Harald Welzer: Das Selbst im Widerstand gegen das Denken

Theodor Marloth  06.06.2013

Ein neuer Star am Himmel neoliberaler Pseudo-Kritik ist Harald Welzer. In den neoliberalen Medien umjubelt, bei Bertelsmann  zuständig für „Wege zur Selbst GmbH“ gibt er den Öko unter den Entpolitisierern. Welzer behauptet, der Neoliberalismus sei keine Ideologie und auch ganz friedfertig. Denn er sei ja nur ein “Konsumismus”, der keine Feinde kenne, und alle nur mit seinen Produkten glücklich machen wolle. Welzers  schreibt viel ab bei linker Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik, die er als eigene Ideen ausgibt. Neben diversen Öko-Projekten will Welzer vor allem die Entpolitisierung der Menschen fördern: Dosenpfand statt Konzernkritik, Bio-Kaviar schlürfen statt Sozialisten in die Parlamente wählen. Dafür murkst der Sozialpsychologe sich ein krudes Welt- und Menschenbild zusammen und setzt auf den Frust der Bürger an der Demokratie, wenn er zum Wahlboykott aufruft.

Harald Welzer, Inhaber einer hippen Professur für “Transformationsdesign”, darf in den neuesten “Blättern” (bislang als linkes Polit-Magazin bekannt) über 13 Seiten seinen Sermon ausbreiten und Werbung für sein neues Buch machen: “Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand”. Darin behauptet „der vielleicht konsequenteste Vordenker des Landes“ (Bertelsmann Buchclub-Werbung), der Neoliberalismus sei keine Ideologie und auch ganz friedfertig. Denn er sei ja nur ein “Konsumismus”, der keine Feinde kenne, und alle nur mit seinen Produkten glücklich machen wolle (die Millionen Todesopfer bei Raubkriegen zur Rohstofferoberung lässt Welzer ebenso unerwähnt wie Hartz IV-Opfer hierzulande).

Welzers “selbst denken” besteht fast ausschließlich aus dem Abschreiben linker Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik, die er aber als eigene Ideen ausgibt. In zynischer Verachtung schweigt Welzer alle Aktionsgruppen und Bewegungen tot, die für Ökologie und gegen Globalisierung kämpfen -pickt sich aber hie und da  ein paar grüne Rosinen heraus, um sie sich an seine eigene Brust zu heften. Neben diversen Öko-Projekten will Welzer vor allem die Entpolitisierung der Menschen fördern: Dosenpfand statt Konzernkritik, Bio-Kaviar schlürfen statt Sozialisten in die Parlamente wählen -dafür darf ein „Gesellschaftskritiker“ auch bei Bertelsmann aufs „grüne Sofa“.

Neoliberaler Wolf im Ökoschafspelz?

Kern von Welzers Konzepts ist das Totschweigen jeglichen Widerstands gegen die Globalisierung, ob nun von linken Ökologen, Attac, Sozialisten oder Piraten. Von all denen hat Welzer nie gehört, plappert aber ihre Kritik munter nach, ohne Tiefgang, dafür mit viel Wortgeklingel, wie wir es schon von Ulrich Beck und Frank Schirrmacher kennen. Wir alle sind Konsumisten, die unter “Sofortness” leiden, weil wir immer mehr auf Kredit kaufen wollen. Sein ökonomischer Beleg: Das Volumen der deutschen Konsumentenkredite stieg von “216 im Jahr 1999 auf 227 Milliarden Euro in 2009” (von Inflationsbereinigung hat Welzer offenbar ebenso wenig gehört, wie von Attac und der Tobin-Tax).

