Tote in Venezuela: Lehrstück zur freien Presse

Gerd R. Rueger 4.10.2012

Am letzten Sonntag berichteten auch deutsche Medien über Tote im Wahlkampf in Venezuela, blieben dabei seltsam stereotyp, aber vage auf Linie der Chavez-Gegner.  Anhänger von Chávez (Mitarbeiter eines Ministeriums) hätten auf Mitglieder der Opposition geschossen und zwei Menschen getötet, so hatten Oppositionelle kolportiert; auch ein Schuldiger war für sie schnell ausgemacht: Der Leiter des Umweltministeriums persönlich habe im Auftrag von Chávez geschossen, so die Oppositionspresse in Venezuela. Was tatsächlich hinter den Vorfällen des vergangenen Wochenendes steckt, hat der Journalist Victor Hugo Majano (dt. in Hintergrund.de) recherchiert:

Fakt ist: Es gab einen Zwischenfall mit zwei Toten im venezolanischen Bundesstaat Barinas, ein 22jähriger Verdächtiger wurde festgenommen und soll die Schüsse gestanden haben, so Majano. Nach den Morden wurde aber  in Tausenden von Twitter-Nachrichten die Meldung verbreitet:   „Der dreifache Mörder …ist Chávez-Anhänger.“ Um die Anschuldigung zu beweisen, wurde ein Foto des Arbeitsausweises von Nelson José Quintero Paredes,  Leiter des Umweltministeriums, mit der Behauptung veröffentlicht, er habe ihn auf seiner Flucht vom Ort des Verbrechens verloren.

Laut der Geschichte, so Victor Hugo Majano, die in der Nacht des 29. September 2012 kolportiert wurde, saß Chavez-Anhänger Paredes zusammen mit anderen „Chávistas“  in einem Lieferwagen des Ministeriums und sie beschossen einen Autokorso der Chavez-Gegner. Auf die Schüsse hin nahmen die Demonstranten die „Chávistas“ fest. Quintero gelang es angeblich zu fliehen, während seine Komplizen, darunter auch Frauen, gefangen und den Behörden überstellt wurden. Der Lastwagen  wurde von „empörten Bürgern“ angezündet, Fotos eilig ins Web gebracht und weitergetwittert.

Rückblickend stellt sich für Majano der Vorfall so dar: Drei Angestellte des Umweltministeriums kehrten in einem Lieferwagen zurück nach Barinas. In der Nähe des Viertels Terrazas de Santo Domingo wurde das Fahrzeug von einer Menschengruppe attackiert. Eine Anhängerin der PSUV (Chavez‘ Partei) wurde mit Schlägen aus dem Lastwagen gezerrt und als „mörderische Chávez-Anhängerin“ beschimpft, auch die anderen Wageninsassen wurden misshandelt bis sie fliehen und in einem Polizeirevier Schutz finden konnten.
Der Lastwagen wurde geplündert und angezündet, Überschriften der ins Netz gestellten Fotos sprachen von den „Mördern“ die im Auto gefahren seien. Zwei Stunden lang wurden Schuldige fabriziert, so Victor Hugo Majano, einzig auf Basis der Tatsache, dass Angestellte eines Ministeriums zufällig durch die Ortschaft gefahren waren. Offensichtlich sollte der Eindruck erweckt werden, Chávez hätte den Mord an zwei Oppositionellen befohlen. Die so konstruierte Verbindung ginge von Quintero über Adán Chávez, Chavez-Bruder und Gouverneur von  Barinas, direkt zum Präsidenten Hugo Chávez.
Schon am 30.09.2012 hatten Polizei und Staatsanwaltschaft von Barinas verlautbart, dass ein 22-jähriger Mann verhaftet wurde, der zugab dort geschossen zu haben. Oppositionelle Medien (wie die Zeitung La Prensa de Barinas) behaupteten jedoch weiterhin, dass Quintero Paredes auf der Flucht sei und von den Sicherheitskräften gesucht werde, sogar noch nachdem Paredes bereits eine Pressekonferenz mit dem Gouverneur Adán Chávez gegeben hatte.

