatt an der Ecke, der vielleicht auch ein paar Gedanken im Hinblick auf die Gestaltung der Welt an jenen Orten vorzubringen hätte, wo Konsense geschmiedet und Weichen gestellt werden, bleibt der Zugang verwehrt. Die Elite bzw. die Machtelite möchte eben unter sich bleiben. Warum das so ist, kann man sich denken: Meinungen, Ansichten und Interessen, die zu weit weg von denen der Weltenlenker sind, würden wie ein Bremsklotz bei der machtelitären Konsensfindung wirken.

Aber noch etwas Anderes sollte erwähnt werden: Wenn hier davon die Rede ist, dass es „Konsensschmieden der Mächtigen“ gibt, soll das nicht heißen, dass die existierenden demokratischen Strukturen keinerlei Bedeutung mehr hätten oder dass quasi eine Art Geheime Weltregierung die Geschicke der Welt aus dem Verborgenen lenkt. Diesen Eindruck könnte man bei einer oberflächlichen Betrachtung der Verhältnisse vielleicht erhalten, tatsächlich ist alles aber viel komplexer.

Auch dürfen wir uns, wenn wir von „der“ Machtelite reden, nicht der Vorstellung hingeben, dass auf der Welt eine homogene Machtelite existiere, deren Mitglieder alle genau gleich denken und alle genau die gleichen Ziele verfolgen würden: Auch wenn diejenigen, die beispielsweise bei einer Bilderberg-Konferenz zusammenkommen, sich sicherlich im Hinblick auf ihre Sozialisation, auf ihre Kapitalstruktur, auf ihre Stellung in der Gesellschaft bzw. ihre Klassenzugehörigkeit und natürlich ihre Akkumulations- respektive Profitinteressen sehr ähnlich sind, so gibt es dennoch durchaus auch Meinungsunterschiede unter ihnen, die sich allerdings in einem sehr viel engeren Korridor als das Meinungsbild in der Gesamtbevölkerung bewegen.

Kein Wunder auch, denken „normale Menschen“ ja nicht in den Sach- und Strukturzwängen von Kapitalverwertung und -akkumulation, wollen nicht „noch reicher“ werden, diesen und jenen Multi im nächsten Jahr übernehmen oder anderes, sondern wollen einfach ein vernünftiges und auskömmliches Leben haben, über die Runden kommen, so gut es eben geht.

Werden solche undemokratischen „Klüngelrunden“ von Medien und Öffentlichkeit denn beobachtet und kritisiert? Ich meine: Das täte offensichtlich ja dringend not…

Die Medien haben meines Erachtens diesbezüglich eine ganz schlechte Arbeit geleistet: Ein Journalismus, der Mediennutzer über die mehr oder weniger verborgenen Pfade der Mächtigen informiert, ein Journalismus, der in diese Gruppen und Organisationen reinleuchtet, sie beleuchtet, ihre Arbeit, ihr Wirken, ihren Handlungsradius und ihren Einfluss kritisch hinterfragt, existiert in der Breite der Berichterstattung nicht.

Gerade auch im Hinblick auf den demokratischen Prozess ist es ein großes Problem, dass die Presse den politischen Formierungsprozess der Machtelite geradezu ausblendet. Damit versagt sie darin, aufzuzeigen, wie Weltsichten, die vorherrschen oder eben dabei sind, sich zu etablieren, zustande kommen.

Die Berichterstattung erweckt stattdessen immer wieder den Eindruck, dass die jeweils gerade alles umgreifende Ideologie quasi gottgegeben und vom Himmel gefallen sei. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der sich etwa intensiv mit dem Neoliberalismus und der Globalisierung auseinandergesetzt hat, sagte einmal:

„Der Thatcherismus stammt nicht etwa von Frau Thatcher, er war seit langer Zeit von Intellektuellengruppen vorbereitet worden, denen die großen Zeitungen oft eine breite Öffentlichkeit verschafft haben.“

Bourdieu betonte auch, wie wichtig es ist, aufzuzeigen, wie „Weltsichten erzeugt, verbreitet und eingetrichtert werden.“ Und er betonte, wie wichtig es ist, auf die „Einflüsterungen“, die aus den Think Tanks und „ihrer, von den Mächtigen handverlesenen Experten“ kommen, zu achten.

Doch genau das haben Medien nicht gemacht und unterlassen es nach wie vor. Im Gegenteil: Nicht nur, dass sie diesen machtelitären Part unserer politischen Wirklichkeit den Lesern und Zuschauern nicht vor Augen führen, einige sind sogar selbst Teil des machtelitären Umfelds und werden zum handelnden Akteur darin.

Wenn Journalisten, um nur mal ein Beispiel zu nennen, etwa über lange Zeit im Lenkungsausschuss der Bilderberg-Gruppe gesessen haben und selbst deutsche Politiker in den exklusiven Zirkel eingeladen haben, zugleich aber nicht über diese Zusammenkunft berichten, dann ist das aus journalistischer Sicht untragbar.

Immerhin scheinen die Medien mittlerweile aber erkannt zu haben, dass die Bilderberg-Konferenzen ein Thema sind, das sie auf ihrem Radar haben sollten. Über die diesjährige Bilderberg-Konferenz, die in Dresden stattfinden wird, berichten die daher schon jetzt, also frühzeitig. 60 Jahre hat es gedauert, aber immerhin. Besser spät als nie. Aber ob auch die großen Nachrichtenformate bei ARD und ZDF über die Konferenz berichten werden? Ich zweifle daran.

Warum? Was sollte sie daran hindern?

Ich gehe davon aus, dass die Einstellung der Redaktionsverantwortlichen zu dem Thema bisher dazu geführt hat, nicht über die Konferenzen zu berichten. Wahrscheinlich wird die Bilderberg-Konferenz einfach als etwas ohne Berichterstattungswert betrachtet. Schließlich wird in Dresden ja auch nur die Weltelite zusammenkommen, um für drei Tage hinter verschlossenen Türen über zentrale Themen zu sprechen, die uns alle angehen. Aufgabe der verantwortlichen Redakteure ist es eben, Ereignisse und Informationen zu gewichten und dann zu entscheiden, ob eine nachrichtliche Relevanz gegeben ist.

Wenn ich, allgemein gesprochen, an die ein oder andere Berichterstattung im Zusammenhang mit Unglücksfällen, Katastrophen oder zu Themen, die im Bereich des Boulevards liegen, denke, da war keine Anstrengung zu absurd, um einen Mangel an Informationen irgendwie auszufüllen. Beim Germanwings-Absturz lässt man Teenager vor der Kamera erzählen, wie sie sich so fühlen, als sie erfahren haben, dass Mitschüler gerade mit dem Flugzeug an einer Felswand zerschellt sind, beim Kachelmann-Prozess hat ein dpa-Journalist sogar versucht, Richter abzuhören.

So ist das eben oft: Dort, wo es um Emotionen, um Klatsch und Tratsch geht, wird jeder Stein dreimal umgedreht, um ja nicht ein Zipfelchen an Informationen zu übersehen; wenn aber 140 Gestalter der Welt sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit treffen, dann respektieren Qualitätsmedien eben den „privaten Charakter“ der Veranstaltung.