Laut Welzer “befinden wir uns heute im postideologischen Zeitalter” des Konsumismus “und in dem sind alle Menschen gleich. Ihre Beglückung regelt ein anonymer Markt, und wenn auf diesem einige besser und andere schlechter davonkommen, so liegt das an den ewigen Gesetzen von Angebot und Nachfrage, nicht an historisch gewachsener Ungleichheit, an Machtvorsprüngen und –nachteilen, an Diskriminierung oder Gewalt und Unterdrückung. Deshalb werden Arme auch nicht als Feinde betrachtet, sondern als Konsumenten in spe.” (S.69)

Eine dümmlichere Apologie des neoliberalen Marktradikalismus hat man selten gelesen, was erstaunt ist jedoch vor allem der Publikationsort. Die “Blätter” waren über Jahrzehnte ein Ort linker Kritik an Machthabern und ihrer Herrschaft durch Diskriminierung, Gewalt und Unterdrückung, deren Opfern der neoliberale Ideologe im Ökopelz Welzer hier zynisches Hohnlachen entbietet. Kaum ein Leser dürfte dort Welzers Mär vom feindlosen Konsumismus schlucken, der seine Rohstoffe nicht durch neokoloniale Raubkriege gewinnt und in den trotz steigendem Überfluss verhungernden Slumbewohnern vor allem die “Konsumenten in spe” sieht. Welzers universale Marktbeglückung, bei der eben zufällig mal einige schlechter davonkommen, was aber nicht an Macht und Ungleichheiten  liege,  sollte Widerspruch wecken. Einige Blätter-Leser wissen um die nicht zufällig schlechteren Chancen eines hungrig zur Schule trabenden Hartz-IV-Kindes gegenüber dem von “historisch gewachsener Ungleichheit” begünstigten Millionärserben und sind auch tiefgründigere historische Analysen gewöhnt als diese von Welzer: “Als der Ostblock so unspektakulär zusammengebrochen war, als hätte die Geschichte bloß einen Furz gelassen, startete die Globalisierung in Form der kapitalistischen Wachstumswirtschaft richtig durch” (S.71).

Auch sonst furzt sich Welzer ein krudes Welt- und Menschenbild zusammen, von der westlichen Überlegenheit, die von der Energie herkomme, die in Psychophysik und Psychoanalyse sichtbar, bei uns in Europa seit der Aufklärung den dynamischen Eroberertyp zum Heroen machte -nicht den still meditierenden Mönch wie zuvor und auf anderen Kontinenten. Sicher ein harter Schlag für Alexander, Cäsar und Dschingis Khan, das zu hören. Welzer ergeht sich in endlosen Aufzählungen meist ökologischer Kritik als hätte er sie erfunden, ohne all jene zu nennen, die seit Jahr und Tag gegen die Umweltzerstörung ankämpfen. Stattdessen mündet sein Lamento immer wieder in adressatlosem Moralisieren für “Gemeinwohlökonomie” und in einer Flut von Appellen an “uns alle”, inklusiv der appellativen Mahnung, die “Praxis des Widerstands” gelinge “nur praktisch, nie appellativ” (S.77). “Deshalb kommt es auf uns an. Ausschließlich auf uns.” Welzers genialer Lösungsvorschlag für die Probleme der Welt: “…die besseren Möglichkeiten der Zukunft gegen die schlechteren der Gegenwart durchzusetzen.” Darauf muss man erstmal kommen –bleibt abzuwarten, wie viele Leser der “Blätter” in Zukunft nach der Möglichkeit einer besseren Quelle für politische Artikel suchen werden.