Soweit der medienkritische Bericht von Victor Hugo Majano, der seit dem 01.10.2012 im Netz stand -von deutschen Medien unbeachtet, die uns folgendes Bild von den Ereignissen lieferten:

Telepolis (Heise): Venezuela: Tödlicher Zwischenfall im Wahlkampf

„Nach Berichten venezolanischer Medien wurden dabei am Samstagnachmittag zwei Oppositionsaktivisten getötet, als ihr Auto mutmaßlich von Anhängern der Regierung beschossen wurde. Der Eskalation soll ein hitziger Wortwechsel vorausgegangen sein. Beide politische Lager reagierten besonnen… Die Schüsse seien aus einem weißen Lieferwagen eröffnet wurden, den einige Zeugen als Firmenwagen der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA, andere als Wagen der Verwaltung des benachbarten Ortes Barinitas identifiziert hätten, heißt es in dem Kommunique. Nach Informationen der Polizei in Barinas wurden nach dem Zwischenfall drei Männer und drei Frauen unter Tatverdacht festgenommen. Sie sollen der Regierungspartei PSUV angehören. Der erste schwere Zwischenfall in einem bisher angespannten, aber friedlichen Wahlkampf soll nun untersucht werden…“

Auch Telepolis informierte sich also aus dem Kommunique der Chavez-Gegnerpartei Primero Justicia, die Hauptnutznießer der Todesopfer zu werden scheint, aber betonte dabei die friedliche Konfliktregelung sowie einen bislang insgesamt ruhigen Wahlkampf. Anders berichtete die freie (besitzbürgerliche) Presse in Deutschland, unisono wurde angebliche „Eskalation“, „Gewalt“ und „Furcht“ beschworen:

Stern (Bertelsmann): Wahl in Venezuela: Oppostionspolitiker erschossen (Video-Stream mit quäkender Stimme, Auszug):

„…Bereits wiederholt gerieten Anhänger von Chavez und Capriles gewaltsam aneinander, Tote gab es bisher aber nicht. Die Eskalation schürt mitten im Wahlkampf die Furcht der Venezolaner vor noch mehr Gewalt in dem südamerikanischen Land.“

Focus (Burda): Oppositionspolitiker erschossen: Wahlkampf in Venezuela fordert zwei Todesopfer (Bild von breit grinsendem Chavez, als würden ihn die Morde freuen)

„…Bereits wiederholt gerieten Anhänger von Chavez und Capriles gewaltsam aneinander, Tote gab es bisher aber nicht. Die Eskalation schürt mitten im Wahlkampf die Furcht der Venezolaner vor noch mehr Gewalt in dem südamerikanischen Land.“

Welt (Springer): Chavez verliert an Boden

„…Bereits wiederholt gerieten Anhänger von Chavez und Capriles gewaltsam aneinander, Tote gab es bisher aber nicht. Die Eskalation schürt mitten im Wahlkampf die Furcht der Venezolaner vor noch mehr Gewalt in dem südamerikanischen Land… Beunruhigend ist auch, was die spanische Tageszeitung ABC über die für diese Wahlen ausgearbeitet „Sicherheitspläne“ berichtet… Bei diesen Planungen soll man sich, so die Zeitung „ABC“, auf Erfahrungen gestützt zu haben, die die iranischen Basij Milizen bei der Niederschlagung der „Grünen Revolution“ konzipiert haben. Teheran hat sich in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Verbündeten für Caracas entwickelt.“

Aha. Ein „Welt“-bild für Menschen, die es gern einfach haben: Venezuela=Iran, Sozialismus=Islamismus. So unbekümmert wie oft die Propaganda der Chavez-Gegner kolportiert wird, zitiert Springers „Welt“ hier gleich auch die rechtsradikale Zeitung der Frankisten „ABC“ (deren Leser z.T. immer noch dem faschistischen Diktator Franko nachtrauern). Aber wer die großen überregionalen Blätter nicht mag, konnte sich ja aus seiner Stadtzeitung informieren, z.B. in der Medienmetropole Hamburg mit dem weltoffenen Flair hanseatischer Pfeffersäcke:

Hamburger Abendblatt (Springer)Blutiger Wahlkampf in Venezuela: Zwei Politiker erschossen (Bild von Chavez-Gegner Capriles)

„…Bereits wiederholt gerieten Anhänger von Chavez und Capriles gewaltsam aneinander, Tote gab es bisher aber nicht. Die Eskalation schürt mitten im Wahlkampf die Furcht der Venezolaner vor noch mehr Gewalt in dem südamerikanischen Land.“

Es geht doch nichts über marktförmig-pluralistische Medienvielfalt: Lang lebe die freie Presse!

Oder doch besser: Viva Venezuela?

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