Cholera und Kommunikation

Gerd R. Rueger 26.Mai 2009  (aktualisiert März 2010)

„Eine medizinisch-wissenschaftliche Tatsache eignet sich besonders für unsere Betrachtungen, weil sie sich historisch wie inhaltlich sehr reich gestaltet und erkenntnistheoretisch noch nicht abgenützt ist.“

Ludwik Fleck (1934), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, textgleiche Neuauflage Frankf./M. 1980.

Die Moderne gewann einen Teil ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion aus interkulturellen Studien, die zunächst im kolonialen Kontext einen deutlichen Machtaspekt behielten: Der Weiße Mann brachte den Wilden erst den rechten Glauben, dann die rechte Zivilisation. Doch das Andere ließ sich nicht einfach leugnen und vernichten, wenn ein wissenschaftlicher Zwang zur Dokumentation, Organisation und Reflexion sich langsam durchsetzte. In Abwandlung von Nietzsche könnte man sagen: Wenn du lange genug in den Abgrund des Anderen blickst, blickt das Andere irgendwann zurück –oder dann blickst du mit den Augen des Anderen auf dich zurück. Der Interkulturalität parallel ist die Interdisziplinarität zu sehen, wenn wir wissenschaftliche Schulen durch die Augen der Anthropologin sehen. Karin Knorr-Cetina legte mit „Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft“ (1991) die im Original 1981 mit „An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science“ untertitelt wurde, einen solchen Ansatz vor, wobei „Science“ im Englischen mit Naturwissenschaften identifiziert wird, von der die Geisteswissenschaften als Künste („Arts“) hinsichtlich ihres Erkenntniswerts deutlich unterschieden werden. In dieser berühmten Studie zur Ethnologie der Laborforschung beginnt sie ihr 7.Kapitel „Wissenschaft als interpretative Rationalität oder: Die Übereinstimmung zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften“ mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: „Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung… und nicht eine Welt-Erklärung  ist.“ (S.245)  Von Diltheys verstehender Soziologie führt sie ihre Argumentation über Gadamers These der „Universalität von Hermeneutik“ zu Wittgenstein, Feyerabend, Toulmin und Thomas S. Kuhn. Kuhn kam 1962 zu dem Schluss, dass Naturwissenschaft normalerweise in Traditionen verankert ist, die sich intern auf ein konsistentes Sprachspiel (wie Wittgenstein gesagt hätte) einigen können. Verschiedene Traditionen seien aber „inkommensurabel“, eigentlich nicht in einander übersetzbar, denn die Rahmung von Tatsachen durch Theorie und Methodik einer Tradition sei eine Interpretation, die dem hermeneutischen  Zirkel in den Humanwissenschaften entspräche: Es geht um die „Theoriegeladenheit“ der Beobachtung. „Realität“ wird konstruiert, nicht entdeckt –der konstruktivistische Blickwinkel.

Ludwik Fleck: Denkkollektive oder kollektive Intelligenz?

Erstaunlich ist, dass Knorr-Cetina den Wissenschaftler übersah, der bereits eine Generation zuvor diese Perspektive entwickelt hatte: Den polnisch-deutschen Juden Ludwik Fleck. Eine genaue Lektüre von Kuhn hätte sie auf diesen Klassiker aufmerksam machen können, denn Kuhn nennt Fleck ausdrücklich. Die akademische Laufbahn von Fleck wurde durch den deutschen Faschismus zerstört, er musste seine medizinische Forschung in Auschwitz und Buchenwald in den Dienst der SS stellen. Als führender Experte für Typhus-Impfstoffe wurde er in den KZ-Laboren von Auschwitz und Buchenwald eingesetzt, wo er trotz argwöhnischer Bewachung durch die SS unter Lebensgefahr den von ihm hergestellt wertvollen Impfstoff an die Lagerinsassen weiterleitete. Die SS, der die Typhus unter ihren inhaftierten Opfern willkommene Hilfe beim Massenmord war, erhielt stattdessen wirkungslose Präparate (Schäfer/Schnelle: Einleitung zu Fleck 1981, S.XIIf.). Die Nazi-Schergen waren offenbar zu dumm, den von ihnen ausgebeuteten Wissenschaftlern einzureden, sie würden für eine gute Sache, für die Menschheit etc. arbeiten. Heutige Machteliten haben daraus gelernt, wenn sie sich Intelligenz in Labors halten und die scheinheilige Proklamation einer hohen Ethik gehört heute ebenso selbstverständlich dazu, wie die Ausbeutung der gewonnenen Erkenntnis  zum Nutzen nur der besagten Machteliten.