Es gibt ja Journalisten, die sich mit derlei Elitenetzwerken gerne gut stellen wollen und wo das möglich ist, schließlich sogar assoziieren. Der Medienkritiker Uwe Krüger spricht diesbezüglich von Alpha-Journalisten bzw. Alpha-Journalismus und sieht hierin eine große Gefahr… Der Korridor der veröffentlichten Meinung werde auch wegen diesen aktuell immer geringer und sei zurzeit bereits so eng wie selten zuvor, sagte er etwa im Interview mit mir.

Bourdieu hat einmal gesagt, dass es in der Politik um die Durchsetzung von Wahrnehmungskategorien geht. Und wie werden solche für die Politik wichtige Wahrnehmungskategorien in unsere Gesellschaft getragen? Natürlich auch durch die Medien.

Wenn Machteliten also der Ansicht sind, dass „wir“ weniger Sozialstaat brauchen, dass Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung die Zauberworte sind, die „die Gesellschaft“ voranbringen, dann müssen diese Vorstellungen und Konzepte auch nach außen transportiert werden, sie müssen irgendwie bei der Bevölkerung und bei anderen systemrelevanten Eliten ankommen.

Hierbei kommt dann die Berichterstattung ins Spiel. Von daher: Es hat schon seinen Grund, dass nicht nur Journalisten die Nähe zu den Mächtigen, sondern auch die Mächtigen eine gewisse Nähe zu Journalisten suchen. Die Folgen hiervon hat unter anderem Uwe Krüger sehr pointiert analysiert.

-Was können wir tun gegen manipulierte Journalisten und Elitenmacht?

Ich würde nicht sagen, dass wir es mit „manipulierten Journalisten“ zu tun haben. Oder anders gesagt: Gewiss mag es, wie eben in allen menschlichen Beziehungen, so sein, dass sich auch einmal Journalisten bei ihren Beziehungen zu hochrangigen Personen manipulieren oder instrumentalisieren lassen.

Aber allgemein gesprochen gehe ich nicht davon aus, dass Journalisten, die sich in diesen Kreisen bewegen, „manipuliert“ sind.

Sondern? Was sind sie denn dann?

Uwe Krüger hat in seiner Studie angesprochen, dass bestimmte Journalisten wahrscheinlich eben deshalb in diesen Netzwerken der Mächtigen sind, weil sie den dort vorherrschenden Sichtweisen im Wesentlichen sowieso zustimmen. Da gilt also eher ein „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Und als Soziologe würde ich die darüberhinausgehenden Prozesse eher als „Anpassung“ denn als „Manipulation“ beschreiben. Die Leute werden ja nicht belogen und betrogen, sondern umworben, umgarnt, belohnt oder -straft.

Aber nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen: Dass Spitzenjournalisten in diesen Netzwerken unterwegs sind und auch selbst eine politische Meinung haben, die jener der Eliten ähnelt, ist nicht unbedingt das große Problem.

Nicht? Was ist denn dann des sprichwörtlichen Pudels Kern?

Problematisch wird meines Erachtens die Nähe zur Elite für den Journalismus und die Gesellschaft dann, wenn sich das Meinungsspektrum in den großen, tonangebenden Medien bei bestimmten gewichtigen Themen so stark verengt, dass, um es zuzuspitzen, nur noch die Sicht der Mächtigen überhaupt Eingang in die Berichterstattung findet.

Was ja bezüglich Russland zurzeit oder auch der vermeintlichen Eigenverantwortung der Armen für ihr Elend bereits seit einigen Jahren deutlich der Fall zu sein scheint…

Genau. Die großen Medien bilden zu den zentralen gesellschaftlichen und politischen Themen unserer Zeit längst das Meinungsgewicht nicht mehr so ab, wie dieses in der Bevölkerung vorhanden ist. Stattdessen ist ein Journalismus zu beobachten, der immer wieder die Sichtweisen der Herrschenden, der Mächtigen transportiert und dadurch die Realität verzerrt und, wenn Sie so wollen, ebenso „erzieherisch“ fungiert, wie dies der „Du bist Deutschland!“-Spot, den ich bereits erwähnt habe, tat.

Der Knackpunkt ist: Journalisten, die in Elitezirkel eingebunden sind, sind nicht irgendwelche Medienschaffenden aus der vierten oder fünften Reihe. Es sind in der Regel eben die Alphajournalisten, also jene, die die großen Leitartikel schreiben. Sie haben eine herausragende Stellung innerhalb des journalistischen Feldes. Das, was sie sagen, schreiben, kommentieren, wie sie sich entscheiden, was sie tun oder lassen, hat eine ganz andere Wirkung als das, was ein Journalist schreibt, der für ein Nischenmedium tätig ist.

Wenn nun eine Vielzahl derjenigen, die die Alphajournalisten umgeben bzw. direkt hinter ihnen stehen, im Wesentlichen ebenfalls die Sichtweise der Tonangebenden teilt, dann verengt sich die Perspektive. Impulse, um es bildlich zu formulieren, von vorne, von hinten, von unten, von der Seite gibt es keine mehr, weil sich keiner mehr umdreht, nach unten, nach hinten etc. schaut, da alle davon ausgehen, ohnehin bereits die richtige Perspektive eingenommen zu haben. So entsteht ein elitärer Einheitsjournalismus, der für viele Mediennutzer nicht mehr hinnehmbar ist.

Und was wäre hiergegen zu tun? Was raten Sie?

Wichtig ist, die Problematik zu erkennen und transparent zu machen. Das, was wir derzeit sehen, nämlich die Formierung vieler alternativer Formate im Internet, also ein Journalismus, der außerhalb der großen Medien heranwächst, ist dabei von zentraler Bedeutung, um Schieflagen in der Berichterstattung entgegenzutreten. Die Meinungsgegengewichte sind dann eben nicht in den sogenannten Leitmedien zu finden, sondern bei dem kleinen Internetmagazin, der alternativen Nachrichtenseite, auf diesem und jenen Blog usw. Oder eben – auch – auf den NachDenkSeiten, ja.

Allerdings: Optimal ist auch das nicht. Die großen Medien sind aufgrund ihrer Ressourcen und ihrer Reichweite kaum zu ersetzen; der Widerspruch der Alternativen ist daher stets in Gefahr, ohnmächtig zu verhallen. Zu einer wirklichen Veränderung wird es daher nur kommen, wenn die Zusammensetzung des journalistischen Feldes als solchem wieder heterogener wird.

Anders gesagt: Die großen Medien würden den Mediennutzern und so eben auch sich selbst einen großen Gefallen tun, wenn sie dafür sorgten, dass sich das journalistische Feld in seiner Zusammensetzung öffnet. Alle Klassen und Schichten müssen vertreten sein, in der Redaktionskonferenz sollten neben dem Hochschulabsolventen, der mehrere Semester im Ausland verbracht und aus dem hochkulturellen Milieu stammt, genauso der talentierte Blogger sitzen können, der vielleicht einen ganz anderen Lebensweg aufweist, aber auch das Zeug zum Journalisten hat und nochmal einen ganz eigenen Blick auf die Verhältnisse wirft.

Doch genau danach sieht die Entwicklung gerade nicht aus. In den großen Häusern wird vielmehr aktuell genau jener Nachwuchs rekrutiert, von dem erwartet wird, dass er in etwa so auf die Welt schaut, wie es diejenigen tun, die ohnehin bereits in den Redaktionen sitzen.

