Bloodmoney und Bankgeheimnis: Der Julius Baer-Leak

Gerd R. Rueger 10.Oktober 2008

„Aber blood-money ist keine nordamerikanischen Spezialität. Auch Europäer tun sich darin hervor, besonders die Schweizer. Eine der großen Quellen für den  fabelhaften Reichtum des eidgenössischen Paradieses ist das Geld, das aus der Korruption und Ausplünderung der Staaten der Dritten Welt durch die einheimischen Diktatoren und ihre Helfershelfer stammt. Die Schweiz praktiziert die freie Konvertierbarkeit der Währungen. Ihre Neutralitätspolitik sowie der Zynismus und die unerreichte Kompetenz ihrer Bankiers reizen von jeher die Diktatoren jeden Kalibers… die Früchte ihrer Raubzüge vertrauensvoll am Zürcher Paradeplatz oder in der Genfer Rue de la Corraterie zu deponieren…“ Jean Ziegler, Schweizer Bankenkritiker (Ziegler 2003, 81)

Die Wirtschaftsethik des Schweizer Bankgeheimnisses, wie sie in der NZZ vertreten wurde, rechtfertigt mit dem Schutz ihrer Reichen vor dem Fiskus im Inneren das Decken auch der Auslandskriminellen –neben dem Pochen auf die Neutralität versteht sich (Koslowski 1998). Diese Haltung wurde nach 9/11 durch Druck der USA inzwischen zwar etwas abgemildert, aber Schlupflöcher finden sich immer und viele Billionen an Schwarzgeld dürften sowieso noch in den Alpen lagern.

Das schmutzige Steuerparadies der Cayman Islands

Am 14.01.2008 machten interne Dokumente die Runde. Die Julius Baer Bank & Trust Company waren geleakt worden (hatten ein Info-Leck), also das Schweizer Bankhaus Julius Bär, bzw. seine Filiale im Steuerparadies der Cayman Inseln. In Deutschland war mit dem umstrittenen Kauf einer Daten-CD durch den Geheimdienst BND das Fürstentum Liechtenstein als Paradies für Steuerhinterziehung in die Schlagzeilen gekommen. Die Polizei führte Razzien gegen Steuersünder durch, die Beihilfe durch Banken wurde angeprangert.

DollarPyramidAber in der Schweiz hatte eine Bank sich in einem anderen Fall der Strafverfolgung unter Berufung auf das Bankgeheimnis entzogen. Doch nun erschienen die Dokumente, auf welche der Staatsanwaltschaft der Zugriff juristisch untersagt war, auf der Whistleblower-Plattform WikiLeaks.

Ein kriminelles System aus Untergesellschaften und Finanztransaktionen sorgte dafür, dass das Schwarzgeld auf den Cayman Islands gut versteckt war. Julius Baer verwaltet ein Kundenvermögen von ca. 400 Milliarden Schweizer Franken, gut zehn Prozent des in der Schweiz gelagerten Kapitals: Gute Geschäfte, aber ihr Mann auf den Cayman Islands, Rudolf Elmer, war unzufrieden und es  war beunruhigend, dass Akten in Elmers Verantwortungsbereich verschwanden.

1994 versetzte man Rudolf Elmer als Chefbuchhalter zu Julius Baer Bank and Trust Company (JBBT) auf die Caymans. JBBT brachte bis zu 30 Prozent der Konzerngewinne von Julius Bär ein. Es ist lukrativ, Schwarzgeld auf Karibikurlaub zu schicken. Aber auch riskant: Elmer musste sich 2002 zusammen mit anderen verdächtigen Mitarbeitern einem Lügendetektortest unterziehen und brach ihn ab, da er unter Schmerzen litt und Tabletten genommen hatte.

Die übervorsichtige Bank kündigte ihm, ohne zu bedenken, dass er zuständig dafür war, bei den in der Karibik häufigen Hurrikan-Alarmen die kompletten Bankdaten in Sicherheit zu bringen. So hatte er einen kompletten Datensatz zu Hause. Die Trennung von einem Buchhalter ist für eine Bank mit Schwarzgeldgeschäften immer heikel. Seither tauchten immer wieder peinliche Dokumente aus dem Bankhaus auf, vielleicht von Elmer, der gegen seinen Ex-Arbeitgeber prozessiert. Aber Elmer ist nicht die einzige potentielle Quelle: Vielleicht hat so eine Bank anderswo alte Feinde oder ein Hacker drang in die Computer ein, auch könnte z.B. einer der Aufsichtsräte plötzlich sein Gewissen entdeckt haben;-))