Fleck bearbeitet die wissenschaftshistorische Seite der Problematik anhand der Erforschung der Syphilis und spricht von „Denkkollektiven“ und „Denkstilen“, in denen sich Arten der Konstruktion von „Realität“ herausbilden. Die soziale Bedingtheit jedes Erkennens war für eine Selbstverständlichkeit, wobei der Träger der Entwicklung eines Denkgebiets und seines Wissensbestandes das Denkkollektiv war: Die Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen (Fleck 1981, S.54). Heute glauben viele, über die Netze sei eine globale Gemeinschaft des Austausches von Gedanken entstanden, einige träumen von einer „kollektiven Intelligenz“ (Pierre Levy).

Die Wikipedia-Halbwissensgesellschaft

Leider übersehen sie dabei die Übersetzungsprobleme zwischen Denkkollektiven und so ist das Internet wohl in erster Linie der Ort des Austausches von nur halb- oder falschverstandenen Informationen, weniger von Erkenntnissen und Wissen. Diese würden ein mühsames, zeitaufwändiges Einarbeiten in die Sprachspiele und Denkstile erfordern, an dem es heute in der schönen neuen Welt des oberflächlichen Wikipedia-Wissens mangelt.

Gesucht ist heute oft leicht konsumierbares Wissen, also eher Halbwissen, das den größten Teil seiner Intelligenz auf die Präsentation verwendet. Dieser Einwand soll nicht als generelle pessimistische Kulturkritik missverstanden werden. Man muss Halbwissen nicht als schlimmer denn Nicht-Wissen verdammen: Ein Mut zur Lücke, der sich dessen bewusst bleibt, ist heute angesichts der Wissenlawine ohnehin unumgänglich. Nur wer seine Erkenntnis absolut setzt, begeht einen Fehler. Aber dies gilt, wie uns die Wissenschaftskritik erklärte, nicht nur für den Wissen zusammen googelnden Websurfer, sondern auch für die bestinformierten Fachwissenschaftler. Auch ihr Wissen ist nur vorläufiger Stand der Erkenntnis, zudem aus Sicht anderer Disziplinen, anderer Schulen mit anderen Denkstilen oft ganz anders zu interpretieren. Dazu kommt immer mehr der Faktor Geldmacht, umso mehr, umso weiter die Kommerzialisierung der Wissenschaften voran schreitet. Immer mehr Wissenschaftler nehmen Geld von Intressengruppen, die sich Expertise einkaufen, Ergebnisse, Patente –im Endeffekt eine Weltsicht erschaffen lassen, in der sie natürlich im besten Licht dastehen.

Auch dies gilt es, in eine Bewertung von Erkenntnis einzubeziehen, aber gerade Naturwissenschaftler haben hier meist einen blinden Fleck. Bei Sozialwissenschaftlern gibt es diesen auch und schlimmer noch, einen ungesunden Zynismus, der eine gezielte Produktion von „wissenschaftlicher“ Desinformation als lukrative Tätigkeit pflegt. Hier hilft das Netz durch Transparenz: Google findet nicht die Wahrheit über ein Wissensgebiet, kann aber die Hintergründe des Wissen produzierenden Denkkollektivs aufdecken. Leichter als in eine Theorie- oder Methodenwelt einzudringen ist es, Firmenverbindungen und Finanziers zu ermitteln. Und dies sagt manchmal mehr über eine vermeintlich sichere Erkenntnis aus, als die Fachartikel der Forscher.

