Von der Jasminrevolution zur Verfassung

Gerd R. Rueger tunisia-flag-svg

Fast alle Westmedien beglückwünschten Tunesien für seine in Kraft gesetzte neue Verfassung. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon lobte die Tunesier als ein Vorbild für andere Völker, „die Reformen wünschen“. Griechen, Spanier, Portugiesen, die eine Reform der neoliberalen Finanzdiktaturen wünschen, sind damit natürlich nicht gemeint. EU-Europa zeigt der Levante lieber weiterhin seine ausgeplünderte, verelendete Südzone, gibt aber Tunis viele gute Ratschläge. Die Klerikal-Diktatur des Vatikanstaat mahnt Demokratie an -in Tunesien.

Tunis. Im Herbst 2013 begann unter Führung des Gewerkschaftsbundes Union Générale des Travailleurs de Tunisie (UGTT) ein nationaler Dialog. Nach dem Mord an Chokri Belaïd im Februar 2013 musste die Ennahda Schlüsselministerien, darunter das Innenministerium, an als unabhängig geltende Politiker abgeben. Das Ziel war jetzt, eine Expertenregierung einzusetzen, die 2014 Parlaments- und Präsidentenwahlen organisieren soll. Die westlichen Finanz-Diktaturen lieben solche Expertenregierungen, die als angeblich neutrale Instanz, wie Unternehmensberater im Betrieb, den Völkern harte Maßnahmen verkünden sollen. Am 29. Januar legte die Expertenregierung in Tunis ihren Amtseid ab, einen Tag später gab der IWF den 500 Millionen Dollar-Köder für Tunesien frei, die er „wegen der politischen Krise“ blockiert hatte. Jetzt hat Tunesien seine Verfassung und alles ist eitel Sonnenschein in deutschsprachigen Medien und seitens der deutschen Bundesregierung.

Lob aus aller Welt

Spitzenpolitiker aus aller Welt, weiß die deutsche Tagesschau, haben die Verabschiedung der neuen Verfassung in Tunesien als großen Erfolg für das Land und seine Bürger gewürdigt, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bezeichnete den in der Nacht vom Übergangsparlament angenommenen Text als „historischen Meilenstein“. Moon lobte die Tunesier als ein Vorbild für andere Völker, „die Reformen wünschen“. Griechen, Spanier, Portugiesen, die eine Reform der neoliberalen Finanzdiktaturen wünschen, sind damit natürlich nicht gemeint.

Das tunesische Übergangsparlament habe nach zwei Jahren heftigen Ringens die neue Verfassung angenommen, erfährt der ARD-Konsument, 200 Abgeordnete hätten für den Text gestimmt, lediglich vier Parlamentarier votierten dagegen. Die neuen Regelungen gälten als wegweisend in der arabischen Welt. Festgeschrieben seien „in dem Land mit fast durchgängig muslimischer Bevölkerung“ sogar Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit sowie Geschlechtergleichstellung.

Im Gegensatz zu fast allen anderen arabischen Ländern sind die Prinzipien der islamischen Scharia (Religionsgesetz) in Tunesien nicht Hauptquelle der Gesetzgebung. Zudem gibt es auch keine Sonderregelungen, die das Militär praktisch jeder zivilen Kontrolle entziehen – wie beispielsweise in der neuen ägyptischen Verfassung. Tunesien gilt seit dem Sturz von Langzeitherrscher Zine el Abidine Ben Ali vor drei Jahren als das Mutterland des Arabischen Frühlings.“

Der geplante demokratische Übergang habe sich allerdings als schwieriger als gedacht erwiesen. Der Mord an dem Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi Ende Juli hätte eine schwelende politische Krise eskalieren lassen. Der bei den ersten Wahlen nach der Revolution zur stärksten Partei gewordenen Ennahda wäre eine politische Mitverantwortung an dem von Extremisten verübten Attentat vorgeworfen worden. Die islamistische Bewegung hätte daraufhin eingewilligt, die Regierungsverantwortung im Rahmen eines nationalen Dialogs abzugeben, um die politische Krise zu beenden.

Bis zu den noch dieses Jahr geplanten Neuwahlen solle jetzt eine neue Expertenregierung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Mehdi Jomaâ (51) das Land führen. Der bisherige Industrieminister wäre bereits im Dezember für die Regierungsspitze bestimmt worden und hätte jetzt sein Team dem Übergangspräsidenten Moncef Marzouki vorgestellt. Es bestehe aus 21 Ministern und sieben Staatssekretären, drei von ihnen Frauen. Soweit die huldvolle ARD-Würdigung.