Ich erinnere an der Stelle an ein Interview, das der Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, Stefan Kornelius, im Jahr 2014 dem Medienmagazin ZAPP gegeben hat. Darin sagt er in Sachen journalistischem Nachwuchs sehr bemerkenswerte Sätze, die es verdienen, hervorgehoben zu werden:

„Aber im Gegenteil, es ist ja sogar großartig: Wir haben es mit einer Generation zu tun, die jetzt in den Journalismus kommt, die so international ist wie keine zuvor. Jeder Volontär bei uns hat zwei, drei Jahre Auslandserfahrung in den noch so exotischsten Ländern hinter sich, spricht Sprachen, das ist wirklich toll und bemerkenswert. Es gibt die komplette Erasmus-Generation, die rumläuft, die ist offen und versteht, wie die Welt tickt. Also eigentlich müsste es ein leichtes Spiel sein, aber das darf man sich nicht durch die Verrückten verderben lassen.“

Hier ist nicht der Platz, um die soziologisch-medienwissenschaftliche Dimension dieser Äußerungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen, aber auch ohne viel zu analysieren, ist zu erkennen, dass der verengte Blick, der den großen Medien immer wieder von Mediennutzern vorgeworfen wird, bereits in der DNA eben jener Medien angelegt ist. Wie sollen die großen Medien die Vielfalt der Betrachtungsweisen, wie sie in der Gesellschaft vorhanden sind, erfassen und in ihrer Berichterstattung widerspiegeln, wenn die personelle Zusammensetzung dieser Medien das genaue Gegenteil von gesellschaftlicher Vielfalt ist?

b1954rev

1.Bilderberger-Konferenz 1954

-Eine letzte Frage noch… Diese „Macht der Wenigen über die Vielen“ ist ja so ziemlich genau das Gegenteil dessen, was man gemeinhin unter Demokratie versteht. Würden Sie denn so weit gehen, Rainer Mausfeld zuzustimmen, der argumentiert, der Neoliberalismus sei die Ideologie der Eliten zur finalen Überwindung der Demokratie? Oder vielleicht David Harvey, dessen wunderbare „Kleine Geschichte des Neoliberalismus“ folgender Klappentext ziert: „Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse‘ des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt. Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn ‚nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war‘? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er-Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten“…

Lassen Sie es mich einmal so sagen: Wenn man sich die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte anschaut, wenn man sieht, welche Entscheidungen wie getroffen werden, dann muss man schon mit Blindheit geschlagen sein, um hier nicht eine Systematik zu erkennen.

Wir erleben eine Politik der Eliten, eine Schwächung der Demokratie und eine Schere zwischen Arm und Reich, die viel zu weit auseinandergegangen ist. Die Ursachen für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältig. Aber dass die Mächtigen mitunter so ihre Probleme mit der Demokratie haben und ein sehr vitales Interesse daran besteht, ihre eigene Macht auszubauen, ist doch offensichtlich.

-Ich bedanke mich für das Gespräch.

Marcus Klöckner studiert Soziologie, Medienwissenschaften und Amerikanistik. Er wirft als Journalist und Autor in seiner Arbeit einen kritischen Blick auf Medien und Herrschaftsstrukturen. Bisher erschienen von ihm unter anderem „Machteliten und Elitenzirkel – Eine soziologische Auseinandersetzung“, „9/11 – Der Kampf um die Wahrheit“, „Staatsversagen auf höchster Ebene – Was sich nach dem Fall Mollath ändern muss“, „Medienkritik – Zu den Verwerfungen im journalistischen Feld“ und „Wie Eliten Macht organisieren“.

Dieser Text erschien zuerst auf den NachDenkSeiten. Die Publikation hier erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC2.0 Non-Commercial, die Bilderberger-Debatte mit Hintergrundwissen zu versorgen.

63.Bilderberg-Konferenz: Zeit für Analysen

Gerd R. Rueger

Tirol. Heute treffen die Bilderberger zu ihrer jährlichen Konferenz zusammen. Für vier Tage beraten sich dort ca. 140 Vertreter aus den Bereichen Sicherheit, Hochfinanz, Industrie, Politik, Medien, Wissenschaft sowie Funktionäre von meist den Konzernen gehörenden Think Tanks und Stiftungen. Derzeit wird auch endlich analytischen Ansätzen der Bilderberger-Forschung wie jenem von Björn Wendt etwas Aufmerksamkeit zuteil, die in der Tradition der Machtstrukturanalyse stehen (Power Structure Research). Die Bilderberger gleiten aus dem Dunkel des Geheimen langsam ins Licht der Öffentlichkeit, zuerst beleuchtet von marginalisierten Aktivisten, doch jetzt mehr und mehr auch vom Mainstream -siehe ORF-Interview mit dem diesjährigen Bilderberg-Organisator.

Der Sozialwissenschaftler Björn Wendt veröffentlichte zu diesem Anlass seine soziologische  Studie „Die Bilderberg-Gruppe – Wissen über die Macht gesellschaftlicher Eliten“, die sich den Mythen über die Bilderberger wie auch den Konferenzen widmet und derzeit in vielen Alternativmedien erwähnt wird. Sie ist jedoch keineswegs die erste Studie zu diesem Thema, die neben den „üblichen Verdächtigen“ der Bilderberger-Kritikerszene an diesem Thema arbeitet vielmher widmet sich die Forschungsrichtung der Machtstrukturanalyse (Power Structure Research, PSR) seit Jahrzehnten den heimlichen Umtrieben der Geld- und Machteliten der westlichen Welt. Ihre politischen Machenschaften und Intrigen bewegen sich zwischen Lobbyismus, Korruption und Verschwörungen.

Doch nur selten wurde der PSR Aufmerksamkeit zuteil, d.h. abseits des wohlfeilen Herziehens über „Verschwörungstheorie“ bzw. deren Pathologisierung als paranoide Form heutigen Hexenwahns. Prof. H.J. Krysmanski, der seit langem -wie jetzt auch Wendt- von Privatisierung der Macht spricht, kann als traditioneller Vertreter der PSR im deutschsprachigen Raum gelten, die den Spuren des Klassikers C.W.Mills folgt (siehe unten), auch Globalisierungskritiker wie Elmar Altvater, die zusammen mit Krysmanski publizierten, sahen in diesem Umfeld die vom Neoliberalismus bejubelte Privatisierung als Hauptproblem und Einfallstor für globale Korruption. Die Bilderberger-Treffen sind heimliche Zentrale zur Koordinierung und Korrumpierung der Politik im transatlantischen Raum

PSR nach H.J.Krysmanski

Power Structure Research erforscht Machtformen in unserer westlichen Plutokratie. Diese Plutokratie, die heimliche Herrschaft der Reichen, beinhaltet zunehmend eine Privatisierung der Politik (vgl. die PSR-Klassiker C.W.Mills, Veblen, Lundberg, Mannheim). Politik wird so zur ‚Privatangelegenheit’ einer kleinen Gruppe von Superreichen und ihrer Netzwerke, legitimiert oft durch Mythen über deren angebliche Leistungen für das Allgemeinwohl, über angeblich titanenhafte Herkuleswerke oder genialischen Erfindergeist. Politikwissenschaftler sprechen jedoch auch vom ‚verblassenden Mythos der Meritokratie’, also der mythischen Leistungsgesellschaft, und sogar vom ‚Superreichtum als Gefahr für die Demokratie’ (vgl. Krysmanski 2004: 10-12). Aktueller ist der Begriff der “Postdemokratie” von Colin Crouch, der die Aufweichung der westlichen Demokratien durch Machteliten beschreibt, die “Privatisierung der Macht”, wie H.J.Krysmanski es nennt.