So ergibt sich eine unübersichtliche Lage der Erkenntnissuche, der nur mit dem Abschied eines Glaubens an Objektivität der Tatsachen begegnet werden kann. Man mag dies ‚Popular Science‘ nennen oder postmoderne Wissenschaft –in unserer heutigen Interface Cultur der Virtualität erlaubt das Cognitiv Mapping zweifellos neue Formen von Grenzüberschreitung (vgl. Krysmanski 2001: 96-98). Ein denkkollektiver Kontext unserer Suche nach den Bedingungen von netzbasierter Telekommunikation muss also zumindest grob umrissen werden. Hier besteht dieser Kontext aus einer sinnstiftenden Gesellschaftstheorie als äußerer Klammer unseres Unterfangens: Einer Soziologie, die mit den Namen Karl Mannheim und Charles Wright Mills nur angedeutet werden soll. Mannheim entstammte einer soziologischen Generation, für deren Selbstverständnis und Stil es kennzeichnend war, dass sie zwar auf die Autorität exakter Methoden und gesicherter Evidenzen setzte, aber in einem gewissen Kontrast dazu durchaus Anspielungen und Vieldeutigkeiten schätzte (vgl. Kettler/Meja/Stehr 1989, S.11).

Wo Mannheim sich noch am Liberalismus abarbeitete (Mannheim 1983), stehen wir aber heute vor dessen zur Monstrosität pervertierten Abart, dem sogenannten „Neoliberalismus“. Dessen Protagonisten wollten sich in ideologischer Umnachtung lange überhaupt nicht als solche identifizieren, glaubten sich tatsächlich als die einzig vernünftig Handelnden einer sogenannten ‚Globalisierung‘ –oder gaben dies zumindest vor. Diese Globalisierung beruhte zum einen auf enorm subventionierten Ferntransportkosten und entsprechend ausgeweitetem Handel vor allem jedoch in den neuesten Telekommunikations- (Tk-) und Computertechnologien, die sich zu globalen Netztechnologien verdichteten und nicht nur den Finanzsektor dabei revolutionierten.

Totalitäre Think-Tank-Typhus

Inzwischen ist der Neoliberalismus begrifflich und politisch besser aufgearbeitet, aber seine junge Geschichte bedarf noch einiger Analysen. Hinter seinen Protagonisten verbergen sich, wie immer deutlicher wird, die alten Mächte plutokratischer Strukturen, die in Think Tanks bezahltes Expertenwissen propagierenden globalen Geldeliten der Reichen und Superreichen (Mills 1959, Lundberg 1971). Wie solches Think Tank-Wissen sich in politische Macht umsetzt, ist eine Frage, die auch am Bereich der neoliberalen Deregulierung des Tk-Sektors ansetzen muss. Hier hilft die Soziologie als geistiger Radarschirm, als umfassende Gesellschaftswissenschaft, die den kritischen und selbstreflexiven Impuls der Moderne mehr bewahrt hat als andere Disziplinen (Krysmanski 1993). Die politikwissenschaftlich führende Dimension der Macht lässt sich mit ihrer Hilfe auch in der Vergangenheit und sogar in der fremden Kultur aufspüren, bemüht man nur genug der ‚sociological imagination‘ (Mills 1959). Die Neigung der Soziologie, gerade gesellschaftliche Konflikte ins Visier zu nehmen (Mannheim 1932; Krysmanski 1971), führt heute direkt zu soziologischen Hintergründen des dominierenden Neoliberalismus, zu den superreichen Geldmächtigen, ihren Verwaltern der Welt, den Konzerneliten, und last but not least, ihren politischen Eliten, denen obliegt, einen zunehmend fadenscheiniger werdenden Mantel angeblicher Verteilungsgerechtigkeit zu produzieren. Die Wissenschaft steht in diesem Ringmodell der Macht (vgl. Krysmanski 2004: 56-78)  als technokratische Elite bereit, ihr –zuweilen nur vermeintliches– Expertenwissen anzudienen Die Wissenschaft hat jedoch auch die Wahl, aus kritischer Sicht das ganze Regime zu reflektieren -wer hier statt ‚Regime‘ an den Begriff ‚System‘ denkt, hat schon halb verloren, denn er hat womöglich schon im Sinne der affirmativen Schule Luhmanns die expertokratische Perspektive übernommen.