Financial Times Deutschland warnt

Im April 2007 berichtete die Financial Times Deutschland (FTD) über einen DollarPyramidPrisonDatendiebstahl, der sich 2003 auf den Cayman Islands bei JBBT ereignet hatte. Die FTD warnte, einzelnen Kunden drohten jetzt gravierende Spätschäden, da sie sich wegen Steuerhinterziehung verantworten und mit Nachforderungen des deutschen Fiskus in Millionenhöhe rechnen müssten. In Einzelfällen könnten sie den ganzen angelegten Vermögensbetrag verlieren, sorgt sich die FTD, schlimmstenfalls drohten sogar Freiheitsstrafen. –Wirtschaftsjournalisten können ziemlich viel Mitgefühl entwickeln, wenn es um dreistellige Millionenbeträge geht.– Die Betroffenen seien vermutlich „Opfer eines Konfliktes“ zwischen Julius Bär und einem ehemaligen Mitarbeiter, der seit 2003 „einen Feldzug“ gegen die Bank führe. In den vergangenen Monaten hätte der Datendieb „Bankkunden mit anonymen Briefen in Angst und Schrecken“ versetzt. Die Bank hätte in Zürich Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt, als Hauptverdächtiger gelte der Whistleblower Elmer. Die Zürcher Staatsanwaltschaft ermittele wegen des Verdachts auf Verletzung des Bankgeheimnisses, hätte Untersuchungshaft verhängt, ihren Verdächtigen aber nach einem Monat habe laufen lassen müssen. Der Artikel liest sich, als wäre die Freilassung Elmers der wahre Skandal, von Steuerhinterziehung als strafwürdigem Verhalten ist nicht die Rede. „Kenner des Falles“, weiß die FTD, „sehen in dem mutmaßlichen Täter einen an Verfolgungswahn leidenden psychisch Kranken. In Briefen hatte er der Bank vorgeworfen, sie trachte ihm nach dem Leben.“ Die Bank habe jedoch alles getan, um Kunden und Bankgeheimnis zu schützen (FTD 2007) –die FTD steht hier letztlich treu an der Seite des Finanzinstitutes; viele Banken inserieren bei ihr.

2008 hatte das Online-Portal Telepolis sich für den Fall Elmer interessiert, da die Bank beim Kalifornischen Provider einer damals noch weitgehend unbekannten Website namens WikiLeaks eine Sperrung der URL gerichtlich durchgesetzt hatte:

„Ein kalifornischer Richter verfügte nicht nur, dass die Webseite durch den Provider vom Netz genommen werden muss, sondern auch, dass der Domainname nicht an einen anderen Besitzer übertragen werden darf. Über die URL ist die Seite zwar nun nicht mehr zu finden, wohl aber über die IP-Adresse 88.80.13.160/wiki/WikiLeaks, da sie in Schweden gehostet ist. Dort sind dann auch alle Dokumente zu finden…Vermutet wird, dass die nun zensierten Dokumente von Rudolf Elmer, einem ehemaligen Vizepräsidenten der Niederlassung der Schweizer Bank auf den Cayman Islands stammen…“ (Rötzer 2008).

Besonders für deutsche Steuerhinterzieher könnte der Fall von Interesse sein. Laut FTD geht aus einem der geleakten Schreiben hervor, dass der Täter auch deutschen Steuerbehörden geheime Bankdaten geschickt habe –mit Adressen und Vermögensbeträgen, die zwischen fünf und über hundert Millionen Dollar liegen. Eine ähnliche CD habe schon im Juni 2005 die Schweizer Zeitung „Cash“ erhalten, mit Daten aus den Jahren 1997 bis 2003, die aus Firmen der Julius-Bär-Gruppe auf den Caymans stammten (FTD 2007). Es scheint so, als ob der angeblich seit zehn Jahren von der OECD geführte Kampf gegen Steuerkriminelle nun tatsächlich voran kommen könnte.

OECD: Harmful Tax Competition

Im Jahr 1998 hatte die OECD, der Club der reichen Länder, als Reaktion auf die globale Steuerfluchtmisere zur Regulierung von Offshore-Finanzzentren die sogenannte „Harmful Tax Competition“ Initiative gestartet. Es wurden insgesamt 41 Staaten benannt, deren Steuergesetzgebung einem fairen Geschäftsverkehr widersprach. Probleme gab es beim Start der Initiative, weil neben vielen anderen auch die OECD-Mitglieder Schweiz, Österreich, Belgien und Luxemburg ihr Bankgeheimnis gefährdet sahen. Indem die Forderungen gelockert wurden, konnten jedoch die meisten der genannten Länder zum Einlenken bewegt werden.

Im Juli 2008 befanden sich nur noch Andorra, Liechtenstein und Monaco auf der „OECD-List of Uncooperative Tax Havens„, besonders Liechtenstein kam durch die Zumwinckel-Affäre unter Druck. Regulierungserfolge im Bereich der Steuerfairness gab es auch durch bilaterale Verträge, wo vor allem die USA und die EU in ihren Einflussbereichen kleinere Länder zur Kooperation nötigten.

2005 wurde endlich die lange geforderte EU-Zinsrichtlinie beschlossen, der zufolge eigentlich alle EU-Staaten und einige Steueroasen in Übersee wie die Cayman-Inseln oder Gibraltar automatisch Kontrollmitteilungen über Bankverbindungen an die zuständigen Steuerbehörden versenden müssten. Das örtliche Finanzamt könnte dann feststellen, ob die Auslandskonten vom Anleger auch angezeigt und versteuert wurden. Doch selbst die EU-Mitgliedsstaaten Luxemburg, Belgien und Österreich bestanden darauf, ihr Bankgeheimnis zu wahren. Sie erheben stattdessen eine anonyme Quellensteuer auf die Zinserträge von „Steuerausländern“, die zu drei Vierteln an deren Wohnsitzländer geht.

