Erdogan und Gasangriffe gegen Kurden

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Manfred Gleuber

Setzten Ankaras Truppen verbotene Chemiewaffen ein? Türkischer Artilleriebeschuss auf das nordsyrische, von Kurden regierte Afrin soll ein Beispiel dafür dokumentieren. Bislang waren Meldungen über verbotene Giftgasangriffe in prowestlichen Medien meist mit Assad als Auftraggeber behauptet worden. Kritiker sahen dies als Kampagne, die von völkerrechtswidrigen NATO-Kriegseinsätzen in Syrien ablenken solle, und fordern bis heute Beweise. Nun scheint auch die Türkei Ziel einer solchen Kampagne seitens der Kurden zu werden oder tatsächlich zur verbrecherischen Gaswaffe gegriffen zu haben. Belege für Giftgasangriffe, die Assad zuschrieben wurden, überzeugten die Kritiker nicht, die aber im Gegenzug bereits mehrfach auf Ankara als möglichen Täter hinwiesen. Kann Ankara im Kampf um Afrin so verzweifelt sein, dies zu riskieren?

Den Gasangriff bestätigte ein behandelnder Arzt des Krankenhauses Afrin, Dr. Ciwan Efrin. »Bei uns wurden Zivilisten eingeliefert, die Symptome einer Chlorgasvergiftung aufwiesen. In dem entsprechenden Gebiet wurden auch Proben entnommen, um den Einsatz der chemischen Waffen nachzuweisen.« Sechs Menschen seien betroffen. Die Zivilisten hätten ausgesagt, dass das Gas nach Artilleriebeschuss von einem türkischen Grenzposten namens Siciye ausgetreten sei, erzählt der kurdische Arzt. Ähnliche Aussage galten ARD&Co. stets als Beweise für Gasangriffe seitens Assad, doch die Westmedien scheinen bei der verschwiegenen Annexion Nordsyriens durch die USA unkritisch auf der Seite der Westherrscher zu stehen.

Plausibel könnte die Verwendung der verbotenen Waffen nur deshalb sein, weil Ankara massiv in die Defensive geraten ist. Erdogans Streitmacht kann mehr als drei Wochen nach Beginn ihrer »Operation Olivenzweig« gegen die kurdische Republik in Afrin kaum militärische Erfolge vorweisen. Und seit einigen Tagen wurden Gerüchte von einer bevorstehenden Kooperation zwischen Damaskus und der mehrheitlich kurdischen Selbstverwaltung in Nordsyrien laut. »Es gibt Verhandlungen, aber bislang keine Verständigung«, beschrieb Saleh Muslim am Montag den Stand der Gespräche. Von kurdischer Seite aus sei allerdings nichts gegen ein Engagement syrischer Truppen im Kampf gegen die Türkei einzuwenden: »Was wir wollen, ist eigentlich selbstverständlich. Sie sollen die Grenzen und den Luftraum verteidigen. Als Damaskus in Gefahr war, riefen sie Russland zur Hilfe, um es zu verteidigen. Und jetzt? Ist Afrin kein Teil Syriens?« Gleichwohl werde man aber keine Rückkehr zum Status vor 2010 akzeptieren, also die Selbstverwaltung nicht aufgeben. »Das Regime will noch immer einen autoritären, despotischen Staat. Und das ist für die Bevölkerung nicht akzeptabel.« Der PYD-Vertreter Saleh Muslim soll sich zur restlosen Klärung des Vorfalls für eine internationale Untersuchung ausgesprochen haben: »Die Gegend, in der das geschehen ist, steht allen offen, die eine Untersuchung zu dem Vorfall durchführen wollen.«

Die westlichen Staaten signalisieren bislang kaum Interesse -entgegen ihrer sonstigen Praxis bei Verdacht auf Chemiewaffen: Berlin äußerte sich überhaupt nicht, Washington gab gegenüber der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu zu Protokoll, man halte den Einsatz von Giftgas durch Ankaras Truppen für »äußerst unwahrscheinlich«. Dabei wäre die Verwendung derartiger Waffen durch die beteiligten Kriegsparteien kein Novum: Ankara wurde im Verlaufe des Krieges gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach des illegalen Einsatzes von Chemiewaffen bezichtigt – in zumindest einem Fall im Jahr 1999 gilt er als nachgewiesen. Zudem kooperiert die Türkei bei ihrem Angriff auf Afrin mit einer aus diversen dschihadistischen Milizionären zusammengesetzten Hilfsarmee. Gruppen wie der »Islamische Staat« oder Hai’at Tahrir Al-Scham sind im Besitz von chemischen Waffen.