Krysmanski regt an, dass wir uns die neuen planetarischen Herrschaftsstrukturen als eine Ringburg vorstellen sollten (siehe Grafik). Das Zentrum bilden überall die 0,01 Prozent Superreichen, eine völlig losgelöste und zu allem fähige soziale Schicht, welcher die Wissens- und Informationsgesellschaft alle Mittel in die Hände legt, um sich als eine neue gesellschaftliche Mitte zu etablieren. Um sie herum und ihr am nächsten gruppieren sich als zweiter Ring die Konzern- und Finanzeliten als Spezialisten der Verwertung und Sicherung des Reichtums. Den nächsten Funktionsring bilden die politischen Eliten, die zumindest aus der Sicht des Imperiums der Milliardäre für die möglichst unauffällige Verteilung des Reichtums von unten nach oben zu sorgen haben.

Die größte Gruppe bevölkert laut Krysmanski den Außenring der „sozioökonomischen Festung“: die Funktions- und Wissenseliten aller Art, von Wissenschaftlern über Techno- und Bürokraten bis zu den Wohlfühleliten in Medien, Kultur und Sport. Der Welt und den politischen Bewegungen wurde demnach, beginnend mit dem Irak-Krieg, eine brutale westliche Geopolitik aufgezwungen. Die Spielregeln einer vernünftigen Weltinnenpolitik galten auch für die verbleibende Supermacht nicht mehr. Die soziale Ungleichheit in der entwickelten Welt wuchs dramatisch. Die Reichen wurden immer reicher. Und der »Globalkapitalismus« war von undurchsichtigen, staatsfernen Herrschaftsstrukturen durchzogen.

Angstkulisse: Krieg gegen den Terror

Ablenkung und Angstkulisse schaffen dabei Bedrohungsszenarien, Seuchen sind ebenso willkommen wie Wirtschaftskrisen, die dem Globalisierungsdiskurs wieder durchschlagende Wirkung verleihen sollen. Angst vor Marginalisierung, vor Niederlagen im Standortwettbewerb, tritt neben Angst vor natur- und menschengemachten Katastrophen sowie vor dem Anderen, derzeit vorwiegend den Kopftuch-, Bart- und Turbanträgern. Zur Peitsche von Terrorkrieg und Überwachung gibt es auch das Zuckerbrot: Geködert wird die Masse mit beschränkter Teilhabe am zumeist nur virtuellen Bereich gesellschaftlichen Reichtums. Angesprochen ist dabei durchaus das einzelne Individuum und seine Neigung, den Angstnachrichten im privaten Eskapismus zu entfliehen –Telekommunikation direkt von den PR- und Kulturpropaganda-Agenturen der Machteliten zum einfachen Untertanen als Form entsubjektivierter Machtausübung.

Seit dem 17. Jh. hatten sich neue Formen der Macht auf die Disziplinierung des Körpers gerichtet, um seine Kräfte im Sinne der Produktion und Profitabilität zugleich effektiv zu nutzen und optimal zu kontrollieren (Foucault 1976). Die neuen politischen Technologien der Disziplin förderten nicht nur staatliche Institutionen wie das Krankenhaus, die Psychiatrie und das Gefängniswesen, sondern trugen in sich auch das Potential privater, privatisierter Herrschaftstechniken. Die sichtbar gemachte Delinquenz der Unterschichten lenkte nicht nur von den lukrativen, aber unsichtbaren Gesetzwidrigkeiten der Herrschenden ab (Waffenhandel, Prostitution, Drogenhandel usw.); sie ermöglichte auch die ‚Moralisierung des Proletariats‘ (Foucault) und damit private, individuelle Zwangsformen in den Betrieben, in Dienstverhältnissen usw.

Auf Seiten der Herrschenden befördert die scheinbare Unsichtbarkeit ihrer Handlungen einerseits zunächst das Entstehen korporativer Akteure, die nur in einem fiktiven, juristischen Sinne ‘Personen’ sind und in Wirklichkeit unpersönliche, z.T. zentral geleitete Organisationen darstellen. Die Bilderberger-Geheimtreffen waren immer ein Knotenpunkt dieser plutokratischen Machtstrukturen, der westliche Geld- undMachteliten zusammenschweißte und ihnen Zusammenhalt und geheime Informationsvorsprünge vor konkurrierenden Machteliten sicherte. Mit Krysmanski kann man im Großen und Ganzen Wendts Schlussfolgerungen unterstreichen: Wissenschaft, Medien und Öffentlichkeit sollten die bisher nur unzureichend untersuchten Konferenzen genauer unter die Lupe nehmen, sofern die Idee der Demokratie ihnen etwas bedeutet.

Der Klassiker der PSR: C. Wright Mills

Charles Wright Mills (als Autor C. Wright Mills, geb. 1916 in Waco im US-Bundesstaat Texas; † 20. März 1962 in Nyack, New York) war ein US-amerikanischer Soziologe. Er beschäftigte sich insbesondere mit den Machtstrukturen moderner Gesellschaften sowie der Rolle der Intellektuellen in der US-amerikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit.Mills erlangte 1939 seinen Bachelor-Abschluss an der Universität von Texas in Austin und promovierte an der Universität von Wisconsin, wo er sein Doktorat 1941 absolvierte. Ab 1946 arbeitete er an der Columbia-Universität. Trotz vieler Kontroversen blieb er dort bis zu seinem Tod.Mills unternahm zahlreiche ausgedehnte Reisen, die ihn unter anderem nach Deutschland und in die Sowjetunion führten. Zu Beginn der 1960er Jahre besuchte er Kuba, als einer der ersten US-Amerikaner nach der Revolution.Eine engagiert kritisch-praktische Auffassung von Soziologie war charakteristisch für seine wissenschaftliche Karriere wie für seinen gesamten Lebenslauf. Man kann dreierlei Phasen unterscheiden: 1. Studium der Sozialphilosophie und Rezeption der soziologischen Klassiker (Karl Marx, Max Weber, Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto); 2. eine Periode intensiver empirischer Arbeiten; 3. eine Vereinigung beider Interessensrichtungen zu einer bestimmten Arbeitsweise soziologischer Reflexion. Hieraus erwuchs sein Beitrag Two Styles of Social Science Research; später wurden diese Ideen ausgearbeitet zu The Sociological Imagination. Berühmt geworden ist Mills mit seiner Trilogie über die Untersuchung der Machtverhältnisse in den USA, in denen er 1948 zuerst die Arbeiterschicht (“The New Men of Power”), dann 1951 die amerikanische Mittelklasse (“White Collar: The American Middle Classes”) und schließlich 1956 die amerikanische Machtelite (“The Power Elite”) genauer analysiert.