Der Satz stieg im Rahmen einer Übergangsregelung ab Juli 2008 von 15 auf 20 Prozent, und erreicht ab Juli 2011 in der Endstufe 35 Prozent. Ähnlich verfahren die in die EU-Zinsrichtlinie eingebundenen Drittstaaten Schweiz, Liechtenstein, Monaco, Andorra, San Marino, die britischen Kanal- und weitere Inseln sowie die Niederländischen Antillen. Doch stehen weiterhin zahlreiche Schlupflöcher offen, wenn große Vermögen mit Hilfe der Finanzdienstleister dafür „innovative Finanzprodukte“ ausnutzen (Schratzenstaller-Altzinger, S.19).

Attac und WikiLeaks

WikiLeaks machte sich um den Kampf gegen die globale Finanzmafia ganz im Sinne von Attac verdient. Das globalisierungs-kritische Netzwerk Attac befasst sich seit längerer Zeit mit dem Problem der Steueroasen und hat in ihnen einen Hauptmotor globaler Verelendung ausgemacht –und eine Gefahr für die Demokratie.

Mehr als 50 Länder haben sich, so Attac, weltweit darauf spezialisiert, Kapitalerträge von Bürgerinnen und Bürgern anderer Staaten nur sehr niedrig oder gar nicht zu besteuern. Mehr als 12 Billionen US-Dollar liegen inzwischen in den „Oasenländern“. Attac fordert daher politische Maßnahmen, um die Steueroasen zu schließen. Durch die Niedrigsteuern in einigen Ländern hat sich ein rasanter internationaler Abwärtswettlauf bei den Steuern auf Kapitalerträge entwickelt. In Zeiten der Globalisierung der Finanzmärkte sind Nationalstaaten nicht mehr frei, ihre Steuersätze für Kapitaleinkünfte demokratisch zu bestimmen. Sie müssen vielmehr einem Diktat der Finanzmärkte und Steueroasen folgen.

Diese Veränderung hat dramatische Konsequenzen für die Demokratie. Kapitalbesitz ist in der Bevölkerung sehr ungleich verteilt und damit auch die Kapitaleinkommen. In Deutschland und Österreich besitzen 10 Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des Vermögens, dagegen haben zwei Drittel der Bevölkerung ein geringes bzw. kein Vermögen oder Schulden. Global besitzen die reichsten 10 Prozent sogar 85 Prozent des Vermögens.

Aber wenn man Kapitaleinkommen nicht oder nicht mehr angemessen besteuern kann, so fehlt dieses Geld für Schulen, Gesundheit, Umweltschutz, öffentlicher Verkehr, Universitäten, Pflege alter Menschen usw. Die Steueroasen leeren die Staatskassen und tragen somit zu zahlreichen Privatisierungen von Einrichtungen der Daseinsfürsorge bei. Das Geld fehlt auch den öffentlichen Kassen der Entwicklungsländer, die jährlich mindestens 50 Mrd. US-Dollar durch Steuerhinterziehung usw. verlieren. Korruption wird durch die Möglichkeit, das abgezweigte Geld in Steueroasen in Sicherheit zu bringen, erleichtert und gefördert.

Finanzmärkt und Power Structure Research (PSR)

Im Zuge der Globalisierung der Finanzmärkte haben sich die Steueroasen so zu einer ernsten Gefahr für die Demokratie entwickelt, bemerkt die NGO Attac (2008). „Ultra and High Net Worth Individuals“, so lautet nach PSR-Forscher H.J. Krysmanski (2004) die bankeninterne Bezeichnung für die Super-Superreichen. Um ihnen karibische Steuerfreiheit zu kredenzen, hat sich ein hochspezialisierter Sektor im Finanzsystem gebildet, zu dem auch JBBT gehört. Beliebt ist dabei die Gründung sogenannter Trusts, Foundations oder Stiftungen, die dann pro forma von Anwälten als Stiftungsbevollmächtigte geführt werden. Der Vorteil für den Kunden, den angeblichen Stifter, ist, dass sein Name nicht mehr auf den Kontenlisten auf taucht. Der Kunde ist in der Regel nur dem Stiftungsbevollmächtigten bekannt und natürlich dem Bankhaus, das den Trust verwaltet. Letztlich helfen solche „Finanzprodukte“ (man könnte es auch schmutzige Tricks nennen) einer sehr kleinen und vor allem sehr reichen Gruppe. Damit wird ein Zweiklassen-Steuersystem etabliert, in dem sich der vor der Steuer drücken kann, der zum erlesenen Kreis der Kunden spezieller Schweizer Banken gehört.