Bezeichnend waren in diesem Zusammenhang auch kürzlich erneut gegen Assad erhobene Giftgas-Anschuldigungen seitens von Westmedien präferierten Gruppen (die meist den Assad gegnern nahestehen). Die Türkei, Frankreich, Deutschland und andere haben in den vergangenen Jahren in dem von Aufständischen kontrollierten Idlib viel Geld in die militärische und zivile Infrastruktur investiert. Die Türkei, eigentlich Garantiemacht für das dortige Deeskalationsgebiet, hätte diese Investitionen schützen können und vermutlich sollen, konzentriert sich aber auf den Kampf gegen die Kurden. Damit blieb den anderen Staaten zum Schutz der oppositionellen Strukturen in Idlib nur der politische und mediale Gegenangriff.

Dazu dienten möglicherweise die erneuten Giftgasvorwürfe gegen Damaskus. Ob die syrische Armee tatsächlich jemals Giftgas eingesetzt hat, ist unbewiesen. Die Regierung weist alle Anschuldigungen zurück. Bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates am vergangenen Montag verurteilte der syrische UN-Botschafter Munzer Munzer jeden Einsatz chemischer Waffen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Man werde jede Entscheidung des UN-Sicherheitsrates unterstützen, die herauszufinden hilft, wer diese Waffen in Syrien einsetzt. Der Diplomat erinnerte daran, dass Damaskus die Chemiewaffenkonvention unterzeichnet habe und das syrische Chemiewaffenarsenal erfolgreich vernichtet worden sei.

(Siehe auch Daniele Ganser zu False-flag Giftgasangriffen in Syrien)

Türkei will zu den 10 führenden Großmächten gehören

Den Einmarsch der Türkei in den Nordwesten Syriens wollte Russland nicht verhindern. Vermutlich auch deshalb, weil er Ausdruck widersprüchlicher Interessen der NATO-Partnerländer in der Region ist. Ankara, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Stützpfeiler der Ostfront der NATO aufgerüstet, war 2011 von USA und EU zunächst als großes Vorbild für die Länder der »arabischen Revolution« gehandelt worden. Das ist Vergangenheit. Ernüchtert von den falschen Versprechungen über eine Aufnahme in die EU und erbost über die Entscheidung der USA, die von Ankara verfolgten kurdischen Volksverteidigungseinheiten zu Bodentruppen der »Anti-IS-Koalition« zu machen und entsprechend auszurüsten, hatte die Türkei sich den östlichen Regionalmächten Russland und Iran zugewandt.

Für den 100. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei im Jahr 2023 hatte Erdogan das ehrgeizige Ziel proklamiert, zu den zehn weltweit wichtigsten Wirtschaftsmächten zu gehören. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Den Krieg in Syrien mit eigenen Mitteln zu befeuern sollte ursprünglich dem Zweck dienen, die eigenen Getreuen in Gestalt der Muslimbruderschaft in Damaskus an die Macht zu bringen, um dadurch die türkische Einflusssphäre in der Region auszudehnen. Doch nach sieben Jahren Krieg liegt nicht nur die syrische Wirtschaft am Boden. Auch die Türkei hat ökonomische Rückschläge zu verkraften. Der Abschuss eines russischen Kampfjets zur Jahreswende 2015/16 führte zudem zu russischen Wirtschaftssanktionen, die dem Tourismusgeschäft und dem Außenhandel erheblich schadeten. Den gescheiterten Putsch im Juli 2016, dessen Hintergründe und Urheber noch immer unbekannt sind, bezeichnete Erdogan als »Segen Gottes«. In den Tagen und Wochen, die auf den Umsturzversuch folgten, ließ er Zehntausende tatsächliche oder vermeintliche Kritiker seiner Politik festnehmen oder entließ sie aus dem Staatsdienst.

