Island: Parlament hat Angst vor Volks-Verfassung

Gerd R. Rueger 01.04.2013 Island Karte

Leider kein Aprilscherz: Islands per Volksabstimmung beschlossener Verfassungsprozess wurde von Alten Mächten gestoppt. In einem politischen Experiment wollten Islands Bürger die Regeln für ihr Zusammenleben in einer nie dagewesenen Form neu entwerfen: Als Open Constitution. Jetzt hat das Parlament die neue Verfassung abgelehnt –obwohl bis vor Kurzem noch eine Mehrheit dafür gewesen sein soll. Das alte Island der Fischbarone und Bankmanager hat das Modell der direkten Demokratie scheinbar vorerst gestoppt.

Islands Open Constitution per Plebiszit für eine Art liquid democracy mit Zufalls-Bürgervertretern wurde von Alten Mächten gestoppt, dabei läuft alles so gut für den Inselstaat. Island ist Europas Musterland bei der Bewältigung der Finanzkrise, machte mit Hilfe von Wikileaks Jagd auf kriminelle Bankster, ließ seine Banken pleite gehen und verstaatlichte sie. So brachten die Wikinger den Staatshaushalt in Ordnung. Doch Island ging auch politisch neue Wege nach dem Banken-Crash, dem Sturz der Rechts-Regierung durch Proteste und Wahl einer Links-Regierung. Die USA schickten das FBI auf die Wikingerinsel, um Jagd auf Julian Assange zu machen, stießen aber auf Widerstand.

Jeder Isländer kennt Julian Assange

Denn Island kooperierte lieber mit Wikileaks, um sich mit IMMI zur Daten-Oase zu machen und suchte nach einem Weg zur Open Constitution, zur kooperativen Verfassung. Die demokratische Lösung der Finanzkrise 2008  setzt sich in einer neuartig partizipativen Demokratie zunächst glücklich fort. Eintausend repräsentativ ausgewählte Bürger entwarfen Ideen für eine neue Verfassung, ein 25köpfiger Verfassungsrat einfacher Bürgerinnen entwickelte innerhalb von nur vier Monaten daraus einen “Verfassungsentwurf durch Crowdsourcing”. Die nur etwa  300.000 wahlberechtigten Isländer stimmten ab und im Oktober ergab eine konsultative Volksabstimmung, mit komfortabler Zweidrittelmehrheit bei guter Wahlbeteiligung, dass dieser Entwurf zur Basis der neuen Verfassung des Landes gemacht werden soll.

Damit wurde eine seit Jahrzehnten erfolglos angestrebte Verfassungsreform dm politischen Establishment aus der Hand genommen und direkt dem Volk übergeben. Selbst neoliberal-bürgerliche deutsche Medien wie die Süddeutsche Zeitung standen dem Projekt nicht ablehnend gegenüber. Da die Verfassungsreform aber im Rahmen des existierenden Verfassungsrechts stattfinden muss, waren die Verfassungsänderungen jedoch vom Parlament zu beschließen. Nach dessen Selbstauflösung und Neuwahlen hätte die neue Bürger-Verfassung dann von einem neuen Parlament bestätigt werden sollen: Schlechte Ausgangsbasis, denn Parlamentarier neigen eher nicht dazu ohne Not auf ihren Sessel zugunsten von Neuwahlen zu verzichten. Vielleicht wurden auch einzelne Personen unter Druck gesetzt, erpresst oder bestochen, um zu einer neuen Mehrheit zu kommen?

Denn seltsam bleibt: Noch 2011 hatte das Parlament eine Sabotage des Open-Constitution-Prozesses durch den Obersten Gerichtshof Islands abgewehrt. Die Hohen Richter hatten mit Juristen-typisch bizarrer Begründung plötzlich die Wahl aus technischen Gründen für ungültig erklärt. Doch die linke Mehrheit im Parlament berief die 25 gewählten Bürgervertreter kurzerhand zu Mitgliedern eines Verfassungsrats. In weniger als vier Monaten brachten sie dann im Sommer 2011 in einem einzigartig offenen, transparenten und konsensualen Beratungsprozess einen Verfassungsentwurf zu Papier. Aber über den Winter setzten sich hinter den Kulissen des Parlaments offenbar doch wieder konservative Kräfte durch.

Das Unheil nahm seinen Lauf und etliche Befürworter kippten bei einer Abstimmung am Gründonnerstag, den 28.03.2013, um: Es kam ein fauler Kompromiss heraus, der den Prozess auf Eis legen könnte. Thorkell Helgason, Ex-Mitglied des Verfassungsrats, schrieb an den deutschen Verfassungsrechtler und Beobachter der isländischen Bemühungen, Maximilian Steinbeis, per mail:

„Diese faule Verfassungsänderung wurde beschlossen im Parlament heute Nacht um 2 Uhr mit 25 Ja-Stimmen gegen 2 Nein-Stimmen, die restlichen  36 Abgeordnete haben sich entweder der Stimme enthalten oder waren (bewusst) abwesend.“