Cholera und Kommunikation

Anfang der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der gesamte Erdball von einer neuartigen epidemischen Erscheinung ergriffen: der „Cholera asiatica“, der asiatischen Cholera. Sie hat wie keine andere Krankheit im 19. Jahrhundert die Zeitgenossen in panische Angst und die Gesellschaften in einen Ausnahmezustand versetzt. Fast in allen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen der Gesellschaft hat die Seuche ihre Spuren hinterlassen. Als die erste Pandemie in den 30er Jahre des 19. Jahrhunderts in Europa ausbrach, fielen ihr Millionen zum Opfer. Besonders in Europa, das voller Hoffnungen und Utopien an der Schwelle zur industriellen Gesellschaft stand, machte dieses Geschehen so allen Fortschrittsglauben zunichte und beschwor die Endzeitstimmung der Pestzeiten wieder herauf. Religiöse Aspekte gewannen an Bedeutung und auch in der damaligen Peripherie, in Tunis, entstand eine neue Bruchstelle zwischen Moderne und Theologie.

Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der gesamte Erdball von einer neuartigen, sich  epidemisch ausbreitenden Erscheinung ergriffen: der Informations- und Telekommunikationstechnologie. Sie hat wie keine andere Technologie im 20. Jahrhundert die Zeitgenossen in hysterische Euphorie und die Gesellschaften in einen Ausnahmezustand versetzt. Auch hier spielen quasi religiöse Aspekte eine Rolle –Glaube an Mächte des Marktes und der Deregulierung mischen sich in den Fortschrittsglauben an neue Technologien und die unbegrenzte Macht der Kommunikation. Man sieht die Welt im Umbruch. Es zeichne sich ab, dass wir uns von einer Industriegesellschaft zunehmend in Richtung einer Wissens- bzw. Informationsgesellschaft entwickeln, die durch eine verstärkte Wissensorientierung geprägt ist, was an ihrer Qualität als Industriegesellschaft jedoch zunächst nichts ändert.  Dennoch zeichne sich nunmehr auch für die industrielle Arbeitswelt ein Umbruch ab, der in seiner Tragweite mit der Durchsetzung der industriellen Massenproduktion verglichen werden könne.

Chile: Neoliberalismus wollte Naturgesetze deregulieren

Globalisierung, Internationalisierung und Deregulierung des Welthandels hätten sowohl zu einer steigenden weltweiten Wirtschaftsleistung, als auch zu einer Intensivierung des Wettbewerbs geführt. Die veränderten Wettbewerbsbedingungen verlangten von Unternehmen gesteigerte Flexibilität und Innovationsfähigkeit, so heißt es.  Wie sehr der marktgläubige Neoliberale sich von modernen zurück zu vormodernen Denk- und Sichtweisen bewegt, war im Erdbebengebiet Chile zu verzeichnen. Dort waren Befürworter umfassender Deregulierung gegen die ihrer Ansicht nach überbordende staatliche Bürokratie der Baubehörden Sturm gelaufen, die eine recht strikte Einhaltung von Baurichtlinien der Erdbebensicherheit durchzusetzen pflegen. Da Chile seit drei Dekaden kein Beben mehr erlebte, meinten die Neoliberalen, da könne man jetzt das Baurecht deregulieren. Im religiösen Wahnzustand waren die Naturgesetze der Geologie außer Sicht geraten und die kurzfristige Perspektive des Shareholder-Value-Denkens schien auf den Bausektor wie auch auf Mutter Erde übertragbar. Zum Glück für die chilenische Bevölkerung schickte die Erde den rationalistischen Baubehörden jedoch einen Erdstoß, der dem neoliberalen Hexentanz einen Riegel vorschob. Das entsetzliche Beispiel der Haitianischen Katastrophe der hundertausende Menschen zum Opfer fielen mag dabei hilfreich gewesen sein.