Die starke oppositionelle Volkspartei HDP wurde kriminalisiert, ihre Abgeordneten, Bürgermeister, Vorsitzenden wurden verhaftet. Die Armeeführung, in deren Reihen es vielfach Kritik am Anti-Syrien-Kurs der Regierung gegeben hatte, wurde nahezu komplett ausgetauscht. Auf Druck der türkischen Wirtschaftsverbände stimmte Erdogan schließlich einer Mission des türkischen Auslandsgeheimdienstes zu, der den Kontakt zu Moskau wiederherstellte. Als Russland der Türkei neben der Aufhebung der Sanktionen auch neue Vereinbarungen über Öl- und Waffenlieferungen in Aussicht stellte, willigte Erdogan endgültig ein. NATO-Mitgliedschaft hin oder her, die Türkei kaufte ein russisches Raketenabwehrsystem und machte Zugeständnisse an der Syrien-Front.

Westmedien schrieen Zeter und Mordio, beklagten täglich zivile Opfer und mieden das Wort „menschliche Schutzschilde“ -obwohl die Islamisten dort die Bevölkerung zu solchen machte: Die Schlacht um Aleppo wurde im Dezember 2016 zugunsten der syrischen Armee und ihrer Verbündeten (Russland, Iran, Hisbollah) entschieden. Und die von Ankara unterstützten Kampfverbände wurden nach Idlib evakuiert. Türkische Truppen zogen zudem in den syrischen Grenzort Dscharabulus ein und besetzten in den folgenden Monaten das Gebiet zwischen Dscharabulus, Al-Bab und Asas mit eigenen Soldaten und/oder Kämpfern von verbündeten Kampfgruppen. Ziel dieser Operation war es, den Einfluss der kurdischen Volksverteidigungskräfte zu begrenzen. Die hatten das Ziel verfolgt, einen Korridor entlang der syrisch-türkischen Grenze von Kobani, Manbidsch, Asas bis nach Afrin zu öffnen, um die »Demokratische Föderation Nordsyrien« bis ans Mittelmeer auszudehnen.

Jetzt will die Türkei das kurdische Projekt im Nordwesten Syriens durch eine 30 Kilometer breite Pufferzone ersetzen und türkische Fahnen von Afrin bis zur irakischen Grenze hissen. In die so entstehenden türkisch kontrollierten »Schutzzonen« könnten dann syrische Flüchtlinge zurückgebracht und unter die Kontrolle einer von der Muslimbruderschaft dominierten Interimsregierung gestellt werden. Mit entsprechenden »Sicherheitskräften« vor den Toren des vom syrischen Staat kontrollierten Aleppo blieben die Spannungen in Syrien für lange Zeit erhalten. Für Ankara könnte das ein Ausgleich dafür sein, dass weder die Muslimbruderschaft in Damaskus an die Macht gekommen ist noch über Aleppo wieder – wie zur Zeit des Osmanischen Reiches – die türkische Fahne weht.

US-Besatzung in Nordsyrien

US-General Clapper

Warum hat Washington Ankara vor dessen Angriff auf Afrin nicht gewarnt? Vermutlich nicht, weil die USA eine Schutzzone im Norden Syriens als falsch erachtet würden. Aber die Kontrolle darüber soll in den Händen des US-Militärs bzw. von deren Verbündeten liegen. US-Außenminister Rex Tillerson sprach von vielen Missverständnissen hinsichtlich einer geplanten Grenzschutzarmee. Die werde es so nicht geben, versuchte er die Türkei zu beruhigen. Die USA wollten ein »friedliches, unabhängiges« Syrien, sagte er bei einer Rede vor dem Hoover Institut einen Tag vor dem türkischen Angriff? Ein Syrien »ohne Massenvernichtungswaffen« könne Millionen syrischer Vertriebener wieder aufnehmen. »Ein stabiles, vereintes und unabhängiges Syrien erfordert schließlich eine Post-Assad-Führung, um Erfolg zu haben«, so Tillerson.

