Neue Regierung in Tunesien: Ausreisesteuer und alte Seilschaften

Gerd R. Rueger tunisia-flag-svg

Tunesiens neuer Staatschef Essid kündigte an, die politisch motivierten Morde in der Vergangenheit, insbesondere an Lotfi Nagdh, Chokri Belaid und Mohamed Brahmi, lückenlos aufzuklären. Generalstreiks und Unruhen flackern dennoch wieder auf -auch wegen einer „Ausreisesteuer“.

Nach den Wahlen die schwierige Regierungsbildung: In Tunesien hatten sich die Parteien auf eine Koalition geeinigt. Sie ernannten das neue Kabinett unter Ministerpräsident Habib Essid aus säkularen Politikern und Mitgliedern der gemäßigten Islamisten-Partei Ennahda. Doch eine „Ausreisesteuer“ entfachte Unruhen: Generalstreik in Tataouine, die Sicherheitskräfte schockieren mit Horrormeldungen: Islamistische Terroristen sickern aus Syrien ein.

In Tataouine, dem größten Verwaltungsbezirk Tunesiens, hatten mehrere Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. Sie protestierten damit gegen eine sogenannte Ausreisesteuer und die Tötung eines Demonstranten bei Protesten gegen diese Abgabe. Am Wochenende war es dann in der Stadt Dahibah zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Die Ausreisesteuer, die vor allem einfache Bürger belastet, hatte den Handel in der Grenzregion zu Libyen fast zum Erliegen gebracht.

“Wir sind uns bewusst, dass diese Regionen lange Zeit an den Rand gedrängt wurden”, so der Gouverneur von Tataouine, Saber Mednini. “Und dass die Menschen in Dahibah besonders vom Handel mit Libyen leben. Als diese verstanden, dass das Gesetz für sie gilt, waren sie sehr verunsichert wegen der Steuer.” Die letzte Woche eingesetzte neue tunesische Regierung versprach, sich um die Menschen in der betroffenen Region kümmern zu wollen. So soll die Ausreisesteuer noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden, eine Kommission soll den Tod des Demonstranten untersuchen.

Bedrohung von außen

Dazu kommt die Bedrohung von außen: Sogenannte „Islamisten“ wollten angeblich Anschläge auf Regierungsgebäude und Sicherheitseinrichtungen unter anderem in Tunis verüben. 32 Verdächtige wurden festgenommen, viele kehrten angeblich kürzlich aus Syrien zurück. Die tunesischen Sicherheitsbehörden behaupten, eine Reihe von schweren Anschlägen auf Regierungsgebäude und zivile Ziele in dem nordafrikanischen Land verhindert zu haben. Ein Sprecher des Innenministeriums erklärte am letzten Samstag, es seien 32 radikale Islamisten festgenommen worden, die „spektakuläre Angriffe“ in der Hauptstadt Tunis und anderen Städten des Landes geplant hätten.

Unter anderem hätten das Innenministerium, Einrichtungen der Sicherheitskräfte und zivile Gebäude angegriffen werden sollen. Ein Teil der Festgenommenen seien Rückkehrer aus Syrien, die sich zuvor dort auf Seiten der Islamisten am Bürgerkrieg beteiligt hätten. Der Kampf gegen den Terrorismus und die öffentliche Sicherheit stehen mit an oberster Stelle für die neue Führung. Essid versprach eine Verstärkung des Zolls, den Kampf gegen die organisierte Kriminalität und eine bessere Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung mit den Nachbarländern.

Regierungsbildung mit Schwierigkeiten

Mit großer Mehrheit hatte das tunesische Parlament der Regierung von Habib Essid das Vertrauen ausgesprochen. 166 Parlamentarier stimmten mit Ja, 30 mit Nein, acht enthielten sich der Stimme. Damit ist vier Jahre nach der Jasminrevolution von 2011 der Weg frei für eine stabile demokratische Regierung. Zur Regierungsmehrheit des parteilosen Ökonomen Habib Essid tragen die säkulare Partei Nidaa Tounes mit 86 Sitzen, die gemäßigt islamistische Partei Ennahda mit 69 Sitzen sowie die Union Patriotique Libre (UPL) mit 16 Sitzen und die liberale Partei Afek Tounes mit acht Sitzen bei. Essid kündigte an, die politisch motivierten Morde in der Vergangenheit, insbesondere an Lotfi Nagdh, Chokri Belaid und Mohamed Brahmi, lückenlos aufzuklären.