Die Gläubigen des Marktkultes sind derzeit jedoch vor allem von einer Pandemie besonderer Art gebeutelt: Von der aus den USA auf die globalen Märkte überschwappenden Finanzkrise, die viele angebliche Vorzüge der sog. Globalisierung als reine Strohfeuer entlarvt. Strohfeuer zudem, die entzündet wurden, um die Schafherden der Anleger in den korrupten Sumpf einer auf Täuschung und Betrug basierenden „Finanzindustrie“ zu treiben. Auch heute entbrennt ein Streit zwischen weiterhin Gläubigen und den Kritikern des Neoliberalismus. Moderne und vormoderne Bereiche des Erdballs, aber auch innerhalb der deutschen Kultur werden von den dynamischen Ereignissen in neue Konflikte gestürzt. Wie begann diese Entwicklung, welche politischen Machtstrukturen ließen die Deregulierungswelle anrollen? Feine Machtstrukturen und große Kulturkampfszenarien sind auszumachen, hier Cholera und theologische Schuldzuweisungen, dort Telekommunikation und mythische Verheißungen der Deregulierung im Neoliberalismus.

Die Pest der Privatisierung

Plutokratie, die Herrschaft der Reichen, ist die ‚Privatisierung der Politik’. Politik wird dabei zur ‚Privatangelegenheit’ einer kleinen Gruppe von Superreichen und ihrer Netzwerke, legitimiert oft durch Mythen über deren angebliche Leistungen für das Allgemeinwohl, über angeblich titanenhafte Herkuleswerke oder genialischen Erfindergeist. Politikwissenschaftler sprechen jedoch auch vom ‚verblassenden Mythos der Meritokratie’, also der mythischen Leistungsgesellschaft, und sogar vom ‚Superreichtum als Gefahr für die Demokratie’ (vgl. Krysmanski 2004: 10-12).  Diese Überlegungen bleiben jedoch empirisch etwas blass und betreffen selten konkrete politische Entscheidungsabläufe. Hier greift dagegen die Netzwerkforschung mit folgender vorläufiger Definition: „Policy networks should be conceived as specific structural arrangements in policy making.“ (Kenis/Schneider 1991: 41).. Ein wesentlicher Grund für die verstärkte politikwissenschaftliche Verwendung des Konzepts der Politiknetzwerke (ebd.) besteht in seinem zweifachen Nutzen: erstens als Methode der Strukturbeschreibung im Sinne einer formalen Netzwerk-Analyse, zum anderen als Form der Politiksteuerung in modernen Gesellschaften mit fragmentierten Administrationen.

Solche Administrationen gedeihen bestens auf dem Substrat imperialistischer Staaten. Der Imperialismus als frühe Entwicklungsphase des modernen Kapitalismus beförderte bekanntlich das Zusammenwachsen, andererseits die Aufteilung der Welt in einen reichen Nord- und einen armen Südgürtel. Die Weltwirtschaft expandierte dabei stark, technische Revolutionen führen u.a. zur Massenproduktion von Gütern. Eine nie dagewesene Konzentration von Kapital fand statt, der tertiäre Sektor wuchs, eine „bis ins Einzelne gehende Einmischung des Staates in die Wirtschaft zugunsten der herrschenden Klasse im allgemeinen, des Monopolkapitals und der Großagrarier im besonderen“ setzte ein, wobei die Bestimmungen der herrschende Klasse um die Begriffe der Monopolbourgeoisie und der Finanzoligarchie kreiste (vgl. Krysmanski 1989: 149ff.). Ausgehend von den marxschen Annahmen vom tendenziellen Fall der Profitrate erläuterte. Lenin (1916/17) den Zusammenhang zwischen steigender Konzentration des Kapitals und wachsenden Verwertungsschwierigkeiten auf dem inneren Markt, was zwingend zur Expansion auf auswärtige Märkte, zur Annexion fremder Gebiete usw. führte. Als Agent des Imperialismus war dabei das Finanzkapital zu sehen: eine kleine Gruppe von Industrieführern und Bankvorständen.