Auf diese Art und Weise haben internationale Banken und Anwaltskanzleien eine Art kriminelles „Schattensteuersystem“ entwickelt. Auch die Caymans partizipieren über Gebühren, die unter anderem für die Einrichtung der Trusts und der damit verbundenen Gesellschaftskonstrukte anfallen. Auf diese Weise können sich die Super-Superreichen vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung drücken –und dies ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

Die Globalisierungskritiker von Attac rieten Deutschland, es solle von Australien lernen: Dort wurden die Daten von Kreditkarten aus Steueroasen genutzt, um Steuerflüchtlingen auf die Schliche zu kommen. Der Fahndungserfolg der deutschen Steuerbehörden anhand von Daten aus Liechtenstein scheint diesem Rat gefolgt zu sein. Die Steuerbehörden sollten auch personell verstärkt werden und Steuerhinterziehung in Millionenhöhe sollte immer zu einer Gefängnisstrafe führen, abgesehen von Bagatellfällen sollte die strafbefreiende Selbstanzeige abgeschafft werden, so Attac. Um die Verschiebung von Unternehmensgewinnen in Niedrigsteuergebiete unattraktiver zu machen, fordert Attac zudem, die ertragsunabhängigen Komponenten der Gewerbesteuer zu stärken (Attac-Aktionsplan gegen Steuerflucht).

Bankgeheimnis vs. Whistleblower

Brisant am Verfahren ist auch, dass die Eidgenössische Steuerverwaltung WL_LogoEinsicht in die Akten beantragte, was ihr jedoch aufgrund eines Einspruchs des Bankhauses Julius Bär verweigert wurde. Die Schweizer Steuerämter konnten somit die Beweise gegen die Bank  auf WikiLeaks einsehen, durften sie aber vor Gericht nicht als Beweismittel verwenden. Die Schweiz hält viel auf ihr berühmtes Bankgeheimnis und der Schweizer Bankenkritiker Jean Ziegler, später bei der UN-Menschenrechtskommission zuständig für den Welthunger, weiß auch wieso:

„Eine weitere besonders einträgliche Einnahmequelle ist die internationale Steuerflucht. Aus der ganzen Welt, besonders aber aus Deutschland, Italien und Frankreich transferieren Steuerhinterzieher ihr Kapital in die Schweiz. Aus einem einfachen Grund: Fast auf der ganzen Welt gilt Steuerflucht als Straftatbestand, nicht aber in der Schweiz, wo falsche Steuererklärungen oder die vorsätzliche Hinterziehung zu versteuernder Einkünfte nur als Übertretung einer Verwaltungsvorschrift betrachtet werden. Strafbar ist lediglich die Fälschung von Dokumenten. Bei Steuerflucht ist also das Bankgeheimnis nicht zu knacken und wird für niemanden, wer es auch ist, gelockert… Inzwischen verhungern die Kinder in Kinshasa, in Lagos, Ibadan und Kano, gehen die Kranken in den Krankenhäusern zugrunde, weil es an Medikamenten fehlt. Die Tätigkeit des Hehlers ist höchst profitabel.“ (Ziegler 2003, 82)

Anstatt mit Elmer ins Gespräch zu kommen, setzte man weiter auf seine Einschüchterung. Doch Rudolf Elmer machte seine Drohung wahr, sei es im Zorn, sei es, weil er fürchtete, sonst liquidiert zu werden, um die Publikation zu verhindern, sei es, weil sein Gewissen sich letztlich durchsetzte. Jedenfalls landeten Daten aus seinem Bestand beim Finanzmagazin „Cash“ und bei internationalen Steuerbehörden. Die Enthüllung von verborgenen Machenschaften krimineller Machteliten sei der kostengünstigste und effizienteste Weg zu einer gerechteren Welt, so Assange für WikiLeaks. Doch diese Enthüllung ist manchmal schwerer als gedacht und die Konsequenzen für die Täter lassen manchmal auf sich warten.

Elmer hoffte auf das Interesse der Steuerbehörden, die seine Widersacher und Verfolger nun packen könnten, doch die Hoffnung erwies sich als vergeblich. In der Schweiz verbot die Steuerrekurskommission des Kantons Zürich die Auswertung der Daten durch eidgenössische Behörden. Banken sind dort vermutlich beliebter als Whistleblower und das Bankgeheimnis ist im Schweizer Denken sakrosankt. Mit der Untätigkeit der Behörden konfrontiert, die bedrohlichen Detektive eines Multimilliarden-Finanzkonzerns im Nacken, publizierte Elmer schließlich 2008 einen Teil der Daten über WikiLeaks.

Die Schweizer Bank erreichte mit ihren Juristen gegen WikiLeaks vor und vor einem kalifornischen Gericht sogar die Löschung der Domain wikileaks.org aus dem Namensregister. Die Inhalte, die sich weltweit auf viele Server verteilten, konnte Julius Bär damit freilich nicht löschen und nach massiven öffentlichen Protesten hob das Gericht nur elf Tage später auch die Löschung der Domain wieder auf. Wie dies?

Zensur versagte  im Internet

Und warum ging die Schweizer Bank i.A. ihrer karibischen Tochter gegen eine von einem Australier in Kenia registrierten Organisation, die ihre Datenbestände in Schweden hält, vor einem kalifornischen Gericht vor? Die URL wikileaks.org ist über den Provider Dynadot für einen gewissen John Shipton eingetragen, der residiert in San Mateo, Kalifornien, USA. Neben John Shipton, der vermutlich nicht existiert, ist Daniel Mathews der einzige weitere greifbare Name für die Juristen der Alpenbank, sie verklagen auch ihn. Daniel Mathews, ein Freund von Assange aus seiner Melbourner Studienzeit, den es an die berühmte Stanford Uni in Kalifornien verschlagen hatte, moderierte bei Facebook ein WikiLeaks-Forum. Jeffrey White ist Richter am District Court Nordkalifornien und folgt am 15.02.2008 dem Antrag der Schweizer: Er verfügt die Sperrung der Domain wikileaks.org. WikiLeaks alarmierte als Rechtsvertretung Julie Turner, eine mit der Gruppe sympathisierende texanische Rechtsanwältin.