In seinem 1951 veröffentlichten Buch White Collar: The American Middle Classes (New York: Oxford University Press, 1951; dt.: Menschen im Büro: Ein Beitrag zur Soziologie der Angestellten (übers. v. Bernt Engelmann, Vorwort von Heinz Maus), Köln-Deutz: Bund Verlag 1955) behauptet Mill, Beschäftigte großer Firmen seien konservativ, weil sie sich mit ihren Arbeitgebern identifizierten. Zugleich tendierten sie zur “Statuspanik”, wenn ihre Arbeit durch Neuerungen in Frage gestellt werde. Beides führe zur Ablehnung von Innovationen.

The Power Elite (New York: Oxford University Press 1956; dt:. Die amerikanische Elite: Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg: Holsten-Verlag 1962) beschreibt die Machtstruktur der zeitgenössischen amerikanischen Gesellschaft als Machtelite, d.h. ein Netzwerk eng verflochtener Beziehungen zwischen den obersten Führern von Militär, Politik und Wirtschaft. Mills beobachtete, dass diese Menschen meist eine Eliteuniversität besuchten, dass sie in den gleichen exklusiven Klubs verkehrten und dass sie häufig innerhalb ihres engen Kreises heirateten.

The Sociological Imagination (dt.: Kritik der soziologischen Denkweise. Neuwied: Luchthand, 1963) ist eine wegweisende Bilanz der soziologischen Disziplin in den Vereinigten Staaten der 1950er Jahre. Mills schlägt hier einen dritten Weg zwischen dem “geistlosem Empirismus” der amerikanischen Sozialforscher und der “großen Theorie” eines Talcott Parsons ein. Mills’ Ansicht nach bedarf es einer kritischen Soziologie, die sich weder oberflächlich instrumentalisieren lässt, noch abgehoben “theoretisiert”, sondern eine Verbindung zwischen aktuellen Lebensumständen und historischer Sozialstruktur bietet. Das, so Mills, sei die Aufgabe und die “Verheißung” der Soziologie. The Sociological Imagination (TSI) ist damit auch heute noch eine der wichtigsten Selbstkritiken der Soziologie.

PSR-Literatur

Krysmanski, Hans Jürgen: Entwicklung und Stand der klassentheoretischen Diskussion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1989, Nr.41, 149-167

Krysmanski, Hans Jürgen: Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne; Münster 2001

Krysmanski, Hans Jürgen: Hirten und Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder Einladung zum Power Structure Research; Münster 2004 Onlineversion gratis

Lundberg, Ferdinand: Die Reichen und die Superreichen; Frankfurt 1971

Mannheim, Karl: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus; Frankfurt 1983

Mills, C.Wright: White Collar: The American Middle Classes; New York 1951

Mills, C.Wright: The Power Elite; New York 1956

Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions; Ontario 1953

Gewalt und Medienlügen: Venezuela und Kolumbien

Galindo Gaznate ecuador_flag

Wer deutsche Medien konsumiert, hat ein verzerrtes Bild der Realität, besonders wenn es um Länder geht, die sich USA und EU nicht beugen wollen. Zeitweise hatten Deutsche daher den Eindruck, Venezuela sei das am meisten von Gewalt betroffene Land Lateinamerikas. Viele Naive ARD-Konsumenten machten lieber Urlaub im Nachbarland Kolumbien. Sie wurden böse überrascht. Denn dort gibt es eine unglaubliche Ballung von Bürgerkrieg, Drogenkrieg und Terror. Es geht um Kokain und Korruption.

Bei denen sitzt man in der ersten Reihe, bekommt nur leider ein verzerrtes Bild der Realität. Besonders wenn es um Länder geht, die sich der Dominanz von USA und EU nicht beugen wollen, sieht man auch mit dem Zweiten nicht besser. Venezuela ist ein typischer Fall. Andauernd bombardieren und ARD und ZDF mit berichten über Unruhen im Land des gemäßigten Sozialismus von Präsident Maduro. Der von den USA subventionierte oder initiierte Terror wird als angeblicher Protest oder staatliches Chaos hingestellt. Zeitweise hatten Deutsche daher den Eindruck, Venezuela sei das am meisten von Gewalt betroffene Land Lateinamerikas und machten lieber Urlaub im Nachbarland Kolumbien. Sie wurden böse von einer unglaublichen Ballung von Bürgerkrieg, Drogenkrieg und Terror überrascht. Hier ein Hintergrundbericht.

Der Mord an Jorge Gaitan

Ein politischer Mord leitete die Ära der Gewalt in Kolumbien ein: 1948 wurde der populäre Präsidentschaftskandidat Jorge Elicier Gaitán erschossen. Gaitán gehörte zum linken Flügel der Liberalen und so fürchteten konservative Großgrundbesitzer, er würde endlich Ernst mit einer Landreform machen. Es kam zur spontanen Revolte der Hauptstadtbevölkerung, Wohnviertel der Oberschicht wurden geplündert, das Militär schoss wahllos in die Menge. Der El Bogotazo genannte Aufstand griff auch auf andere Städte über, brach aber nach wenigen Tagen wieder zusammen, etwa 5.000 Menschen starben.

Die Macht ergriff in der Folge der reaktionäre Konservative Laureano Gómez, ein Verehrer Hitlers und der spanischen Franco-Diktatur, mutmaßlich in den Mord an dem Liberalen Gaitán verwickelt. Er rief mit Rückendeckung des Klerus zum „Heiligen Krieg“ gegen Liberale und Kommunisten auf. Das war der Auftakt zu landesweiten, staatlich organisierten Pogromen, die Kolumbien für Jahre „an den Rand eines Abgrundes“ führten. Klerikalfaschistische Gruppen und im Solde der Konservativen stehende Banden ermordeten oder vertrieben die Einwohner ganzer Dörfer, was von den Großgrundbesitzern zu kriminellem Landraub genutzt wurde. Das jahrelange Gemetzel ging als traumatisches Ereignis in die kolumbianische Geschichte ein und kostete ca. 300.000 Menschenleben.

1953, als die staatliche Ordnung völlig zu zerfallen drohte, putschte das Militär unter General Rojas Pinilla. Es kam zur Verfestigung eines Systems von Ämterpatronage und Korruption sowie zum Verlust jeder demokratischen Kontrollmöglichkeit. Die Landfrage als Auslöser der Gewaltorgie blieb natürlich ungelöst und so organisierte sich Widerstand. Kolumbien ist derzeit das einzige lateinamerikanische Land, in dem noch heute eine linke Guerilla militärisch aktiv ist, die über Rückhalt in der Bevölkerung verfügt. Ihr ursprüngliches Anliegen war der Schutz der Landbevölkerung vor den von Großgrundbesitzern bezahlten paramilitärischen Banden.