Globalisierung und Informatisierung

Durch Globalisierung und Informatisierung werden wir mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass irgendein regionales oder nationales Gebiet den Zustand der Autonomie oder gar der Subsistenz erreicht, sich vom Weltmarkt abkoppelt. So hat die Rettung der Utopie nur eine Chance, wenn die Marxisten den Gedanken einer globalen Totalität festhalten und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das Entstehen des Neuen erwartet werden kann. So wie Erkenntnis ist auch Herrschaft Aus- oder Vorgriff auf weltgesellschaftliche Totalität. Die Strukturen der Moderne, insbesondere der Staat, entlang derer Totalität einst begriffen werden konnte, lösen sich auf. Die Moderne verabschiedet sich mit Karikaturen ihrer selbst, mit Zeugnissen eines „immensen monadischen Stils wie den Weltbeherrschungsphantasien des Faschismus oder eines ‚American Empire‘. Schon Mannheim wandte sich der Soziologie mit dem Ziel einer rationalen und humanen Überwindung sozialer Konflikte zu, wobei seine Analysen politischer Ideologie ebenso wegweisend waren wie sein Ringen um eine gerechte soziale Ordnung (Mannheim 1983). Eine als Einheit der Kulturen und Ökonomien gedachte Globalisierung könnte nur in friedlichen Konflikten gelingen, in kulturell-religiös bewussten High-Tech-Auseinandersetzungen. Dies könnte der Sinn des Versuchs einer Epochenbestimmung jenseits des Kollaps der Moderne sein, eines Kollaps, wie er als Ende der Geschichte oder Beginn eines Empire von neofeudalen Barbaren verkündet wird (vgl. Krysmanski 2001,S.186f.).

In den Sozialwissenschaften haben Systementwerfer wie Talcott Parsons und Niklas Luhmann einen Begriff von Weltgesellschaft vorbereitet, wie er subjektloser und indifferenter nicht sein könnte. Dieser Begriff erlaubt Handlungsorientierungen allenfalls noch denjenigen, die das System praktisch beherrschen –Technokraten, CEOs und Experten. Systemtheorie wird von all jenen begierig aufgegriffen, die sich die Machteliten als ‚Experten‘ andienen wollen, um am Reichtum bzw. seiner immer ungerechteren Verteilung zu partizipieren –gelegentlich mit der einen oder anderen Rechtfertigung moralischer Art, zunehmend aber ohne eine solche, was sich als Ehrlichkeit glorifizierend von der, soweit nur Heuchelei zu Recht, all überall gescholtenen ‚political correctness‘ abgrenzt. Die Widersprüche sind enorm, unsere Tk- und Medien-dominierte Realität spiegelt sie und multipliziert sie noch. Viel soziologische Imagination (Mills 1959) ist nötig, die ‚Realitätsbrüche‘, die uns täglich umgeben –und die den lebensweltlichen Alltagsperspektiven eine disziplinierte und normierte Mainstream-Mediensicht geradezu aufnötigen– zu überbrücken und ‚den Daten Sinn abzuringen‘. Cholera und Kommunikation –haben sie wirklich nichts miteinander zu tun? ‚Virales Marketing‘ setzt heute auf die der Selbstunterwerfung vorangehende Selbstmanipulation der Massen, deren medial geförderter Hedonismus sie sich gegenseitig mit Botschaften der Mächtigen berieseln lässt: Power Structure als Pandemie, die etwa über vermeintlich sensationelle oder auch nur lustige Videoclips ihre virale Ausbreitung den Medienkonsumenten und deren via Tk-Infrastruktur enorm gesteigerten Kommunikativität überlässt.