Juristisch lagen die Schweizer richtig, die Sperrung gelang, doch hatten sie offensichtlich die politische Dimension ihrer Internet-Zensur nicht mit bedacht. Kalifornien ist das Eldorado der Digerati, der hippen Cyber-Elite des Dotcom-Booms, nach diversen Wirtschaftskrisen seit dem New-Economy-Absturz zwar nicht mehr ganz auf der Höhe, aber noch stark genug. Ihre Frontorganisation beim Kampf für die Freiheit der elektronischen Netze, die mächtige EFF, ließ sich von Mathews oder anderen WikiLeaks-Freunden schnell mobilisieren und machte dem Richter Druck. Die New York Times berichtet, sie und sogar CBS News unter der Headline „Freedom of Speech has a Number“ publizieren die IP-Adresse des schwedischen Servers von WikiLeaks: 88.80.13.160. Den kann der kalifornische Richter im Gegensatz zur Domain im WWW nicht blockieren und jeder Internet-Surfer findet dort weiter Zugang zu den brisanten Dokumenten.

Die mangelnde Praktikabilität von Zensur im Internet wird spätestens hier deutlich. EFF und US-Medien fallen über das Bankhaus und den Richter her. Man kämpft für das in der US-Verfassung prominent garantierte Recht auf Meinungsfreiheit, wo käme man hin, wenn künftig jeder alteuropäische Alpengnom einem stolzen Internet-Provider einen Knebel verpassen könnte?

Die Forderung der Bank, die Quelle des Leaks zu benennen, damit sie Elmer packen können, ruft Gelächter hervor. Leben die Schweizer nicht geradezu davon, ihren Geldanlegern Anonymität zu garantieren? „Die Ironie an diesem Fall ist, dass ausgerechnet eine Schweizer Bank behauptet, sie sei schockiert, dass WikiLeaks seinen Quellen Anonymität garantiere“, schreibt Daniel Mathews dem Gericht. In den Medien macht die Geschichte die Runde, weit über die USA hinaus. Der Richter überdenkt angesichts der Proteste und der dürftigen Argumentation der Schweizer seine Entscheidung und verfügt die Freischaltung der Domain.

Am 05.03.2008 zieht Julius Bär seine Klage zurück, der Aktienkurs des Finanzhauses ist um 4,8 Prozent eingebrochen.  Der ‚Streisand-Effekt‘ lässt grüßen: Wenn Prominente sich über Berichterstattung beklagen, wie die berühmte Schauspielerin über Bilder ihrer Villa, lenken sie durch den entstehenden Wirbel erst recht die Blicke auf sich –und auf den, gegen den sie klagen. Wir haben damit letztlich der Julius Baer Bank & Trust Company, einem globalen Finanzkonzern mit einem Kundenvermögen von über 400 Milliarden Schweizer Franken, das Erreichen einer neuen Dimension an Aufmerksamkeit für WikiLeaks zu verdanken. Gerd R. Rueger 15.10.2008 siehe auch Buch des Autors: J.A.: Die Zerstörung von Wikileaks?

Quellen

Attac, Steueroasen: Ein Anschlag auf die Demokratie, Gemeinsame Erklärung von Attac Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Jersey, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz, Spanien und Ungarn, 1.3.2008.

Ballmer, Meinrad, Fiskus profitiert von Datenklau, Financial Times Deutschland 17.04.2007, http://www.ftd.de/finanzen/geldanlage/:portfolio-fiskus-profitiert-von-datenklau/187452.html (12.3.2011).

Koslowski, Peter, Ist das Schweizer Bankgeheimnis noch zu rechtfertigen? Eine Analyse aus wirtschaftsethischer Sicht, NZZ 28.02.1998, S.57.

Krysmanski, H.J., Hirten und Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder: Einladung zum Power Structure Research, Münster 2004.

Schratzenstaller-Altzinger, Margit, Die neue Abgeltungssteuer, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.10, 2008, S.17-19.

Ziegler, Jean, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003.

Ziegler, Jean, Die Weltordnung ist mörderisch, amnesty journal Nr.8, 2006, S.26-27.

Powerstructure Research und die Pest der Privatisierung

Die Vorgeschichte der Postdemokratie

Gerd R. Rueger, 30.Juni 2008

Powerstructure Research (PSR) erforscht Machtformen in unserer westlichen Plutokratie. Diese Plutokratie, die Herrschaft der Reichen, beinhaltet zunehmend eine Privatisierung der Politik (vgl. Mills, Veblen, Lundberg, Mannheim). Politik wird also zur ‚Privatangelegenheit’ einer kleinen Gruppe von Superreichen und ihrer Netzwerke, legitimiert oft durch Mythen über deren angebliche Leistungen für das Allgemeinwohl, über angeblich titanenhafte Herkuleswerke oder genialischen Erfindergeist. Politikwissenschaftler sprechen jedoch auch vom ‚verblassenden Mythos der Meritokratie’, also der mythischen Leistungsgesellschaft, und sogar vom ‚Superreichtum als Gefahr für die Demokratie’ (vgl. Krysmanski 2004: 10-12). Aktueller ist der Begriff der „Postdemokratie“ von Colin Crouch, der die Aufweichung der westlichen Demokratien durch Machteliten beschreibt, die „Privatisierung der Macht“ von Krysmanski also.