Für die links- bis neoliberale Süddeutsche erreichte Tunis einen politischen Etappensieg: „Die Abgeordneten in Tunis feierten den politischen Etappenerfolg mit Applaus und Jubelrufen“. (SZ)

Die ehemals linksliberale, aber nun abgewirtschaftete Frankfurter Rundschau, die 2013 nicht weniger als 80-90 Prozent ihrer Belegschaft entlassen hatte, gibt sich noch enthusiastischer:

Die FR titelt: „Tunesien Tunesiens glücklicher Neubeginn“ und jubelt über das „Ursprungsland der Arabellion“ und seine neue Verfassung, denn die sei kompromissbereit und gewaltfrei, setze sogar bei der Gleichstellung der Frauen es neue Maßstäbe in der Region. Tunesien sei nach seiner neuen Verfassung ein demokratischer Staat, der von einer zivilen Regierung geführt wird. Die Macht sei recht gleichmäßig zwischen Parlament und Präsident verteilt und man merke dem Dokument an, dass es eine Rückkehr zu einem autoritären Regime möglichst verhindern wolle. Als Gegenleistung für die Islamisten wurde aber ein sehr umstrittener Artikel in die Verfassung aufgenommen: So macht sich weiterhin strafbar, wer Religionen und Heiligtümer beleidigt. Doch das könne die Freude nicht ernsthaft trüben:

Viele der Delegierten weinten vor Freude, andere tanzten, fielen sich begeistert in die Arme: Am späten Sonntagabend wurde das neue tunesische Grundgesetz mit überwältigender Mehrheit von der verfassungsgebenden Versammlung angenommen.“ (Frankfurter Rundschau)

Der Standard“ aus Wien verweist dagegen auf die Geburtswehen der tunesischen Demokratie:

Es war keine leichte Geburt. Über zwei Jahren hatte es gedauert, bis die Verfassung fertig war. Meinungsverschiedenheiten zwischen der stärksten Fraktion im Parlament, der islamistischen Ennahda, und den säkularen Kräften hatten den Prozess immer wieder zum Stocken gebracht. Mehrmals drohte der Übergang zur Demokratie zu scheitern. So im Februar und im Juli 2013, nachdem jeweils ein linker Oppositionspolitiker ermordet wurde. Es war letztlich der Druck der Zivilgesellschaft und die Vermittlung der Gewerkschaft UGTT, die zur Einigung führten.“

Noch skeptischer zeigt sich die erzkonservative Schweizer NZZ:

Sie titelt „Eine neue Verfassung macht nicht immer einen neuen Staat“, die Vorreiter des arabischen Frühlings, Ägypten und Tunesien, hätten sich zwar neue Verfassungen gegeben, das sei aber nur für das eine Land eine gute Neuigkeit. Die tunesische Verfassung sei „sogar ausserordentlich modern“, greife aktuelle Themen unserer Zeit auf, wie etwa das Recht auf Wasser. Aber, so zitiert die NZZ eine Nahostwissenschafterin, die Verfassung sei „nicht demokratisch“ ausgearbeitet worden: Nach dem Sturz des Muslimbruder-Präsidenten Mursi im vergangenen Sommer hätte der Übergangspräsident eine 50-köpfige Verfassungskommission ernannt, die nur zwei Vertreter islamistischer Strömungen enthielt. Die größte politische Oppositionskraft hätte damit kein Gewicht erhalten, meckert die NZZ. Warum dies „nicht demokratisch“ sein soll, erklärt sie freilich nicht. Wenn demokratisch gewählte Politiker ein Verfahren festlegen, über dessen Ergebnis dann demokratisch abgestimmt werden kann, wirkt es doch ziemlich demokratisch. Doch die alpinen Plebiszit-Weltmeister, die mittels eines solchen gerade einen fremdenfeindlichen Einwanderungs-Stopp beschlossen haben, glauben ja oft, sie hätten die Demokratie erfunden.

Den Vogel abgeschossen hat aber der Vatikan –hoffentlich keine heilige Taube. Sein deutschsprachiger Sender Radio Vatikan mahnte in Richtung Tunesien: „Verfassung muss mehr als nur Fassade sein“. Nach der Bestätigung der neuen Verfassung in Tunesien habe ein katholischer Geistlicher im Land vor „zu großer Euphorie“ gewarnt:

„‘Erst einmal müssen die Politiker beweisen, dass die Verfassung mehr ist als nur Fassade‘, sagte der Ordensmann Ramon Esheverria von der Gemeinschaft der Weißen Väter im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Tunis. Vor allem wirtschaftliche Stagnation und Arbeitslosigkeit seien Probleme, die die letzte Regierung vernachlässigt habe. ‚Wenn die Leute genug zu essen und Arbeit haben, stärkt das auch die Demokratie‘, so der Ordensmann. Obwohl sich die Islamisten aus der Regierung zurückgezogen hätten, fänden sie in der Bevölkerung nach wie vor viele Anhänger, so der Geistliche. Es gebe gute Chancen, dass die Partei bei den Präsidentschaftswahlen bestätigt werde. Gleichzeitig begrüßte der Pater die Gleichstellung von Mann und Frau in der neuen Verfassung, die Meinungsfreiheit und einen Gesetzesartikel, der Diffamierungen wegen Unglaubens untersagt.“

All das hier katholisch-klerikal gelobte Gesetzeswerk fehlt freilich dem Vatikan selbst. Der Kirchenstaat ist nach wie vor eine Klerikal-Diktatur, die von Meinungsfreiheit, Gleichstellung der Geschlechter usw. nur träumen kann. Wie wäre es mit einer demokratischen Verfassung?

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