Der “Spiegel”: Entpolitisierung für Fortgeschrittene

Doch die “Blätter” sind nicht allein: Welzer darf auch im “SpiegelWahl des kleineren Übels(Kritikern als BILD am Montag bekannt) über volle zwei Seiten Werbung für sein neues Buch machen. Titel des “Spiegel-Essays”: “Das Ende des kleineren Übels: Warum ich nicht mehr wähle”. Darin jammert er über die enttäuschten Hoffnungen auf Änderung der Welt durch Beteiligung an Wahlen. Nie hat Welzer begriffen, warum es “ausgerechnet Rot-Grün war, die mit der Agenda 2010 genau jene Deregulierungs-, Privatisierungs- und Steuersenkungspolitik exekutiert hatte, die dem neoliberalen Wunschzettel so punktgenau entsprach”. “Spiegel”-Leser wohl auch nicht, sonst hätten sie Bertelsmanns neoliberales Propagandablatt wohl abbestellt, das von jenem Konzern stammt, der Rotgrün zu Marktgläubigen umerzogen hat. Nie kapierte Welzer auch, warum Schwarz-Gelb “das energiepolitische Jahrhundertprojekt auf den Weg brachte, von dem die Grünen jahrzehntelang geträumt hatten”. Wahrlich verwunderlich, hat Welzer nicht mitbekommen, dass da in Fukushima was explodiert ist? Oder dass Merkel vorher just dabei war, die symbolischen Atomausstieg-St.Nimmerlein-Gesetzchen der Grünen abzuwickeln? So spricht er das politisch nur noch marginal interessierte und informierte Spiegel-Publikum an, dass sich aber irgendwie immer noch links oder grün wähnt und damit in Gefahr ist, doch zur einzigen nicht neoliberalen Alternative abzuwandern: Der Linken, deren Kritik Welzer in seinem Lamento teilweise nachgeplappert hat, natürlich unter Auslassung der Ursachenanalyse.

Aber nur so ergibt Welzers weiteres Jammern über “den Wahlakt als ein masochistisches Exerzitium” einen Sinn, denn jahrelang wurde sein “Kreuzchen bei CDUFDPGRÜNELINKE” von der Suche nach dem “kleineren Übel” getrieben. Halt. Hat Welzer da tatsächlich die Linke in eine Reihe mit den (Ex-) Regierungsparteien gestellt? Obwohl sie im Bund noch nie die Chance hatte, Welzer zu enttäuschen? Obwohl sie im Westen als WASG erst entstand, nachdem die SPD sich kurz nach Schröders Wahlsieg über Kohl brüsk dem Neoliberalismus  zuwandte? Soviel zu Welzers “Selbst denken”. Seine “Anleitung zum Widerstand”: “Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung eines Einverständnisses mit der Politik der Parteien”. Leider ist dies, wie schon die maoistischen Sektierer vom KBW 1981 nach ihrem Aufruf zum Wahlboykott (“Zeigt es den Bonzen in Bonn!”) feststellen mussten, ein dümmlicher Akt, der den besagten Bonzen am Anus vorbeigeht. Seine Individualisierung und Psychologisierung der Politik endet in gelernter politischer Hilflosigkeit. Nach den Lobpreisungen des “Konsumismus”, Motto: “An sich selbst denken”, nun also das lamoryante Fazit “Sich Selbst bemitleiden: Anleitung zur Hilflosigkeit”. Damit wird sein Buch bestimmt zum Bestseller -die neoliberale Firma dankt.

Und am Bertelsmann-Stammsitz in Gütersloh ist abends der Sozialpsychologe und Bestsellerautor Prof. Dr. Harald Welzer zu Gast auf dem „Grünen Sofa“. Er diskutiert faktenreich wie unterhaltsam mit dem Philosophen und „Quer“-Moderator (Bayerisches Fernsehen) Christoph Süß vor Bertelsmann-Mitarbeitern über die möglichen Folgen des Klimawandels – und unseren täglichen Kampf gegen die Endzeit. Bertelsmann Pressemitteilung

32. Netzwerktreffen der Initiative „Wege zur Selbst GmbH“: Professor Meinhard Miegel machte sich in seinem Vortrag Gedanken zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in diesem Jahrhundert…
Abschließend skizzierte Professor Harald Welzer, Autor des Buches „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“, ein Zukunftsszenario aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Bertelsmann-Stiftung

Quellen:

Harald Welzer, “Das Ende des kleineren Übels: Warum ich nicht mehr wähle”, “Spiegel” 22/2013, S.122f.

Harald Welzer, “Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand”, Frankfurt 2013