Diese Überlegungen bleiben jedoch empirisch etwas blass und betreffen selten konkrete politische Entscheidungsabläufe. Hier greift dagegen die Netzwerkforschung mit folgender vorläufiger Definition: „Policy networks should be conceived as specific structural arrangements in policy making.“ (Kenis/Schneider 1991: 41).. Ein wesentlicher Grund für die verstärkte politikwissenschaftliche Verwendung des Konzepts der Politiknetzwerke (ebd.) besteht in seinem zweifachen Nutzen: erstens als Methode der Strukturbeschreibung im Sinne einer formalen Netzwerk-Analyse, zum anderen als Form der Politiksteuerung in modernen Gesellschaften mit fragmentierten Administrationen.

Solche Administrationen gedeihen bestens auf dem Substrat imperialistischer Staaten. Der Imperialismus als frühe Entwicklungsphase des modernen Kapitalismus beförderte bekanntlich das Zusammenwachsen, andererseits die Aufteilung der Welt in einen reichen Nord- und einen armen Südgürtel. Die Weltwirtschaft expandierte dabei stark, technische Revolutionen führen u.a. zur Massenproduktion von Gütern. Eine nie dagewesene Konzentration von Kapital fand statt, der tertiäre Sektor wuchs, eine „bis ins Einzelne gehende Einmischung des Staates in die Wirtschaft zugunsten der herrschenden Klasse im allgemeinen, des Monopolkapitals und der Großagrarier im besonderen“ setzte ein, wobei die Bestimmungen der herrschende Klasse um die Begriffe der Monopolbourgeoisie und der Finanzoligarchie kreiste (vgl. Krysmanski 1989: 149ff.).

Von Lenin zur Globalisierung

Ausgehend von den marxschen Annahmen vom tendenziellen Fall der Profitrate erläuterte Lenin (1916/17) den Zusammenhang zwischen steigender Konzentration des Kapitals und wachsenden Verwertungsschwierigkeiten auf dem inneren Markt, was zwingend zur Expansion auf auswärtige Märkte, zur Annexion fremder Gebiete usw. führte. Als Agent des Imperialismus war dabei das Finanzkapital zu sehen: eine kleine Gruppe von Industrieführern und Bankvorständen.

Durch Globalisierung und Informatisierung werden wir mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass irgendein regionales oder nationales Gebiet den Zustand der Autonomie oder gar der Subsistenz erreicht, sich vom Weltmarkt abkoppelt. So hat die Rettung der Utopie nur eine Chance, wenn die Marxisten den Gedanken einer globalen Totalität festhalten und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das Entstehen des Neuen erwartet werden kann. So wie Erkenntnis ist auch Herrschaft Aus- oder Vorgriff auf weltgesellschaftliche Totalität. Die Strukturen der Moderne, insbesondere der Staat, entlang derer Totalität einst begriffen werden konnte, lösen sich auf. Die Moderne verabschiedet sich mit Karikaturen ihrer selbst, mit Zeugnissen eines „immensen monadischen Stils wie den Weltbeherrschungsphantasien des Faschismus oder eines ‚American Empire‘.

Schon Mannheim wandte sich der Soziologie mit dem Ziel einer rationalen und humanen Überwindung sozialer Konflikte zu, wobei seine Analysen politischer Ideologie ebenso wegweisend waren wie sein Ringen um eine gerechte soziale Ordnung (Mannheim 1983). Mannheim beschäftigte sich mit politischen Krisenerscheinungen in der Massendemokratie. Im Gegensatz zur einseitig geleiteten Gesinnung und zur laisser-faire-liberalistischen Demokratie, welche die Gefahr des Umschlagens in eine totalitäre Diktatur einschließe, empfahl Mannheim als dritten Weg die „geplante Demokratie“ mit einer „Planung für Freiheit“, wobei Planung „als rationale Beherrschung der irrationalen Kräfte“ verstanden wird. Die Gesellschaft der „geplanten Freiheit“ setzt die Umformung des Menschen voraus und eine als Einheit der Kulturen und Ökonomien gedachte Globalisierung könnte nur in friedlichen Konflikten gelingen, in kulturell-religiös bewussten High-Tech-Auseinandersetzungen. Dies könnte der Sinn des Versuchs einer Epochenbestimmung jenseits des Kollaps der Moderne sein, eines Kollaps, wie er als Ende der Geschichte oder Beginn eines Empire von neofeudalen Barbaren verkündet wird (vgl. Krysmanski 2001, S.186f.). Wenn die geplante Freiheit jedoch nicht von „der Gesellschaft“, sondern von im Hintergrund arbeitenden Machtgruppen gesteuert zu werden droht, weil sie etwa durch ihre Konzern-Stiftungen und andere Pseudo-NGOs die Wissensproduktion steuern, wird dieses Konzept fragwürdig.