Nach der Regierungsbildung in Tunesien waren neben Erleichterung auch kritische Stimmen unüberhörbar. Vor allem die Einbeziehung der islamistischen Ennahda-Partei stößt im säkularen Lager auf Unverständnis, Nidaa-Wähler fühlten sich um ihre Stimme betrogen. Den Wahlsieg verdankte die säkular-konservative Nidaa Tounes Partei der Unzufriedenheit der Tunesier mit der Regierungsarbeit von Ennahda. Durch die Vergabe von Regierungsämtern genießt die neue Regierung zwar breite parlamentarische Unterstützung, doch fehlt ihr die für eine junge Demokratie so wichtige Opposition, so Emna Menif, der Präsidentin der Bürgerbewegung „Kolna Tounes“ („Wir alle sind Tunesien“). Dabei vergisst sie jedoch die Front Populaire: Die Front Populaire ist ein Zusammenschluss mehrerer Parteien und Organisationen, die sich im August 2012 gegründet hat. Ihre Ziele sind insbesondere

  • Demokratie und Menschenrechte;
  • die Trennung von Religion und Politik;
  • der Aufbau einer nationalen, unabhängigen, ausgewogenen Wirtschaft, die die Souveränität der Bevölkerung über die Reichtümer des Landes sicherstellt, ein effektives Wachstum für alle Regionen gewährleistet und auf einer gerechten Verteilung der Reichtümer beruht, sodass die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung in materieller und geistiger Hinsicht befriedigt werden;
  • die Annullierung öffentlicher Schulden auf der Grundlage einer sorgfältigen Überprüfung der von früheren Regierungen eingegangenen Kreditverträge sowie
  • der Aufbau eines demokratischen und einheitlichen Schulsystems für alle.
Strukturreformen??

Der neue Staatschef Essid kündigte dagegen „Strukturreformen“ an, was hoffentlich nicht dem Wortschatz des IWF entliehen ist. Essid will vielmehr den Bedürfnissen der Jugendlichen gerecht werden, gegen den unkontrollierten Anstieg der Preise und den Schwarzhandel vorgehen. Weit oben auf der Liste stehen auch das Müllproblem und die Umweltverschmutzung. Zudem soll die monatliche Unterstützung für 230000 bedürftige Familien um 30 Dinar (15 Euro) auf 150 Dinar angehoben werden.

Die Regierung hat sich ohnehin viel vorgenommen angesichts des Vakuums, das durch die diversen Übergangsregierungen seit der Revolution 2011 entstanden ist. Im Prinzip muss alles reformiert werden – das Unterrichtswesen, die Investitionsgesetze, das Justizwesen, die regionale Entwicklung, um vor allem das Nord-Süd-Gefälle im Lande auszugleichen. Auch Künstlern und Kunsthandwerkern sagte der Ministerpräsident Unterstützung zu. „Die Verwaltung darf kein Hindernis sein“, sagte Essid in seiner Rede, sie müsse die Dinge vielmehr erleichtern.

6 Gedanken zu “Neue Regierung in Tunesien: Ausreisesteuer und alte Seilschaften

  1. Tunesien wird vielleicht ja Musterländle des Westblock für die islamische Welt -so wie die BRD lockendes Schaufenster für die DDR-Bürger (und Polen, Russen, Ungarn usw.) war…
    Dann gehts denen ein paar Jahre besser als anderen -zu Propagandazwecken.

    • …keine Vorschusslorbeeren, aber auch keinen Vorschussessig. Muss erst aufgeklärt werden, bei wem Ben Ali sich unbeliebt machte, dass er abgesägt wurde -der sitzt doch heute im Trockenen oder? In seiner Villa in Florida vermutlich.

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