Die Technologie schafft neue informationale Seuchen, wird selbst zur Seuche, die den Menschen befällt –freilich nicht ohne ihm Genuss zu verschaffen. Das Biopolitische, vom Standpunkt des Begehrens aus betrachtet, ist nichts anderes als konkrete Produktion, ist menschliche Kollektivität in Aktion in konkreten Politikfeldern. Begehren, auch etwa das Begehren nach Gesundheit im Angesicht einer schrecklichen Seuche, erscheint hier als produktiver Raum, als die Aktualisierung menschlicher Kooperation bei der Gestaltung der Geschichte. Bezeichnend ist, dass die Macht der Erzeugung und des Begehrens (Foucault) unter dem Regime der privaten Enteignung eine Beute der systemischen Korruption wird. Wo Korruption in der Antike und in der Moderne immer wieder, da moralisch verwerflich, Anlass für Reformen war, kann Korruption heute bei der Transformation von Regierungsformen gar keine Rolle spielen, weil sie selbst ja Substanz und Totalität des Politikfeldes ist. Ablenkung und Angstkulisse schaffen dabei Bedrohungsszenarien, Seuchen sind ebenso willkommen wie Wirtschaftskrisen, die dem Globalisierungsdiskurs wieder durchschlagende Wirkung verleihen sollen. Angst vor Marginalisierung, vor Niederlagen im Standortwettbewerb, tritt neben Angst vor natur- und menschengemachten Katastrophen sowie vor dem Anderen, derzeit vorwiegend den Kopftuch-, Bart- und Turbanträgern.

Web2.0 als Zuckerbrot

Doch zur Peitsche von Terrorkrieg und Überwachung gibt es auch das Zuckerbrot: Geködert wird die Masse mit beschränkter Teilhabe am zumeist nur virtuellen Bereich gesellschaftlichen Reichtums. Angesprochen ist dabei durchaus das einzelne Individuum und seine Neigung, den Angstnachrichten im privaten Eskapismus zu entfliehen –Telekommunikation direkt von den PR- und Kulturpropaganda-Agenturen der Machteliten zum einfachen Untertanen als Form entsubjektivierter Machtausübung. Seit dem 17. Jh. hatten sich neue Formen der Macht auf die Disziplinierung des Körpers gerichtet, um seine Kräfte im Sinne der Produktion und Profitabilität zugleich effektiv zu nutzen und optimal zu kontrollieren (Foucault 1976). Die Reaktion staatlicher Akteure auf Seuchen wie Pest oder Lepra war dabei stets bedeutsam und richtungsweisend. Diese neuen politischen Technologien der Disziplin förderten nicht nur staatliche Institutionen wie das Krankenhaus, die Psychiatrie und das Gefängniswesen, sondern trugen in sich auch das Potential privater, privatisierter Herrschaftstechniken. Die sichtbar gemachte Delinquenz der Unterschichten lenkte nicht nur von den lukrativen, aber unsichtbaren Gesetzwidrigkeiten der Herrschenden ab (Waffenhandel, Prostitution, Drogenhandel usw.); sie ermöglichte auch die ‚Moralisierung des Proletariats‘ (Foucault) und damit private, individuelle Zwangsformen in den Betrieben, in Dienstverhältnissen usw. Auf Seiten der Herrschenden befördert die scheinbare Unsichtbarkeit ihrer Handlungen einerseits zunächst das Entstehen korporativer Akteure, die nur in einem fiktiven, juristischen Sinne ‘Personen’ sind und in Wirklichkeit unpersönliche, z.T. zentral geleitete Organisationen darstellen.