„Durch Globalisierung und Informatisierung werden die Linke wie die Rechte und die Wirtschaft selbst mit der Unmöglichkeit konfrontiert, dass irgendein regionales oder nationales Gebiet den Zustand der Autonomie oder gar der Subsistenz erreicht, sich vom Weltmarkt abkoppelt. So hat die „Rettung der Utopie“ nur eine Chance, wenn die Marxisten „den Gedanken einer globalen Totalität festhalten oder – wie Hegel gesagt hätte – ‘dem Negativen folgen‘ und so letztlich jenen Ort lebendig erhalten, von dem das – unverhoffte – Entstehen des Neuen erwartet werden kann.“ (Jameson 1996, 174ff. n. Krysmanksi)

Literaturbasis

Krysmanski, Hans Jürgen: Entwicklung und Stand der klassentheoretischen Diskussion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1989, Nr.41, 149-167

Krysmanski, Hans Jürgen: Popular Science. Medien, Wissenschaft und Macht in der Postmoderne; Münster 2001

Krysmanski, Hans Jürgen: Hirten und Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder Einladung zum Power Structure Research; Münster 2004

Lundberg, Ferdinand: Die Reichen und die Superreichen; Frankfurt 1971

Mannheim, Karl: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus; Frankfurt 1983

Mills, C.Wright: White Collar: The American Middle Classes; New York 1951

Mills, C.Wright: The Power Elite; New York 1956

Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions; Ontario 1953

Kollektive Intelligenz oder Denkkollektive?

Von der Ethnologie zur Erkenntnistheorie

Gerd R. Rueger 15.Januar 2008

Wie alles begann: Der Weiße Mann brachte den Wilden erst den rechten Glauben, dann die rechte Zivilisation. So saugte die Moderne einen Teil ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion aus interkulturellen Studien, die zunächst im kolonialen Kontext einen deutlichen Machtaspekt trugen. (Abb. Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Festschrift zum 175jährigen Bestehen, Acta Praehistorica et Archaeologica. Band 36/37, 2004/05). Bruno Hessling Verlag, 2005,  S. 105)

Aber das Andere ließ sich nicht einfach ableugnen und zerstören, denn ein wissenschaftlicher Zwang zur Dokumentation, Organisation und Reflexion setzte sich langsam durch.

(Frankfurter Museum fuer Weltkulturen  Stereofotographien des Voelkerkundlers Leo Frobenius Frauengefängnis)

In Abwandlung von Nietzsches berühmten Aphorismus über den Abgrund könnte man sagen:

Wenn du lange genug in den Abgrund des Anderen blickst, blickt das Andere irgendwann zurück –oder dann blickst du mit den Augen des Anderen auf dich zurück.

Der Interkulturalität parallel ist die Interdisziplinarität zu sehen, wenn wir wissenschaftliche Schulen durch die Augen der Anthropologin sehen.

Die Bielefelder Wissenschafts-Anthropologin Karin Knorr-Cetina legte mit Ihrer Studie „Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft“ (1991) die im Original 1981 mit „An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science“ untertitelt wurde, einen solchen Ansatz vor, wobei „Science“ im Englischen mit Naturwissenschaften identifiziert wird, von der die Geisteswissenschaften als Künste („Arts“) hinsichtlich ihres Erkenntniswerts deutlich unterschieden werden. In dieser berühmten Studie zur Ethnologie der Laborforschung beginnt sie ihr 7.Kapitel „Wissenschaft als interpretative Rationalität oder: Die Übereinstimmung zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften“ mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: „Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung… und nicht eine Welt-Erklärung  ist.“ (S.245)  Von Diltheys verstehender Soziologie führt sie ihre Argumentation über Gadamers These der „Universalität von Hermeneutik“ zu Wittgenstein, Feyerabend, Toulmin und Thomas S. Kuhn. Kuhn kam 1962 zu dem Schluss, dass Naturwissenschaft normalerweise in Traditionen verankert ist, die sich intern auf ein konsistentes Sprachspiel (wie Wittgenstein gesagt hätte) einigen können. Verschiedene Traditionen seien aber „inkommensurabel“, eigentlich nicht in einander übersetzbar, denn die Rahmung von Tatsachen durch Theorie und Methodik einer Tradition sei eine Interpretation, die dem hermeneutischen  Zirkel in den Humanwissenschaften entspräche: Es geht um die „Theoriegeladenheit“ der Beobachtung. „Realität“ wird konstruiert, nicht entdeckt –der konstruktivistische Blickwinkel.

Typhus-Forscher Ludwik Fleck

Eine medizinisch-wissenschaftliche Tatsache eignet sich besonders für unsere Betrachtungen, weil sie sich historisch wie inhaltlich sehr reich gestaltet und erkenntnistheoretisch noch nicht abgenützt ist.“

Ludwik Fleck (1934), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv

Erstaunlich ist, dass Knorr-Cetina den Wissenschaftler übersah, der bereits eine Generation zuvor diese Perspektive entwickelt hatte: Den polnisch-deutschen Juden Ludwik Fleck. Eine genaue Lektüre von Kuhn hätte sie auf diesen Klassiker aufmerksam machen können, denn Kuhn nennt Fleck ausdrücklich. Die akademische Laufbahn von Fleck wurde durch den deutschen Faschismus zerstört, er musste seine medizinische Forschung in Auschwitz und Buchenwald in den Dienst der SS stellen. Als führender Experte für Typhus-Impfstoffe wurde er in den KZ-Laboren von Auschwitz und Buchenwald eingesetzt, wo er trotz argwöhnischer Bewachung durch die SS unter Lebensgefahr den von ihm hergestellt wertvollen Impfstoff an die Lagerinsassen weiterleitete.

Die SS, der die Typhus unter ihren inhaftierten Opfern willkommene Hilfe beim  Massenmord war, erhielt stattdessen wirkungslose Präparate (Schäfer/Schnelle: Einleitung zu Fleck 1981, S.XIIf.). Die Nazi-Schergen waren offenbar zu dumm, den von ihnen ausgebeuteten Wissenschaftlern einzureden, sie würden für eine gute Sache, für die Menschheit etc. arbeiten. Heutige Machteliten haben daraus gelernt, wenn sie sich Intelligenz in Labors halten und die scheinheilige Proklamation einer hohen Ethik gehört heute ebenso selbstverständlich dazu, wie die Ausbeutung der gewonnenen Erkenntnis  zum Nutzen nur der besagten Machteliten.

Fleck bearbeitet die wissenschaftshistorische Seite der Problematik anhand der Erforschung der Syphilis und spricht von „Denkkollektiven“ und „Denkstilen“, in denen sich Arten der Konstruktion von „Realität“ herausbilden. Die soziale Bedingtheit jedes Erkennens war für ihn eine Selbstverständlichkeit, wobei der Träger der Entwicklung eines Denkgebiets und seines Wissensbestandes das Denkkollektiv war: Die Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen (Fleck 1981, S.54). Heute glauben viele, über die Netze sei eine globale Gemeinschaft des Austausches von Gedanken entstanden, einige träumen von einer „kollektiven Intelligenz“ (Pierre Levy).

Die Wikipedia-Halbwissensgesellschaft

Leider übersehen sie dabei die Übersetzungsprobleme zwischen Denkkollektiven und so ist das Internet wohl in erster Linie der Ort des Austausches von nur halb- oder falschverstandenen Informationen, weniger von Erkenntnissen und Wissen. Diese würden ein mühsames, zeitaufwändiges Einarbeiten in die Sprachspiele und Denkstile erfordern, an dem es heute in der schönen neuen Welt des oberflächlichen Wikipedia-Wissens mangelt.

Gesucht ist heute oft leicht konsumierbares Wissen, also eher Halbwissen, das den größten Teil seiner Intelligenz auf die Präsentation verwendet. Dieser Einwand soll nicht als generelle pessimistische Kulturkritik missverstanden werden. Man muss Halbwissen nicht als schlimmer denn Nicht-Wissen verdammen: Ein Mut zur Lücke, der sich dessen bewusst bleibt, ist heute angesichts der Wissenlawine ohnehin unumgänglich. Nur wer seine Erkenntnis absolut setzt, begeht einen Fehler. Aber dies gilt, wie uns die Wissenschaftskritik erklärte, nicht nur für den Wissen zusammen googelnden Websurfer, sondern auch für die bestinformierten Fachwissenschaftler. Auch ihr Wissen ist nur vorläufiger Stand der Erkenntnis, zudem aus Sicht anderer Disziplinen, anderer Schulen mit anderen Denkstilen oft ganz anders zu interpretieren. Dazu kommt immer mehr der Faktor Geldmacht, umso mehr, umso weiter die Kommerzialisierung der Wissenschaften voran schreitet. Immer mehr Wissenschaftler nehmen Geld von Intressengruppen, die sich Expertise einkaufen, Ergebnisse, Patente –im Endeffekt eine Weltsicht erschaffen lassen, in der sie natürlich im besten Licht dastehen.

Auch dies gilt es, in eine Bewertung von Erkenntnis einzubeziehen, aber gerade Naturwissenschaftler haben hier meist einen blinden Fleck. Bei Sozialwissenschaftlern gibt es diesen auch und schlimmer noch, einen ungesunden Zynismus, der eine gezielte Produktion von „wissenschaftlicher“ Desinformation als lukrative Tätigkeit pflegt. Hier hilft das Netz durch Transparenz: Google findet nicht die Wahrheit über ein Wissensgebiet, kann aber die Hintergründe des Wissen produzierenden Denkkollektivs aufdecken. Leichter als in eine Theorie- oder Methodenwelt einzudringen ist es, Firmenverbindungen und Finanziers zu ermitteln. Und dies sagt manchmal mehr über eine vermeintlich sichere Erkenntnis aus, als die Fachartikel der Forscher. Wir brauchen Transparenz auch in Wissenschaft und Forschung, wir brauchen Whistleblower, die Hintergründe aufdecken und Medien, die darüber berichten.

Literatur

Knorr-Cetina, Karin, The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and contextual Nature of Science, Pergamon Press, Oxford 1981; (dt,) Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984

Ludwik Fleck (1934), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, textgleiche Neuauflage Frankf./M. 1980.

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