Befreite Zonen: FARC und ELN

Die quasi-staatliche Herrschaft der Guerilleros über verschiedene abgelegene Territorien Kolumbiens wird von der Mehrheit der Einwohner als gerechter empfunden, als die notorisch korrupte und repressive Staatsgewalt. 1966 schlossen sich die Selbstverteidigungsgruppen zur Fuerzas Armadas Revolucionarias da Colombia – Ejérito del Pueblo (FARC) zusammen und erklärten der Staatsgewalt den Krieg. Mit militärischer Rückendeckung der FARC und anderer Guerillagruppen kam es in den 1970er Jahre zu einer Welle von Sozialprotesten, Streiks und Landbesetzungen. 1982 unternahm die FARC mit Gründung der legalen Partei Union Pariotica (UP) einen Versuch, den militärischen Konflikt mit der Staatsmacht in den Rahmen einer politischen Auseinandersetzung zu überführen. Dieser Versuch wurde jedoch in Blut ertränkt. Zwei Präsidentschaftskandidaten der UP wurden von Paramilitärs ermordet, acht Abgeordnete und 70 Gemeinderäte, insgesamt starben bis zu 5000 UP-Mitglieder. Neben der Geschichte der FARC ist auch die der marxistischen ELN zu erwähnen sowie die ihrer reaktionären Gegenspieler, der Paramilitärs von MAS und AUC. Die Guerilla finanzierte sich durch Koka-Anbau, an die Seite alter kolumbianischer Geldelite gesellten sich immer mehr Drogenbarone.

1965 wurde die Existenz paramilitärischer Strukturen in Kolumbien per Gesetz legalisiert. Ab 1981 war der schmutzige Krieg gegen die kolumbianische Linke im vollen Gange. Fabio Ochoa, Boss des Medellin-Kartells, Amigo des späteren kolumbianischen Staatschefs Uribe, weigerte sich, von Lösegeld für seine Nichte an die Guerillagruppe M19 zu bezahlen und baute statt dessen die Terrortruppe „Muerte a Secuesstradores“ (MAS) auf. Einzige Aufgabe der MAS war, Unterstützer und Sympathisanten der Guerilla zu ermorden, wobei sie von Anfang an mit Armee, Polizei und Geheimdienst kooperierte. Bei einem organisierten Massenmord in der von der Linkspartei UP regierten Kleinstadt Sevogia am 11.11.1988, dem 44 unbewaffnete Zivilisten zum Opfer fielen, wurden die Mörder der MAS von Armee und Geheimdienst unterstützt. Im Fazit liefen die Aktivitäten der Paramilitärs auf einen „gewalttätigen Wiederaufbau der traditionellen Herrschaftsmechanismen“ hinaus. 1997 konstituierten sich als übergreifende Organisation der paramilitärischen Gruppen die Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC). Großkonzerne wie Coca Cola zahlten an die Paramilitärs und profitierten bei Massenmorden an Linken und Gewerkschaftern.

Das Cali- und das Medellin-Kartell (benannt nach kolumbianischen Städten) importierten den Grundstoff für Kokain aus Bolivien und Peru und schmuggelten das Endprodukt in die USA. 1983 legalisierte Präsident Betancur durch eine Steueramnestie die von den Narcos illegal erworbenen Vermögen, so dass die führenden Köpfe der Narco-Kartelle, etwa Pablo Escobar, in die Oberschicht aufstiegen. Als Folge kam es zu einer Verschmelzung zwischen Großgrundbesitz und Drogenbossen.

Zu einer massiven Steigerung des Anbaus von Kokasträuchern in Kolumbien kam es mit den neoliberalen Reformen des Präsidenten Virgilio Barco ab 1988, der Beseitigung der Arbeitsschutzgesetze, Zerstörung der Gewerkschaften und Kürzung von Sozialausgaben. Die Öffnung des Binnenmarktes überschwemmte Kolumbien mit auswärtigen Agrarprodukten, Bauern verarmten rapide und griffen zum Anbau von Kokasträuchern an, zumal er von den Drogenkartellen gefördert wurde. Bis Ende der 1990er Jahre verdreifachte sich der Kokaanbau Kolumbiens, überholte Bolivien und Peru.

USA greifen ein

Der seit 1988 tobende Krieg der Kartelle untereinander, die Aushöhlung des Staates als Folge CIA_FolterBerichtDtkrimineller Gewalt der Druck der USA, die sich der Crack-Welle gegenüber sahen, bewog die Regierung schließlich zu ernsthaftem Vorgehen gegen Kokain. Drogenboss Escobar wurde im Jahre 1993 von Sicherheitskräften exekutiert, das Medellin-Kartell war bereits unter Beteiligung des Cali-Kartells zerschlagen worden.

Der kolumbianische Drogenhandel war damit aber keineswegs unterbunden. Neugegründete Unternehmen begnügten sich als Zwischenhändler, den Transport übernahmen mexikanische Drogenkartelle. Die neuen Drogenbosse umgaben sich mit Rechtsanwälten und promovierten Betriebswirten, der Drogenhandel wandelte sich von krimineller Schattenwirtschaft zum normalen Zweig der kolumbianischen Wirtschaft.

Die USA unter Clinton gaben ab 1999 ca.1,6 Milliarden US-Dollar an die kolumbianische Regierung, davon 70 Prozent direkt an Polizei und Militär für die Zerstörung der Koka-Pflanzungen im Süden – also in den Gebieten der Guerilla. Der von den USA propagierte Antidrogenkrieg damit Aufstandsbekämpfung. Kolumbien wurde damit schlagartig zum drittgrößten Empfänger von US-Militärhilfe (nach Israel und Ägypten).

Hochgerüstete Militäreinheiten drangen in die Anbaugebiete ein, setzten großflächig Herbizide ein. 2002 wurden 100.000 Hektar besprüht und 30.000 Kokapflanzen vernichtet. Große Flächen des Regenwaldes und Felder wurden verseucht, auf denen die Bauern Nahrungsmittel angebaut hatten. Mit Herbiziden vergiftet wurden auch von internationalen Hilfsorganisationen geförderte Projekte, die den Bauern den Umstieg von Koka auf alternative Agrarprodukte ermöglichen sollten. Die ökologischen Folgen waren gravierend, für die Gesundheit katastrophal. Die Guerilleros stellten sich auf die Seite der betroffenen Dörfer und begannen, Sprühflugzeuge und Hubschrauber gezielt abzuschießen. Dies führte zu einer weiteren Eskalation des militärischen Konfliktes. 2004 wurden zwar die Kokaanbauflächen um 88.000 Hektar reduziert, die Kokabauern wichen aber auf andere Regionen aus und kehrten nach einigen Jahren zurück.

Die blutige Ära Uribe

Der Bürgerkrieg zwischen Regierung, Paramilitärs und Guerilla führte 2002 zum Wahlsieg von Álvaro Uribe, eines rechtsradikalen Hardliners, der versprach, die Paramilitärs zu demobilisieren und den Bürgerkrieg so zu beenden. Uribe selbst war aber in Drogensumpf und Verbrechen der Paramilitärs verwickelt. Paramilitärische Banden setzten unter neuen Namen ihren Krieg gegen linke Aktivisten fort. Uribe lieferte einige Drogenbosse an die USA aus, sorgte jedoch dafür, dass die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Paramilitärs nie vor US-Gerichte kamen. Die kolumbianische Armee wurde von den USA hochgerüstet, George W. Bush stellte unter Druck der Ölindustrie 2002 erneut 38 Millionen US-Dollar für den „Antiterrorkrieg“ in Kolumbien bereit.