Statt der Verfassung will das Parlament nur noch das Verfahren der Verfassungsänderung reformieren: Statt Parlamentsmehrheit und Neuwahlen nebst zweiter Abstimmung soll künftig eine Zweidrittelmehrheit im Parlaments mit anschließendem Referendum nötig sein, um die Verfassung zu ändern. Aber  bei dem Referendum sollen künftig  nicht nur mehr als 50% der Teilnehmer dafür stimmen, sondern auch noch mindestens 40% der Wahlberechtigten –in so abstrakten Belangen wie der Verfassung schwer zu schaffen. Damit wurde die „ganze Verfassungsreform kollossal gegen die Wand gefahren“, wie Steinbeis meint. Dazu komme noch, dass die Umfragen im Moment für die Parlamentswahlen Ende April die Rückkehr der alten Regierungsparteien an die Macht vorhersagen. Die zeigten wenig  Interesse, an den Strukturen, die 2008 in die Katastrophe geführt haben, wirklich etwas zu ändern. Und sie hätten auch kein Interesse daran, die Verfassungsgrundlagen zu ändern, die doch ihre Macht über so lange Zeit legitimiert hatten. Der gestrige Kompromiss erspare ihnen sogar noch, dafür die politische Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Wut über die alten Parteien ist bei den Isländern mit Meisterung der Finanzkrise wohl auch etwas abgekühlt, man richtet sich ein, kehrt zu alten Gewohnheiten zurück. Wer Neues wagen will braucht nicht nur Mut, sondern auch einen langen Atem -das gilt auch für die IMMI-Bestrebungen, die leider jüngst durch eine Pornozensur-Debatte einen Rückschlag erhielt.

IMMI -Island als Datenoase

Eine -neben dem Leak der Bankster-Korruption– weitere Frucht der Intervention von Wikileaks auf Island ist die IMMI-Initiative. Island will damit eine Vorreiterrolle für all jene Menschen spielen, die für mehr Demokratie und Gerechtigkeit in ihrer Gesellschaft eintreten -einmal als leuchtendes Vorbild, aber auch, weil über Island Informationen bereitgestellt und publiziert werden können: Eine ganze Nation folgt dem Beispiel von Wikileaks. Anfang Oktober 2012 legte die Ministerin für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Katrín Jakobsdóttir, dem Parlament ihren Bericht zur Dokumentation von Fortschritten der Initiative IMMI (Icelandic Modern Media Initiative) vor: Den Jakobsdóttir-Bericht.

Seit 2010 versucht Island demnach, die besten Gesetze zu Rede- und Informationsfreiheit der ganzen Welt in einem einzigen Gesetz zu vereinigen. Ein Komitee, das sich aus Experten verschiedener Ministerien, Medienaufsichtsräten und Experten des Internationalen Instituts für moderne Medien (ebenfalls IMMI genannt) zusammensetzt, wurde damit beauftragt. In den letzten zwei Jahren wurden wie geplant die besten Regelungen der ganzen Welt zusammengestellt, im Hinblick auf Transparenz, Rede- und Pressefreiheit sowie Schutz vor Zensur.

Der Jakobsdóttir-Bericht nennt etwa das Verleumdungsgesetz, welches in Island seit 1940 trotz massiver Änderungen im Menschenrechtskatalog unverändert geblieben war, das aber nun überarbeitet werden soll. Auch Anregungen für ein Gesetzesbündel zum Schutz von Informanten und Whistleblowern werden präsentiert. Die Eliminierung noch gültiger Geheimhaltungsregeln zugunsten von Transparenzgesetzen analog zum US-Freedom-of-Information-Act verstehen sich von selbst.

„Das Projekt ist von immenser Wichtigkeit und ist äußerst umfangreich“, sagte Ministerin Jakobsdóttir und zeigte sich entschlossen, das Projekt zuende zu führen. Eines der Anliegen des Entwurfs ist es,  internationalen Medien und Publikationskonzernen, Start-ups sowie Menschenrechts- und Datenbankorganisationen in Island eine günstige Umgebung zu schaffen. Wie der vorliegende Bericht zeigt, macht das Projekt IMMI deutliche Fortschritte.  Ziel des IMMI-Instituts ist es, ausgewogene Rahmenbedingungen für Wissenschaftler, Aktivisten und Gesetzgeber zu schaffen und ein globales Umdenken im freien Umgang mit Information zu fördern. Wikileaks kann als ein Pilotprojekt, wenn nicht als ein richtungweisendes Modell für diese Bestrebungen gelten. Seine Intervention in die isländische Bankenkrise hat mit Sicherheit den Anstoß zu IMMI gegeben.

IMMI-Paper:
by Florencio Cabello Fernández-Delgado & María Teresa Vera Balanza
Abstract:
On June 16, 2010, the Icelandic Parliament unanimously approved the Icelandic Modern Media Initiative (IMMI), a legislative package that turns the concept of “tax haven” on its head by offering fundamental protections for free speech and freedom of expression. This article offers a general picture of the political context in which the IMMI is set and describes the core free speech concerns identified in it as well as the legal reforms put forward to tackleWL_Logothem. To conclude, we examine both the possible legal implications of the IMMI and its general significance for the emergence of the networked public sphere in general and of the networked fourth estate in particular.

5 Gedanken zu “Island: Parlament hat Angst vor Volks-Verfassung

  1. Pingback: Cui bono? Zauberei in der Frankfurter EZB, Lug, Betrug, Täuschung und Verelendung |

  2. Sehr schade….Habe mich so gefreut als ich gehört, habe dass eine Land die tatsäschliche Problemem unserer Zinseszins wirtschaft anpackt. Und jetzt lassen Sie sich hinterrücks wieder in die selbe hineintreiben. Wehrt euch weiter, Ihr habt die Möglichkeit das zu machen was alle Länder auf der Welt machen sollten. Dem Finanzesektor einen Boden zurückgeben und ein unabhängiges, souveränes Land zu werden. Ich drücke euch alle Daumen die ich hab.

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