Für die USA sei es »lebensnotwendig«, sich weiter militärisch in der Region zu engagieren, um Terroristen zu bekämpfen und deren Wiederauferstehung zu verhindern. Washington werde »eine militärische Präsenz in Syrien« aufrechterhalten, nicht zuletzt »um Al-Qaida zu verhindern, die noch immer im Nordwesten Syriens eine substantielle Präsenz und Operationsbasen besitzt«. Dem von Tillerson erläuterten Plan haben sich in Europa zumindest Deutschland und Frankreich angeschlossen. In Abstimmung mit Israel und Saudi-Arabien arbeiten sie seit Jahren an einer Schwächung Irans. Syrien – seit 1979 strategisch mit dem Iran verbunden und in den Augen des Westens und seiner Partner Ziel einer »schiitischen Expansion«? – soll entlang ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten destabilisiert werden. Eine von Kurden angestrebte »Demokratische Föderation Nordsyrien« bietet dabei eine gute Grundlage und wird daher militärisch, politisch und finanziell unterstützt.

Der Türkei könnte von den USA und ihren EU-Partnern möglicherweise Idlib und/oder Afrin zugestanden werden. In Idlib hat bereits – mit Hilfe einer vom oppositionellen Syrischen Nationalrat (mit Sitz in Istanbul) selbst gewählten Interimsregierung – der Aufbau eigener Verwaltungsstrukturen begonnen. USA und EU wollen die Kontrolle über die von Kurden beanspruchten Gebiete der Provinzen Aleppo, Rakka und Hasaka behalten. Da dies einen Bruch mit dem Völkerrecht darstellt, spricht man in Washington, Brüssel, Paris und Berlin darüber sehr ungern in der Öffentlichkeit.

Seit 2014 sind in dem Gebiet mindestens 13 Militärbasen entstanden, auf denen die USA und ihre Verbündeten stationiert sind. Weitere Stützpunkte sind im Bau, die US-Armee festigt ihre Präsenz. Die »Demokratische Föderation Nordsyrien«, die damit de facto unter Besatzung steht, soll sich auf die Gebiete östlich des Euphrats beschränken. Dort liegt nicht nur die Kornkammer Syriens, sondern auch ein großer Teil der syrischen Ölressourcen. Außerdem wird von dieser Gegend aus die Wasserversorgung Nordostsyriens kontrolliert. Insgesamt 14 Dämme entlang des Euphrat und seiner Nebenflüsse wie des Khabur stehen heute de facto unter kurdischer bzw. US-amerikanischer Kontrolle.

Für die USA und die EU gilt heute in Syrien, was 1991 für die kurdischen Gebiete im Nordirak zutraf: Damals sollte die Zentralregierung in Bagdad destabilisiert werden, heute soll ein kurdischer Pufferstaat den syrischen Staat schwächen. Alle Staaten, in denen Kurden leben, könnten nach diesem Vorbild mit permanenter Unruhe rechnen. So unterschiedlich die Interessen Irans, Iraks, Syriens und der Türkei daher auch sind, die Schaffung eigenständiger kurdischer Staatsstrukturen – wie immer sie aussehen mögen – werden diese Länder nie akzeptieren.

Dass die Kurden mit ihrem Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie nur Spielfiguren sind, zeigte sich im Oktober 2017 im Nordirak. In ihrer Gegnerschaft gegen das dort durchgeführte Unabhängigkeitsreferendum zogen Teheran und Bagdad alle Register. Die Kurden verloren die Ölfelder von Kirkuk und die Kontrolle der Grenzübergänge, die Flughäfen wurden geschlossen, und der Iran verhängte Wirtschaftssanktionen gegen Erbil. Die Türkei – jahrelang enger Partner des nordirakischen Präsidenten Barsani – drohte, kein Öl mehr aus den Kurdengebieten zu importieren und alle Flüge dorthin einzustellen.

Was für die politisch wenig revolutionären nordirakischen Kurden gilt, trifft auf die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) beeinflussten syrischen Kurden der Partei der demokratischen Union (PYD) schon lange zu. Ankara will sie vernichten und hat entlang der Grenze eine Mauer gebaut, Olivenbäume auf dem Land syrisch-kurdischer Bauern zerstört und die Grenzen für Hilfsgüter gesperrt. Die jetzige Invasion war lange angekündigt und folgt – unter Bruch völkerrechtlicher Bestimmungen – der Logik der Interessen des türkischen Staates.