Während der Ära Uribe stiegen in Kolumbien die Menschenrechtsverletzungen massiv an, im forcierten Krieg gegen FARC und ELN wurde die Bevölkerung terrorisiert. Man versprach Kopfprämien für getötete Guerilleros, Arbeitslose wurden durch falsche Versprechungen angeworben, um dann ermordet, in FARC-Uniformen gesteckt präsentiert zu werden. Der kriminelle Drogenhandel wurde unter Uribe hingegen kaum gestört. Erst sein Nachfolger Juan Manuel Santos, Uribes Ex-Verteidigungsminister, nahm 2010 Verhandlungen mit der FARC auf.

Nach Schätzungen unabhängiger Organisationen wurden in den letzten 30 Jahren in Kolumbien 600.000 Personen von bewaffneten Gruppen und staatlichen Sicherheitsorganen ermordet. Für 2012 gab das UN-Flüchtlingshilfswerk offiziell die Zahl von 4,9 Millionen Binnenflüchtlingen an, etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung Kolumbiens. Die Guerilleros der FARC unterbreiteten bei den Friedensverhandlungen ein Reformprogramm, das als wichtigsten Punkt die Abschaffung unproduktiven Großgrundbesitzes sowie geschützte Zonen für kleinbäuerliches Wirtschaften sah. 2012 wurde zwar unter der Regierung Santos ein Gesetz zur Rückgabe geraubter Ländereien erlassen, aber ob dessen Umsetzung gelingt, ist derzeit unklar.

Hintergrund: Kolumbiens Kolonialgeschichte

Kolumbien ist geographisch gesehen ein Konglomerat… fruchtbare Urwälder im Norden und an den Map of kolumbienKüsten, Hochgebirge im Landesinneren, unfruchtbare Steppenlandschaft an der Grenze zu Venezuela und Brasilien… wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts von spanischen Konquistadoren erobert, die einheimische Bevölkerung dabei zum größten Teil ausgerottet… Minderheit sind die etwa 15 Prozent Afrokolumbianer, Nachkommen verschleppter Sklaven… Die Oberschicht setzt sich fast ausschließlich aus direkten Nachkommen europäischer Einwanderer zusammen. Die spanische Krone hatte das Gebiet nach der Eroberung an verdiente Konquistadoren verteilt –Keimzelle der ungleichen Besitzverhältnisse an Grund und Boden.

Über den Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien unter Simon Bolivar ab 1809, die folgende Herrschaft konservativer Großgrundbesitzer, den Bürgerkrieg 1899-1902 mit seiner massenhaften gewaltsamen Enteignung kleinbäuerlicher Wirtschaften, die wegen explodierenden Kaffeepreise zu einer gewaltsamen Ausweitung ihrer Plantagen drängten, die 1903 von den USA betriebenen Abtrennung der nördlichsten Provinz zwecks daraufhin gebauten Panamakanal führt die Geschichte zum begrenzten wirtschaftlichen Aufschwung der 1920er Jahre durch und damit zum sozialistischen Widerstand.

Die im Jahre 1926 gegründete Partido Socialista Revolucionario (PSR) vertrat dann schon klassische kommunistische Positionen. Ein von ihr unterstützter Streik der Bananenarbeiter im Jahre 1928 wurde auf Betreiben des US-Konzerns United Fruit Company (heute bekannt unter dem Namen Chiquita) jedoch durch das Militär zusammengeschossen; zwischen 1.000 bis 1.500 Arbeiter fielen dem Massaker zum Opfer. In der Folge schwappte eine Welle rechten Terrors durch das Land.

Die „Postdemokratie“ des Colin Crouch

Und ihre Wurzeln aus Sicht der Powerstructure Research (C.Wright Mills/H.J.Krysmanski)

Gerd R. Rueger 9.11.2010

Colin Crouch ist ein britischer Soziologe und Politikwissenschaftler,  der mit seiner Kritik aktueller Fehlentwicklungen in den westlichen Demokratien Aufsehen erregte. Postdemokratie lautet das Stichwort   seiner Analyse: Die Demokratie, die eigentlich keine mehr ist. Damit schließt er an die Tradition der Powerstructure Research an, die Untersuchung der Machteliten -denn diese unterminieren die westlichen Demokratien zunehmend.

2004 veröffentlichte Crouch sein Werk Post-Democracy, 2008 auf Deutsch erschienen unter dem Titel Postdemokratie -Crouch beschrieb darin vor allem die verschiedenen Machenschaften, mit denen die Finanz- und Medieneliten die westliche Demokratie aushöhlen.

Unter einem „postdemokratischen“ politischen System versteht er „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ (Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008, S. 10, zit.n.Wikipedia)

Dem sogenannten Neoliberalismus, einer politischen Ideologie, die unreflektiert Maßstäbe und Methoden der Wirtschaftswissenschaften auf Politik und Gesellschaft übertragen will und sich durch totale Deregulierung und Privatisierung hervortut,  wirft Crouch vor: „Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zuläßt, daß diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens.“ (ebenda S.29f.)

Den Begriff Postdemokratie hält Crouch für gut geeignet, „Situationen [zu] beschreiben, in denen sich nach einem Augenblick der Demokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen Repräsentanten mächtiger Interessengruppen […] weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger […]; in denen politische Eliten gelernt haben, die Forderungen der Menschen zu manipulieren; in denen man die Bürger durch Werbekampagnen »von oben« dazu überreden muß, überhaupt zu Wahl zu gehen.“ (Crouch: Postdemokratie, S. 30, zit.n. Wikipedia)

Für Crouch ist Tony Blairs New Labour, die für die Politik Gerhard Schröders in der deutschen Sozialdemokratie maßgebend wurde,  Beispiel einer „postdemokratischen Partei“. (Crouch: Postdemokratie, S. 84) Mit der Fortsetzung des neoliberalen Kurses des Thatcherismus „verlor die Partei […] jeden Anknüpfungspunkt an bestimmte soziale Interessen“der Arbeiterklasse -unter Schröder führte die erste rotgrüne Bundesregierung mit Hartz-IV ein Arbeitsregime ein, das von Auflösung der Tarifverträge, Billiglöhnen, prekärer Beschäftigung, Niedergang der Gewerkschaften geprägt war. Auf der anderen Seite standen die weitgehende Deregulierung der Finanzmärkte, die später zur Subprimekrise und Finanzkrise der EU-Staaten führen sollte. Prekäre Ich-AGler und Ein-Euro-Jobber standen bald einer rapide wachsenden Zahl von Einkommens-Millionären vor allem im Finanzsektor gegenüber. Die Durchsetzung von Finanzinteressen durch ehemals sozialdemokratische bzw. sozialistische Parteien (und Grüne) sollte zu einem Muster werden. Dabei spielen korrumpierte Massenmedien eine große Rolle, die immer mehr zu einer PR-Einrichtung für Unternehmen und Finanzeliten werden (Netzmedien wie Wikileaks und Whistleblowern kommt daher eine wachsende Bedeutung zu).