Indem so die Anstrengungen vieler einander fremder Personen ‘gepoolt’ werden, beginnt eine Verschiebung der Rechtschancen zugunsten korporativer Akteure. Die Machtchancen derjenigen, die solche Organisationen leiten, steigt. Auf der anderen Seite wirkt in diesem Korporatismus immer auch das Prinzip der Privatisierung und speist Gegentendenzen der Steigerung subjektiver bzw. personaler Macht und Geldmacht. Dies bleibt allerdings einem kleinen Kreis von Privilegierten vorbehalten. So sind etwa die Reproduktionsbedingungen personal geregelter Sozialsysteme (z.B. Familien und ihr Vermögen) nur im Bereich des Superreichtums gewährleistet. Zudem entstehen, geeicht auf das korporative System, neue Gruppen Herrschaftshandelnder wie power broker, fixer, superlawyer –unabdingbar für die Dynamik von interorganisationellen Beziehungen–, welche ‘anonymer Herrschaft’ ein Gesicht geben (Krysmanski 2004, S.88ff.). Soweit die pessimistische Sichtweise Krysmanskis, bleibt zu hoffen, dass der Kampf auch nicht superreicher Individuen und Familien usw. weiterhin erfolgreich bleibt. Das Web2.0 kann dabei nützlich sein –man darf nur nicht vergessen, dass dort alles direkt unter den wachsamen Augen der Machteliten geschieht. Und vor allem nicht, dass sie dort ihr Potential an Lügen, Intrigen und subtiler Desinformation immer leichter unters Volk bringen können. Dabei dient die Beobachtung der Web2.0-Kommunikation vermutlich in erster Linie einer Feinabstimmung der Propagandakanäle, die den Input liefern: Umso mehr gilt es, die Mainstream-Massenmedien wachsam zu beobachten, denn sie sind immer noch das Haupteinfallstor der Machteliten in die Köpfe der Menschen.

Quellen:

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen; Frankf./M. 1991 (Or. 1976)

Rueger, Gerd R.: Cholera und Kommunikation, Saarbrücken 2009

Kenis, Patrick u. Volker Schneider: Policy Networks and Policy Analysis: Scrutinizing a New Analytical Toolbox; in: Marin/Mayntz (Hg.): Policy Networks: empirical evidence and theoretical considerations; Frankfurt/M. 1991, S.25- 59

Knorr-Cetina, Karin, The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and contextual Nature of Science, Pergamon Press, Oxford 1981; (dt,) Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984

Krysmanski, Hans Jürgen: Entwicklung und Stand der klassentheoretischen Diskussion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1989, Nr.41, 149-167

Krysmanski, Hans Jürgen: Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne; Münster 2001

Krysmanski, Hans Jürgen: Hirten und Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder Einladung zum Power Structure Research; Münster 2004

Lundberg, Ferdinand: Die Reichen und die Superreichen; Frankfurt 1971

Mannheim, Karl: Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie; Tübingen 1932

Mannheim, Karl: Strukturen des Denkens; Frankfurt 1980

Mannheim, Karl: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus; Frankfurt 1983

Marin, Bernd u. Renate Mayntz (Hg.): Policy Networks: empirical evidence and theoretical considerations; Frankfurt/M. 1991

Mills, C.Wright: White Collar: The American Middle Classes; New York 1951

Mills, C.Wright: Introduction; in: Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions; Ontario 1953

Mills, C.Wright: The Power Elite; New York 1956

Mills, C.Wright: The Sociological Imagination; New York 1959

Rueger, Gerd R.: Cholera  und Kommunikation. Powerstructureanalyse des Politikfeldes der Deregulierung der Telekommunikation im Vergleich mit Pandemiedeutungen am Beispiel der Cholera in Berlin und Tunis; Saarbrücken 2010

Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions; Ontario 1953

2 Gedanken zu “Cholera und Kommunikation

  1. Klingt witzig und interessant, aber 68,- Euro für eine Magisterarbeit ist unverschämt teuer, das kann sie nicht wert sein! Stell die wichtigen Kapitel doch hier online, der Verlag gibt dir sowieso nichts ab von den Einnahmen 😉

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