Historisch schließt diese Entwicklung an die Formung einer neuen Herrschaftsklasse in den USA an, wie sie auch von H.J.Krysmanski nach C.Wright Mills im Rahmen der Powerstructure Research (PSR) analysiert wird. Zu bevorzugten Machtmotoren wurden neben Finanz- und Medienindustrie auch die im Hintergrund arbeitenden Stiftungen, ausgehend von Rockefeller und Carnegie. Deren Netzwerk durchzieht inzwischen unter dem Deckmantel der karitativ tätigen NGO die westlichen bzw. sich dem Westen öffnenden Staaten, durch Verflizungen mit ursprünglich unabhängigen NGOs, eigens gegründeten Tarn-NGOs, Parteien, Medien und Kultureinrichtungen. In Deutschland ist die Bertelsmann-Stiftung zu nennen, die ausgehend vom größten deutschen und europäischen Medienkonzern ihren Einfluss stetig ausbaut und den Kultur-, Bildungs- und Medienbereich systematisch unter ihre Kontrolle bringt. Auch darin folgt Bertelsmann dem Weg der Rockefeller-Pseudo-NGOs, sie korrumpiert gezielt die Wissensproduktion durch an Macht- bzw. Klasseninteressen orientierte Forschung. In Putins Russland wurde auf den Machtmotor des NGO-Stiftungen-Komplex 2012 durch eine in Westmedien mit großer Empörung kommentierten Gesetzgebung reagiert, die solche Organisationen offiziell als „ausländische Agenten“ bezeichnet. In der klassischen PSR wird der beginn dieser Entwicklung historisch bei F.D.Roosevelts Reformen angesiedelt:

>> 1. C. Wright Mills: Das (post)moderne Power Structure Research – in der Tradition Thorstein Veblens (1899) und des amerikanischen “Muckraking”-Journalismus (Harrison u. Stein 1973) – begann mit C. Wright Mills’ The Power Elite (1956/2000), verfasst unter dem Eindruck der Faschismusanalysen Franz Neumanns (1944/1984). Mills beschreibt, wie F.D. Roosevelts Reformen und die Planungsanstrengungen des Zweiten Weltkriegs das traditionelle Establishment durcheinander gewirbelt hatten. Hielten zuvor wenige reiche Familien in jeder Metropole und in jedem Bundesstaat die lokalen Regierungen fest im Griff, so drängten nun neue Gruppen an die Schaltstellen der Macht: Washingtoner Bürokraten und Konzernmanager, medienwirksame Politiker, politische Generäle, Gewerkschaftsführer und die Chefs von FBI und CIA; auch Wissenschaftler aus Forschungszentren und Planungsstäben strebten nach po-litischer Mitbestimmung. Mills zeigt, wie die Reichen und Superreichen es lernten, in dieser neuen Welt der Massenmedien, des Aktieneigentums, der Werbung, des Massenkonsums sowie eines wachsenden Selbstbewusstseins der Mittelschichten ihren Einfluss zu bewahren und zu mehren. Der amerikanische Kapitalismus, so Mills, war immer noch eine perfekte Maschine zur Erzeugung von Millionären und Milliardären (1956, 112f). Aber der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Umbau der US-Gesellschaft brachte auch neue Formen der Macht und neue Privilegienstrukturen hervor, verkörpert durch eine noch weitgehend gesichtslose Konzern-Elite, die teilweise mit der tradi-tionellen Geldelite zu einer neuen “upper class” verschmolz, den Corporate Rich. Aufgrund ihrer Statusvorteile konnte diese Gruppe den komplexen Unterbau der neuen Industrie- und Staatsbürokratien zum eigenen Vorteil nutzen, etwa durch Beeinflussung der Steuergesetzgebung oder des Stiftungsrechts, und dabei vielfältige Tarnkappen verwenden, um die “im Kern völlig verantwortungslose Natur ihrer Macht zu verbergen” (ebenda, 117). Die institutionelle Macht des reorganisierten Reichtums erlaubte es, Einflussimpulse über das gesamte politische System in streng hierarchisch-autoritärer Manier zu verteilen und zudem die Exekutivmacht allmählich einem der Parteiendemokratie entrückten “politischen Direktorat” zuzuschanzen. Hervorzuheben ist Mills’ Insistenz, in die Analyse der politischen Rolle der Corporate Rich auch die “militärische Elite” einzubeziehen.<< (Hervorhebg.v. GRR)

aus: H.J. Krysmanski: Herrschende Klasse Revisited  Z-Zeitschrift Marxistische Erneuerung  Heft 57, März 2004, 15. Jhrg (online archiviert)

Quellen für dieses Zitat:

Harrison, H. H. u. J. M. Stein (Hrsg.), Muckraking: Past, Present and Future, University Park, Pa., 1973; D. Henwood, Wall Street. How It Works and for Whom, London u.a. 1997

Mills, C. W., The Power Elite, New York 1956 (dt. Die amerikanische Elite. Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten, Hamburg 1962)

Neumann, Franz  L., Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (1942/44), Frankfurt/M 1984

Veblen, Thorstein B., Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (1899), Frankfurt/M 1986;

Vgl. dazu aktuell von Arundhati Roy:  Kapitalismus: Eine Gespenstergeschichte, 2. Teil. Der Imperialismus der Wohltäter, in: »Blätter« Nr.8, 2012, Seite 63-74, (online nur gegen Bezahlung), die sich der Geschichte der Rockefeller-Foundation und anderen US-Stiftungen widmet, mit besonderem Augenmerk auf die Tätigkeit der Tarn-NGO-Operationen in Indien, wo eine brutale Industrialisierung auf Kosten von Menschenrechten und Umwelt zugunsten einer obzön reichen Mini-Herrschaftselite stattfindet (deren paramilitärisch geführten Krieg gegen die eigene Bevölkerung unsere Mainstream-Medien vor der Öffentlichkeit weitgehend verbergen).
Teaser: >Sie eröffnen Bibliotheken oder helfen, Krankheiten zu bekämpfen – unternehmensfinanzierte Stiftungen tun Gutes, möchte man meinen. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy spürt den unternehmerischen Wohltätern nach und räumt mit diesem Mythos auf. Hinter dem System aus Stiftungen und NGOs entdeckt sie das Regime eines globalen Konzernkapitalismus, mit dessen Hilfe die „westlichen“ Eliten, einmal mehr ihre ökonomischen Interessen im globalen Süden durchsetzen.< (9/2012)

Werdegang von Colin Crouch (geb.1944) aktualisiert n. Wikipedia

Nach seinem Schulabschluss arbeitete Crouch vier Jahre lang als Journalist, bevor er 1965 ein Soziologiestudium an der London School of Economics (LSE) begann, das er 1969 mit einem Bachelor of Arts abschloss. Anschließend schrieb er seine Dissertation (Ph.D.) am Nuffield College in Oxford. Die Studentenunruhen und die zeitweilige Besetzung der LSE in den Jahren 1967 und 1968 erlebte er als gewählter Präsident der Students‘ union. Über diese Erfahrungen schrieb er sein erstes Buch: The Student Revolt (1970).

Seine akademische Karriere begann er 1972 als Lecturer zunächst an der University of Bath; er setzte sie fort als Lecturer und Reader für das Fach Soziologie an seiner Ausbildungsstätte LSE (1973–1985).

Von 1985 bis 1994 war er Fellow des Trinity College in Oxford und zugleich Professor für Soziologie an der University of Oxford. Von 1995 bis 2004 lehrte und forschte er als Professor für Comparative Social Institutions am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (EUI). Seit 2005 ist er Professor für Governance and Public Management an der University of Warwick.

Am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln ist er „Auswärtiges Wissenschaftliches Mitglied“.

Für sein Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II erhält Crouch 2012 den Literaturpreis Das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung.