PRISM-Leak: Snowden erhält deutschen Whistleblower-Preis

Gerd R. Rueger 31.08.2013 Snowden

Schlag ins Gesicht für die USA: Die deutsche Sektion der Juristen-Initiative IALANA verleiht Whistleblower-Preis an Snowden, den die US-Justiz als Verräter und Spion rechtswidrig über den Globus jagt. Ohne Rücksicht auf Menschenrechte und diplomatische Gepfolgenheiten hetzen die USA den Mann, der kriminelle Machenschaften der US-Geheimdienste enthüllte. Der angebliche Rechtsstaat wird dabei als reines Propaganda-Theater entlarvt -Bürgerrechte taugen genau soviel, wie sie den politischen Gegnern der jeweils Herrschenden zugestanden werden. Im Fall Snowden und der USA also: Nichts.

Whistleblower sind heute ein wichtige Gruppe bei der Verfolgung von Kriminalität der Mächtigen geworden. Die Justizbehörden sind wenig kompetent und vielleicht auch zu wenig motiviert, Kriminelle zu ahnden, die der Geld- und Machtelite entstammen. Das haben auch ein paar kritische Vereinigungen aus dem Bereich der Wissenschaften und der Jurisprudenz erkannt und lobten daher einen Whistleblower-Preis aus: Die IALANA. Die industrienahe NGO (?) Transparency International hat sich diesmal erstmals an den ohne ihre gewaltige Geld- und Medienmacht gegründeten Preis drangehängt…

PRISM, NSA und Snowden

NSA-Enthüller Snowden war aus den USA nach Hongkong geflohen und am 23. Juni nach Moskau gekommen. Snowden hielt sich seit dem 23. Juni im Transitbereich des Flughafens Scheremetjewo auf und beantragte in Russland vorläufiges Asyl. Damals durfte Snowden die Transitzone nicht verlassen, da die US-Behörden seinen Personalausweis annulliert hatten. Der Föderale Migrationsdienst Russlands hatte Snowdens Antrag auf temporäres Asyl erhalten und ihm stattgegeben. Peinlich für unsere Medien ist also ganz besonders: Snowden findet Asyl nicht in einem der westlichen Vasallenstaaten der USA, sondern in Putins viel gescholtenem Russland.
Nun bekam der Gejagte einen bekannten Preis für Verteidiger der Menschenrechte von Leuten, die sich damit auskennen: Die deutsche Sektion der IALANA (International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms) und die „Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen“ verliehen Edward Snowden ihren Preis 2013 für seine mutige Enthüllung der Machenschaften der NSA und anderer Geheimdienste. ALANA bezeichnet sich als eine überparteiliche und unabhängige internationale Organisation von Juristinnen und Juristen, die sich für gewaltfreie Konfliktlösungen engagiert. Sie verliehen bereits 2011 einem US-Kritiker ihren Preis (damals ohne Identifikation an „Anonymous“): Bradley Manning, dem Wikileaks-Whistleblower, der kürzlich in einem brutalen Schauprozess von einer gnadenlosen US-Justiz verurteilt wurde.

IALANA-Pressemitteilung:

Berlin, 24.07.2013 – Der diesjährige Whistleblowerpreis geht an den US-Amerikaner Edward PRISM_logoJ. Snowden. Er hat als Insider die massenhafte und verdachtsunabhängige Ausforschung und Speicherung von Kommunikationsdaten durch westliche Geheimdienste öffentlich gemacht. Mit dem Whistleblowerpreis werden Personen ausgezeichnet, die im öffentlichen Interesse schwerwiegende Missstände und gefährliche Entwicklungen für Mensch und Gesellschaft, Demokratie, Frieden und Umwelt aufdecken.
Der Whistleblowerpreis wird seit 1999 alle zwei Jahre von der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW e.V.) und der deutschen Sektion von IALANA International Association of Lawyers Against Nuclear Arms verliehen. Das Preisgeld beträgt 3.000 Euro. Zu den bisherigen Preisträgern gehören Rainer Moormann (2011: Risiken des Kugelhaufenreaktors), Rudolf Schmenger/Frank Wehrheim (2009: Frankfurter Steuerfahnder) und Brigitte Heinisch (2007: Berliner Altenpflegerin). Erstmalig beteiligt sich in diesem Jahr die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland e.V. an der Preisverleihung. Otto Jäckel, Vorsitzender der Deutschen Sektion von IALANA:

„Wer könnte berufener sein, dem bedrängten US-Bürger Asyl vor staatlicher politischer Verfolgung durch sein Heimatland, zumindest einen sicheren Aufenthaltsort anzubieten als Deutschland, das von den NSA-Ausspähaktionen offenbar besonders betroffen ist! Aber auch die EU insgesamt ist gefordert. Edward Snowden hat mit seinem Whistleblowing Deutschland und den anderen EU-Mitgliedsstaaten einen großen Dienst erwiesen. Deshalb sollten wir darum wetteifern, ihn aufzunehmen: Aus Überzeugung, aber auch aus Dankbarkeit.“

Wer ist die IALANA?

Die  IALANA wurde als internationale Juristen-Initiative gegen Atomwaffen im April 1988 in Stockholm gegründet. Im Juni 1989 folgte in Bonn die Gründung der deutschen Sektion, eines gemeinnützigen Vereins. Der Aufgabenbereich wurde später erweitert auf biologische und chemische Waffen und um die gewaltfreie Friedensgestaltung.  In Deutschland startete IALANA 1990 mit einem internationalen Kolloquium und kritischen Beiträgen zu der Atomwaffenstrategie der NATO. Auf dem Kolloquium in Berlin diskutierten Teilnehmer aus 13 Nationen, darunter hochrangige Militärs, Rechts- und Friedenswissenschaftler die juristischen und politischen Aspekte der Abschreckungsdoktrin.

In der Folgezeit untersuchte IALANA militärische Aktivitäten Deutschlands und die von den USA und ihren Verbündeten und von der NATO geführten Kriege (Golf-Krieg 1991, Jugoslawien-Krieg 1999, Afghanistan-Krieg 2001, Irak-Krieg 2003 und Libyen-Krieg 2011) auf ihre Vereinbarkeit mit dem deutschen und dem internationalen Recht und veröffentlichte dazu Stellungnahmen und Memoranden.  Eine Schriftenreihe und zahlreiche Veröffentlichungen vertiefen die aufgegriffenen Themen. Wiederholt versuchte IALANA durch Schreiben an Abgeordnete des Deutschen Bundestages und an Mitglieder der Bundesregierung Einfluss auf die Sicherheits- und Friedenspolitik zu nehmen. Dabei wurde insbesondere die striktere Beachtung des Grundgesetzes und des Völkerrechts angemahnt.

Begründung der Jury  des Whistleblower-Preises 2013

Begründung der Jury zur Vergabe des Whistleblower-Preises 2013  an den Whistleblower Edward J. Snowden
Den Whistleblower-Preis 2013 erhält Edward J. Snowden. Er hat als Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) die aac53-yes-we-scan-round-200massenhafte und ver- dachtsunabhängige Ausforschung und Speicherung von E-Mails, IP-Adressen sowie von Telefon- und anderen Kommunikationsdaten durch US- und andere westliche Geheimdienste öffentlich gemacht. Er erfüllt die Kriterien der gemein- samen Jury von IALANA und VDW.
I. Feststellung und Enthüllung eines Missstandes als Insider
(„revealing wrongdoing“)
Edward J. Snowden arbeitete bis zu seiner Flucht nach Hongkong im Frühjahr 2013 für einen Subunternehmer des US-amerikanischen Auslandsgeheimdiens tes NSA, hatte eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für die höchste Geheimhal- tungsstufe und damit Zugang zu streng geheimen Informationen über die Über- wachungspraktiken der NSA sowie anderer westlicher Geheimdienste.
Die Enthüllungen von Edward J. Snowden machen es nach Ansicht der Jury möglich und unausweichlich, die Fakten- und Beweislage durch Regierung, Parlament, Gerichte und die kritische Öffentlichkeit intensiv zu klären und auf gesicherter Tatsachengrundlage dann zu prüfen, ob und in welcher Hinsicht das durch Snowden aufgedeckte Verhalten und Vorgehen in- und ausländischer geheimdienstlicher Stellen geltendes Recht verletzt haben.
Selbst wenn sich dann herausstellen sollte, dass sich die nachrichtendienstlichen Ausspähaktionen teilweise oder überwiegend auf geltendes Recht stützen können, hätte Snowdens Whistleblowing jedenfalls solch bedrohlichen Zustände aufdecken helfen, die in einem demokratischen Gemeinwesen nicht hingenommen werden können.

1. Bisher bekannte Faktenlage
Durch den Whistleblower Snowden sind vor allem folgende Missstände oder jedenfalls der dringende Verdacht ihrer Existenz bekanntgeworden:
a) Der US-Militärgeheimdienst NSA überwacht u.a. mit seinem Ausspähprogramm PRISM weltweit, aber auch insbesondere in Deutschland offenbar verdachtsunabhängig allumfassend die Mobilfunkkommunikation, den Internetverkehr, PCs und Telefondaten, u.a. durch erzwungene Kooperation u.a. mit den IT-Unternehmen Google, Apple, Facebook, Microsoft, u.U. auch außerhalb der USA durch Anzapfen von Unterwasser-Glasfaserkabeln und/oder durch unbefugtes Eindringen in IT-Schnittstellen. Ungeklärt ist bislang, welche Art von Daten („Meta-Daten“ oder auch „Dateninhalte“) jeweils erfasst, gespeichert und ausgewertet wurden und werden.
b) James R. Clapper, Nationaler Geheimdienstdirektor (Director of National Intelligence) der USA seit 2010, ist mit seiner in einem Hearing des US-Kongresses am 12.3.2013 gemachten Aussage, es gebe keine Vorrats-speicherung von Daten amerikanischer BürgerInnen durch die NSA, aufgrund des Whistleblowing Edward Snowdens der Lüge überführt worden.
c) Der brit. Geheimdienst GCHQ (Government Communication Headquarter) zapft offenbar ebenfalls anlasslos und verdachtsunabhängig Schnittstellen von im Vereinigten Königreich anlandenden Unterwasser-Glasfaserkabeln an, um damit den gesamten Telefon- und Internetverkehr (Meta-Daten und Kommunikations-inhalte) zu speichern und mit hochleistungsfähigen Programmen auszuwerten.

d) Zwischen den Auslandsgeheimdiensten NSA (USA), GCHQ (U.K.) sowie von Diensten Kanadas, Australi-ens und Neuseelands werden die mit Ausspähungsprogrammen gewonnenen Daten über in- und ausländische Bürgerinnen und Bürger unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit wechselseitig ausgetauscht; damit werden für den jeweiligen Auslandsgeheimdienst bestehende Verbote der Inlandsspionage de facto umgan-gen und missachtet.
e) Büros der Europäischen Union in Washington, New York und Brüssel sollen durch die NSA und/oder GCHQ „verwanzt“ worden sein, um insbesondere politische Entscheidungsträger aus den EU-Staaten auszuspionieren. Gleiches geschah bei einem der G20-Gipfel 2009, als die NSA oder GCHQ hochrangige Politiker und ihr Umfeld unter Verletzung geltenden Völkerrechts ausspähten.
f) Zu klären wird sein, ob, wie Snowden öffentlich behauptet hat, Stellen deutscher Geheimdienste bei der enthüllten Abhörpraxis mit der NSA „unter einer Decke“ stecken. Inwieweit sind Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz etwa durch die Anwendung des Auswertungsprogramms XKeyscore an der Sammlung, der Auswertung und dem Austausch von geschützten Daten beteiligt? Die Öffentlichkeit hat auch ein Anrecht darauf zu erfahren, welche Rolle das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik BSI bei den Vorgängen spielt. Die Behörde in Frankfurt soll ein Schlüsselpartner der NSA in Deutschland sein. Ein anderer US-Whistleblower, der frühere NSA-Angestellte Thomas Drake, hat Snowdens Diagnose dieser Tage bestätigt: „Deutschland wird als Drittland betrachtet. Aber die NSA hat langjährige geheime Abkommen mit dem BND. Und der BND hat seine eigenen Abkommen mit verschiedenen Telekomunikationskonzernen“ ( TAZ vom 18.7.2013).
2. Beweislage
a) Die weltweite intensive US-Fahndung nach dem Whistleblower Snowden als einem „hochkriminellen Landesverräter“ mit all ihren Begleiterscheinungen (massive Warnungen an potenzielle Asyl- und Aufnahmeländer; Auslieferungsbegehren; Druck auf Staaten zur Verweigerung von Überflugrechten; dadurch erzwungene Notlandung des bolivianischen Präsidenten Morales) und die dies rechtfertigenden Erklärungen von US-Präsident Obama können nur so verstanden werden, dass Snowden offenkundig empfindliche und für die US-Regierung peinliche Wahrheiten enthüllt hat.

b) NSA-Direktor Keith Alexander hat zwischenzeitlich zur Diskussion über die Zusammenarbeit mit deutschen Diensten eingeräumt: „Wir sagen ihnen nicht alles, was wir machen oder wie wir es machen. … Aber jetzt wissen sie es eben“ (FAZ v. 207.2013).
c) Soweit die Bundesregierung und die zuständigen deutschen Behörden Zweifel an der Fakten- oder Beweis-lage haben sollten, ist nicht ersichtlich, warum sie nicht alles Erforderliche tun, um Edward J. Snowden durch deutsche Staatsanwälte als Zeugen zur Klärung bestehender Zweifel vernehmen zu lassen. Warum sind sie nicht bereit, ihn im Inland in ein Zeugenschutzprogramm (wie vor einiger Zeit einen Übergeber von Daten Schweizer Bankkonten deutscher Steuerkrimineller) aufzunehmen, ihm einen gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland (z.B. nach § 22 AufenthaltG) sowie hinreichenden Schutz vor Auslieferung zu gewähren, damit er hier als Zeuge für die erforderliche Aufklärung zur Verfügung steht?
II. Alarmierung der Öffentlichkeit durch den Whistleblower („going outside“)
„Es gibt Zeiten, in denen klar wird, wie die Welt wirklich tickt, was ihre wahren inneren Gesetze sind. Dann fallen Schleier, die Welt sieht plötzlich anders aus. Es sind jetzt solche Zeiten.“, schreibt der Spiegel am 8.Juni 2013.
Der Mann, der solche Schleier zerriss, ist Edward J. Snowden. Er hat ab Anfang Juni 2013 ausgewählte Informationen dem britischen Guardian, dann auch der Washington Post und dem Spiegel und damit der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Diese berichten seitdem hierüber mit großer öffentlicher Resonanz. Außerdem hat er dem Guardian ein vielbeachtetes Interview gegeben und weitere Enthüllungen angekündigt. Darin unterscheidet sich sein auf Herstellung von Transparenz gerichtetes Verhalten gerade von Landesverrätern oder Agenten, die mit ausländischen Geheimdiensten kooperieren und ihr Verhalten vor der Öffentlichkeit bewusst verbergen.
III. Primär am Gemeinwohl orientiertes Whistleblowing („serving the public interest“)
a) Nach seinen eigenen Angaben hat Whistleblower Snowden nicht zu seinem persönlichen Vorteil, sondern im öffentlichen Interesse gehandelt. Er habe die Informationen über die Überwachungsprogramme veröffentlicht, weil er der festen Überzeugung sei, dass so weit gehende Eingriffe in die Privatspäre der BürgerInnen von diesen unmittelbar gebilligt werden müssten. Im Interview mit dem Guardian sagte er: “This is something that’s not our place to decide, the public needs to decide whether these programs and policies are right or wrong. And I’m willing to go on the record to defend the authenticity of them and say, ‚I didn’t change these, I didn’t modify the story. This is the truth; this is what’s happening. You should decide whether we need to be doing this.'“
Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass er mit seinem Whistleblowing persönliche Vorteile erstrebte, liegen nicht vor. Auch seine Gegner haben ihm Gegenteiliges nicht nachweisen können.
Ob er aufgrund jahrelanger Erfahrungen als Angestellter im Geheimdienstbereich schon mit dem Ziel, Missstände bei der NSA aufzudecken, beim NSA-Subcontractor Booz Allen angeheuert hat, wie er in einem Interview gesagt haben soll, ist in diesem Zusammenhang belanglos. Es mindert nicht die Bedeutung der Enthül-lungen oder die Honorigkeit des Whistleblowers, wenn er sich – ähnlich wie seinerzeit etwa Günter Wallraff – aktiv in der ihm geeignet erscheinenden Weise um die Aufklärung von gravierenden Missständen bemüht, ohne vorher sein Vorhaben zu offenbaren.
b) Öffentliches Interesse an Snowdens Whistleblowing
Die Enthüllung von verdachtsunabhängigen Überwachungs- und Spionageprogrammen in einem bis dahin – trotz Echolon-Erfahrungen – politisch und auch technisch kaum für möglich gehaltenen Umfang löste vor allem in Deutschland und in der EU wichtige politische und gesellschaftliche Debatten über die Aktivitäten der NSA und anderer Geheimdienste aus.
(1) Zu Recht wird jetzt endlich nach den Rechtsgrundlagen und den politischen Verantwortlichkeiten für diese offenbar flächendeckenden Totalüberwachungen gefragt. Dabei ist deutlich geworden, dass in Deutschland nach dem Ende der Besatzungszeit an die Stelle früherer alliierter Vorbehaltsrechte völkerrechtliche Verträge (z.B. Art 3 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut) und offenbar auch geheime Verwaltungs- und Behördenabkommen getreten sind, die den US-Streitkräften und ihren nachrichtendienstlichen Aktivitäten in Deutschland zu weite Handlungsspielräume eröffnen.
(2) Es rücken jetzt auch die Fragen in das öffentliche Blickfeld, ob diese nachrichtendienstliche Ausspähpraxis der „Freunde“ in Deutschland an den parlamentarischen Kontrollgremien vorbeigelaufen ist und ob das Aus-führungsgesetz zu Art. 10 GG („G10-Gesetz“) diese Ausspähaktivitäten der NSA – unter Umständen im Zu-sammenwirken mit deutschen und anderen Geheimdienststellen – ermöglicht oder gar gefördert hat. Hinzu kommt: Geheimdienste, die nach nahezu jeder – vermeintlichen oder realen – neuen Bedrohungslage mehr und mehr Befugnisse erhalten und empirisch feststellbar personell mehr und mehr aufgestockt werden, erwei-sen sich zunehmend strukturell als durch demokratische Instanzen kaum noch kontrollierbar.
(3) Das Whistleblowing Snowdens macht auch die Frage virulent, ob die deutschen Strafgesetze ausreichen, um Betriebe und Unternehmen gegen die Verletzung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vor nachrichtendienstlicher Agententätigkeit („Industriespionage“) hinreichend zu schützen. Erkennbar zweifelhaft geworden ist, ob die geltenden deutschen Strafgesetze (u.a. § 201 StGB Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes, § 202 StGB Verletzung des Briefgeheimnisses, § 203a StGB Ausspähen von Daten, § 202b StGB Abfangen von Daten und § 202c StGB Vorbereiten des Ausspähens und Abfangens von Daten) wirksam genug sind, um die Bürgerinnen und Bürger vor schweren Verletzungen ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestim-mung zu bewahren.
Dabei geraten u.a. Regelungen im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut in die Kritik, die die US-Streitkräfte und ihr ziviles Gefolge in wichtigen Bereichen der deutschen Strafgerichtsbarkeit entziehen. Für in Deutschland von einem Mitglied der US-Truppen oder ihres zivilen Gefolges begangene „Straftaten in Aus-übung des Dienstes“ ist nach Art. 18 dieses Zusatzabkommens das Recht der USA „maßgebend“. Außerdem ist in Art. 17 ZA-NTS eine Sonderregelung dahingehend getroffen worden, dass die Entscheidung, ob bei einer von Angehörigen der Truppe eines Entsendestaates oder ihres zivilen Gefolges begangenen Straftat die deutsche oder die US-Gerichtsbarkeit zuständig ist, die zuständige US-Behörde berechtigt ist, auf Anforde-rung der deutschen Staatsanwaltschaft „mitzuteilen“, ob die Handlung nach dem Recht der USA strafbar ist oder nicht.
(4) Immer klarer ist auch geworden: Das Grundrecht der Post- und Fernmeldefreiheit (Art. 10 GG) steht heute in Deutschland de facto offenbar nur noch auf dem Papier. Rechtsverletzungen kann nur sehr unvollkommen begegnet werden. Das ist ganz wesentlich u.a. darauf zurückzuführen, dass mit der 1968 im Rahmen der Notstandsgesetzgebung erfolgten Änderung des Art. 10 GG eine Kontrolle von Grundrechtseingriffen durch unabhängige Gerichte weitgehend abgeschafft worden ist. Und dies in einer Situation, in der auf den national-staatlichen Raum begrenzte Kontrollinstanzen ohnehin nur rudimentär den Herausforderungen gerecht wer-den können, die sich aus der Globalisierung der heutigen Kommunikations-, Speicherungs- und Überwa-chungsmöglichkeiten ergeben.
(5) Durch das Whistleblowing Snowdens ist einer größeren Öffentlichkeit ferner besonders deutlich geworden, dass es nicht nur im Inland, sondern europaweit und global an wirksamen völkerrechtlichen Regelungen und Verfahren zum Schutz der Internet- und Mobilfunkkommunikation und der Persönlichkeitsrechte der BürgerIn-nen insbesondere auch vor nachrichtendienstlichen Ausspähungen fehlt.
Nationales und internationales Recht müssen deshalb im Hinblick auf die neuen technologischen und politischen Entwicklungen des IT-Zeitalters im Lichte der Menschenrechte reformiert werden.
Es muss erreicht werden, dass alle BürgerInnen gegen geheimdienstliche Eingriffe z.B. der NSA oder des BND vor unabhängigen Gerichten sowohl in den USA als auch in den EU-Mitgliedsstaaten wirksamen Rechtsschutz erhalten.
Alle Staaten müssen sich zudem vorbehaltlos der Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshof in Den Haag unterwerfen (Art. 36 des IGH-Statuts), damit Staaten, die geltendes Völkerrecht verletzen, dafür vor diesem Hauptrechtsprechungsorgan der UNO zur Rechenschaft gezogen werden können. Auch Deutschland hat eine solche vorbehaltlose Erklärung bislang nicht abgegeben.
(6) In dieser Situation Bürgerinnen und Bürger darauf zu verweisen, sie selbst seien für ihren Schutz vor digitalen Ausspähungen und anderen Gefahren verantwortlich, ist zynisch. Wem es „nur“ um das „Recht auf Privatheit“ geht, der kann sich möglicherweise durch Verschlüsselung und digitale Abstinenz vom gesellschaft-lichen Diskurs abmelden. Wer aber an Partizipation und Mitbestimmung in prinzipiell allen gesellschaftlichen Angelegenheiten interessiert ist, muss gerade daran arbeiten, dass seine „Stimme“ gehört wird und Nieder-schlag in den Kommunikationsbeziehungen findet. Wer seine „Stimme“ für sich behält, wird zum Nichtwähler der digitalen Demokratie. Demokratie erfordert, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht unsichtbar werden. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr, dass sie für die von ihnen, dem demokratischen Souverän, zu kontrollie-renden Machtinstanzen „undurchschaubar bleiben“.
(7) Deutlich geworden ist durch die Enthüllungen Snowdens schließlich: Für den Fortbestand der Demokratie sind zivilgesellschaftliche Wachsamkeit und eine effektive Kontrolle der Nachrichtendienste und anderer Institutionen staatlicher Machtausübung unerlässlich. Dafür sind Whistleblower von zentraler Bedeutung. Deshalb ist ein wirksamer rechtlicher Schutz von Whistleblowern sowie die Entwicklung und Pflege einer gesellschaftlichen „Kultur des Whistleblowing“ unverzichtbar, gerade auch in Deutschland, das hier besondere Defizite aufweist.
IV. Inkaufnahme erheblicher Risiken durch den Whistleblower („risking retaliation“)
Das FBI hat am 14. Juni 2013 Strafanzeige gegen Snowden erstattet. Ihm wird – bisher – Diebstahl von Regie-rungseigentum, widerrechtliche Weitergabe geheimer Informationen sowie Spionage vorgeworfen. Damit droht ihm eine Gefängnistrafe von 30 Jahren. Die USA haben seine Auslieferung zunächst bei der chinesischen und dann bei der russischen Regierung beantragt. Er ist auf der Flucht. Seine Freiheit und seine bürgerliche Exis-tenz sind dauerhaft bedroht.
Wer könnte berufener sein, dem bedrängten US-Bürger Asyl vor staatlicher politischer Verfolgung durch sein Heimatland, zumindest einen sicheren Aufenthaltsort anzubieten als Deutschland, das von den NSA-Ausspähaktionen offenbar besonders betroffen ist! Aber auch die EU insgesamt ist gefordert.
Der US-Bürger Edward Snowden hat mit seinem Whistleblowing Deutschland und den anderen EU-Mitgliedsstaaten einen großen Dienst erwiesen. Deshalb sollten EU-Staaten wie Deutschland und andere darum wetteifern, ihn aufzunehmen und zu schützen: Aus Überzeugung, aber auch aus Dankbarkeit.

Der Whistleblowerpreis-Jury gehören an:
RA Dr. Peter Becker,
Dr. Dieter Deiseroth,
Dipl.-Pol. Annegret Falter,
Prof. Dr. Hartmut Grassl,
RA Otto Jäckel.

Australien: Querelen um Wikileaks-Partei

Gerd R. Rueger 27.08.2013 

Rechtzeitig vor den Wahlen hatte sich Wikileaks in Australien offiziell als politische Partei registrieren lassen. Wikileaks-Gründer Julian Assange bewarb sich damit um einen Senatssitz in seinem Heimatland Australien. Ein Ausweg aus der Einsperrung ins Asyl  der Londoner Botschaft Ecuadors? Jetzt kriselt es in seiner Partei.

Ungewiss blieb, ob Julian Assange im Fall seiner Wahl seinen Sitz im Senat wahrnehmen könnte. Ein anderer Kandidat der Wikileaks-Partei sollte daher nachrücken, falls der Wikileaksgründer weiterhin in der Botschaft Ecuadors eingekerkert bleiben müsste. Ausgerechnet die für den Senatssitz ersatzweise vorgesehene Kandidatin Leslie Cannold aber trat jetzt zurück, gefolgt von einer Reihe weiterer Parteivertreter -ein Rückschlag für die Partei. Cannold, die im Bundesstaat Victoria kandidierte, trat zurück ohne persönliche Anschuldigungen gegen Julian Assange zu erheben. Der ebenfalls zurückgetretene Dan Matthews schrieb:

„The Wikileaks Party has arguably suffered serious problems from the outset, being pulled in radically different directions from its base and membership, on the one hand, and the figurehead and associates on the other. These contradictions must eventually resolve themselves, and my resignation today is part of that resolution.“

Julian Assange hat seine Mitverantwortung für die Auflösungserscheinungen der Wikileaks-Partei eingeräumt, als deren Spitzenkandidat er antritt. “Ich habe versucht, das Leben eines jungen Mannes zu retten”, erklärte er gegenüber dem australischen TV-Sender ABC laut ZDNet. Er meinte natürlich den PRISM-Enthüller Edward Snowden, für dessen Unterstützung er viel Zeit aufwenden musste. “Ich gebe daher zu und akzeptiere die volle Verantwortung dafür, in der australischen Partei zu stark delegiert zu haben, während ich mich um diese Situationen gekümmert habe.” Julian Assange sagte, er sehe in der Rücktrittsserie nur “Startschwierigkeiten” der australischen Wikileaks-Partei. Die reaktionäre deutsche FAZ freut sich über den „Scherbenhaufen“ vor dem Wikileaks jetzt angeblich steht und fragt süffisant, ob Julian Assange ein „undemokratischer Anführer“ sei.

Tücken des australischen Wahlrechts: Taktik

Streitpunkt waren die taktischen Präferenzen, die die Rangfolgewahl im australischen Wahlrecht erfordert. Die Wähler wählen dabei eine Rangfolge aus, JAssangeBobbyin der sie die Kandidaten präferieren. So können sie ihre erste Stimme für aussichtslose Kandidaten abgeben und verschenken dennoch nicht ihren Einfluss, wenn es letztlich um die Wahl zwischen den aussichtsreichen Kandidaten geht.  Australische Parteien geben ihren Anhängern dazu taktische Empfehlungen für die auf dem Stimmzettel anzugebende Rangfolge. Der Parteirat der Wikileaks-Partei tendierte nach engagierten Diskussionen zur Taktik, Kandidaten der Grünen und der Piratenpartei zu präferieren. Der von den Briten festgehaltene Julian Assange konnte sich an den Beratungen des Parteirats kaum beteiligen, versuchte aber zusammen mit einigen Ratsmitgliedern Präferenzempfehlungen für andere kleine Parteien durchzusetzen, die teilweise weit am rechten Rand der australischen Politik angesiedelt sein sollen (so ZDNet) -die bei uns üblichen Rechts-Links-Schemata sind jedoch nicht ohne weiters auf australische Verhältnisse übertragbar.

„Nationalistische“ Parteien, die für einen Austritt aus dem Britischen Commonwealth plädieren, können durchaus aus fortschrittlich angesehen werden -zumal aus Sicht eines defacto Häftlings Ihrer Majestät, die offiziell immer noch das alte Britische Empire anführt. Siehe die „Shooters and Fishers Party“ sowie die Partei „Australia First“. Auch „libertäre“ Richtungen des angelsächsischen Kulturkreises sind nicht mit dem platten Neoliberalismus unsere Pappnasen-Liberalen von der FDP zu vergleichen -sie treten teilweise wirklich für Bürgerrechte ein -nicht nur die für die „Freiheit der fetten Bankkonten“.

Andere erklärten, solche wahltaktischen Spiele und Abmachungen stünden im Gegensatz zu den Parteizielen und führten zu einer Zerreißprobe zwischen der Partei und ihrer Basis. Mit demschwer enttäuschten Daniel Mathews trat sogar ein Mitglied des Parteirats zurück, das eine lange Freundschaft mit Assange verbindet – und schon an der Gründung der Whistleblower-Plattform Wikileaks mit beteiligt war.

 Wikileaks-Party kam zuletzt mit einer Offensive zum Whistleblower-Schutz, um Regierungen und Medien Beine zu machen.

Alt-Präsi Wulff: Würdiger Repräsentant eines korrupten Regimes

Theodor Marloth 27.08.2013 

Ex-Kurzzeit-Präsident Christian Wulff wird vor Gericht gestellt: Das Landgericht Hannover hat entschieden, die Anklage wegen Korruption  zuzulassen. Das deutsche Strafrecht kennt jedoch das Wort „Korruption“ nicht -darum geht es um „Vorteilsnahme“ und „Vorteilsgewährung“ (die milderen Versionen von Bestechung und Bestechlichkeit) in Höhe von angeblich weniger als 800 Euro. Bertelsmann-Medienleute jammern über Gerichtsentscheid -ihre Konzernbosse pflegten gern Lobbyismus zu Präsidenten.

Im Fall von Luxus-Rentner Wulff und seines Freundes, des spendablen Filmfinanziers David Groenewold, wird es zu einem Hauptverfahren kommen -eine Sensation, erstmals muss sich ein so hoher Würdenträger der Bundesrepublik für Korruption verantworten, wenn auch mit gebremstem Schaum: Unsere Richter wollen es wohl nicht gleich übertreiben mit dem Rechtsstaat und der Gleichheit vor dem Gesetz. Der Prozess soll am 1. November in Hannover beginnen, wie SpiOn aus Justizkreisen erfahren haben will (ob für diese Indiskretion auch jemand die Hand aufgehalten hat, wurde nicht bekannt gemacht). Das Gericht um den zuständigen Richter Frank Rosenow weicht allerdings von der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft leicht ab. Denn der Vorwurf der Bestechung und Bestechlichkeit wurde auf das Delikt Vorteilsgewährung und Vorteilsnahme zurückgeschraubt. Die Staatsanwaltschaft wandelte die Vorwürfe erst kurz vor der Anklage in ein Bestechungsdelikt um.

Das Ermittlungsverfahren 4212 Js 12184/12 gegen Groenewold/Wulff war umfangreich, so SpiOn: 4 Staatsanwälte, bis zu 24 Polizisten, 20000 Seiten in den Akten, mehr als 100 Zeugen. Doch die Vorwürfe gegen Wulff und seinen Kumpel Groenewold wurden im Verlauf der Ermittlungen immer weiter geschrumpft. Was angeblich nur noch bleibt, ist ein Trip nach München zum Oktoberfest 2008. Damals habe der Filmmanager „einen Teil“ der Hotelrechnung des fröhlichen Präsidenten mit den vielen spendablen Freunden übernommen.  Wulff habe bald danach auf niedersächsischem Amtspapier einen Bettelbrief für Groenewold unterschrieben. „Aus Sicht der Staatsanwälte eine strafbare Handlung“ wundert sich SpiOn und kreischt zwischen den Zeilen: „Was für ein Aufstand für nur 800 Euro. Denn SpiOn gehört zu Bertelsmann und der Medienmoloch hatte in Gestalt seiner Medientycoonin Liz Mohn auch gern enge Beziehungen zu Inhabern des deutschen Präsidentenamtes gepflegt.

Bertelsmann-Online-Gazette SpiOn hat Verständnis

SpiOn zeigt Verständnis für die Verschleppung des Verfahrens: „Doch so richtig sah man offenbar selbst bei der Staatsanwaltschaft keinen Grund, der einen Prozess wegen weniger als 800 Euro unbedingt nötig gemacht hätte. Deshalb unterbreitete man beiden Beschuldigten ein Angebot: Einstellung gegen Geldauflage. Doch Wulff und Groenewold lehnten ab – sie halten sich für unschuldig und wollen das auch vom Gericht bestätigt haben.“

Mit der Entscheidung, die Vorwürfe auf Vorteilsgewährung und Vorteilsnahme zu reduzieren, ergäbe sich jedoch eine ganz neue Perspektive auf das Verfahren. Die Verteidiger von Wulff und Groenewold würden wohl Aufklärung von der Justiz fordern, wie die jetzt verkündete Entscheidung bereits deutlich früher von der Presse veröffentlicht werden konnte. Zeit genug für die Aufarbeitung habe sich die Kammer schon mal reserviert: Verhandelt werden solle Montags und Donnerstags ganztägig ab neun Uhr morgens, jammert SpiOn („Und alles wegen nur 800 Euro“ Jaul, Jaul, Jaul!). Nein, es geht auch um die Glaubwürdigkeit eines Regimes der deutschen Polit- und Medieneliten, die sich in ihrer Welt aus Kumpanei und Korruption lauschig zusammenkuscheln und zu ihren eigenen Gunsten die Wirtschaftsleistung eines der produktivsten Industrieländer der Welt (Deutschlands) immer mehr in ihre eigenen Taschen mauscheln. Nur so konnte das durchschnittliche Einkommen von 90 Prozent der Bevölkerung jedes Jahr sinken, während sich eine kleine parasitäre „Elite“ von zehn Prozent jedes Jahr mehr zuschusterte.  Dem Rest der Bevölkerung wurde Gürtel-enger-schnallen verordnet, bei Androhung des Stoßens ins Elend der eigens dafür geschaffenen Hartz-IV-Hölle.

Kein Wunder, dass Medien wie SpiON, kleine Schwester des großen „Spiegel“, Bertelsmann und andere Medien in den Augen der Bevölkerung immer mehr als korrupt wahrgenommen werden -der schmierige Journalismus hierzulande ist ein Sargnagel der Demokratie. Als besonders heimtückische Wendung ist dabei der immer frechere Propaganda-Feldzug, die Wähler sollten doch freiwillig auf ihr Wahlrecht verzichten -angeführt von grün-simulierenden Möchtegern-Intellektuellen wie Harald Welzer, Bertelsmanns Lieblings-Sozialforscher.

Analyse: Zur Situation in Tunesien

Bernard Schmid: Zur aktuellen politischen Situation in Tunesientunisia-flag-svg
(reblogged aus MITTELMEER)

Aus der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) haben in Folge der brutalen Ermordung von Mohamed Brahmi am 25. Juli mehr als 60 Abgeordnete ihr Mandat – vorübergehend niedergelegt, die Sit-ins auf dem Bardo-Platz vor der ANC dauern an, am Mittwoch, 31. Juli ist der Erziehungsminister zurückgetreten. In Sidi Bouzid regiert ein Komitee und erklärt sich unabhängig von der Zentralmacht in Tunis. Wie lassen sich die Geschehnisse interpretieren? Fünf Thesen.

1. Notwendigkeit einer zweiten Revolution
Aktivisten einer Erwerbsloseninitiative in Tunesien, die wir von der BUKO (Bundeskoordination Internationalismus) im Mai nach München eingeladen hatten, sagten uns bereits im März 2013 während des Weltsozialforums in Tunis, dass aus ihrer Sicht eine zweite Revolution notwendig sei. Ähnliches berichteten FreundInnen, die im Herbst 2012 an einer Rundreise in Tunesien teilnahmen.
Es kam zu einer Stagnation mehrerer politischer Prozesse. Zum einen sind die radikalen Ansätze im Demokratisierungsprozess zu nennen, die in der tunesischen Revolution eine ausgesprochen wichtige Rolle hatten. In Tunis und anderen Städten hatten sich verschiedene Zellen gegründet, deren Komitees die lokale politische Macht übernahmen. Wie sich in der aktuellen politischen Situation zeigt, haben sich die Strukturen nicht aufgelöst. Sidi Bouzid wird zurzeit wieder von einer Zelle regiert und hat wortwörtlich seine Befreiung von der Zentralmacht erklärt. Die soziale Situation blieb im Übrigen unverändert. Zwar hatte die große Gewerkschaft mit der Unterzeichnung eines neuen Sozialpakts/Sozialvertrags im Januar 2013 einen Teilerfolg zu verzeichnen, doch insbesondere an der Arbeitslosigkeit (nach offiziellen Angaben 18 Prozent, lokal bis zu 80 Prozent) und der Prekarität der Arbeitsverhältnisse änderte sich nichts. Zudem wurden die Steuern erhöht und Subventionen für Grundnahrungsmittel gesenkt.

2. Die Verfassungsgebende Versammlung
Zum anderen stagnierte auch der Prozess eines Umbaus zu einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie. Die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC=Assemblée Nationale Constituante) war geprägt von mühevollen Auseinandersetzungen über eine neue Verfassung. Entwurf folgte auf Entwurf. Die Parlamentswahlen sollten ursprünglich bereits ein Jahr nach Beginn der Arbeit der ANC liegen, also im Oktober 2012, der Wahltermin wurde jedoch, da auch die Verfassung noch ausgehandelt wurde, immer wieder verschoben, zunächst auf März 2013, dann Juni 2013, schließlich erneut mit einer vagen Angabe: „vor Jahresende 2013“. Das sich nun in Folge der Ermordung Brahmis mehr als 60 Abgeordnete aus der ANC zurückgezogen haben, lässt sich auch auf den hier nur kurz beschriebenen, lähmenden Prozess zurückführen. Im Übrigen wird die ANC arbeitsunfähig für alle Abstimmungen die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern, wenn mehr als 72 Abgeordnete ihre Arbeit niederlegen. Für den 1. und 2. August wurden die Plenarsitzungen annulliert. Die Partei Ettakatol (Sozialdemokratischer Koalitionspartner der En-Nahda) möchte in Abwesenheit von Abgeordneten keine Sitzung machen.

3. Neuformierung der Opposition gegen die Islamisten
In den aktuellen Protesten artikuliert sich ein Bruch mit den Islamisten, der bereits seit einiger Zeit fällig schien. Äußerten sich noch 2011 viele AkteurInnen der Revolution optimistisch in Bezug auf die Perspektiven einer Zusammenarbeit mit der islamistischen Partei Nahda (En-Nahda), die aus den Wahlen zur ANC als stärkste politische Partei hervorgegangen war, so vollzieht sich nun ein deutlicher Bruch mit diesem politischen Lager. Die En-Nahda zählt aus der Sicht vieler DemonstrantInnen zu den Hauptverantwortlichen für beide Morde, an Chokri Belaïd im Februar diesen Jahres und an Mohamed Brahmi. Genauer gesagt wird ihr vorgeworfen, nicht nur nichts oder zu wenig gegen salafistische und djihadistische Gruppen zu unternehmen, sondern auch deren Aktivitäten mitzutragen.
Es wird nun vermehrt auf eine sehr stark modernistisch ausgerichtete laizistische Orientierung zurückgegriffen, hierfür sprechen auch die Parole „Nieder mit den Obskurantisten“ (Feinde der Aufklärung), die auf Demonstrationen gerufen wurde, und die wiederholten Angriffe auf Büros der En-Nahda. Es handelt sich um eine deutlich erkennbare politische Opposition zu den Islamisten, die in den europäischen Medien sehr stark in den Vordergrund gerückt wird, jedoch auch in Tunesien durchaus als tragendes Element anzusehen ist.
Es organisiert sich eine „Front du Salut national“ (Nationale Heilsfront), unterstützt von der laizistischen Oppositionspartei Nidaa Tounes – zu der durchaus auch Unterstützer des alten Regimes zählen – und der linken Koalition Front populaire. Sie verfolgen folgende Ziele: Rücktritt der Islamisten aus der Regierung, Bildung einer neuen Regierung (Gouvernement de salut national) für 6 bis 8 Monate, Fertigstellung der Verfassung und die Organisation von Neuwahlen. Le monde zitierte Hamma Hammadi als Sprecher der Front populaire mit den Worten: „Es ist schlimmer als unter Ben Ali, da wir nun im Stadium der politischen Morde angelangt sind, was wir bisher in Tunesien nicht hatten, auf jeden Fall seit 1952 nicht.“ (Le monde, 29.7.2013)
Auch die große Gewerkschaft UGTT und der Arbeitgeberverband UTICA plädieren für eine Auflösung der Regierung, für eine neue Regierung verwenden sie den Begriff „gouvernement de compétence nationale“, der für eine technokratische Regierung steht. Inzwischen ist ein Minister, der Erziehungsminister Salem Labiadh zurückgetreten, ein Politiker, der dem Ermordeten Brahmi politisch nahe stand. Eine der Regierungsparteien Ettakatol fordert die Auflösung des Kabinetts zur Bildung einer „Regierung der Einheit“ und droht mit dem Rückzug aus der Koalition mit der En-Nahda und der CPR.

4. Basisdemokratische Ansätze
Insbesondere die Struktur der städtischen Komitees in der Revolution schien für eine politische Alternative zu stehen: sie waren nach dem Modell einer „autogestion“ (Selbstverwaltung) organisiert. Diese Ansätze spielten eine wichtige Rolle in der tunesischen Revolution. Es ist durchaus möglich, dass sie in der derzeitigen Situation – nicht nur im Gouvernerat Sidi Bouzid – wieder aufgegriffen und gestärkt werden. Zwar haben sich die Komitees nach der Revolution wieder aufgelöst, zugleich sind jedoch neue „zivilgesellschaftliche“ Netzwerke unterschiedlicher politischer Ausrichtung entstanden, die sich an das Modell anlehnen (z.B. Doustourna).
Die Zellen haben jedoch einen sehr starken pragmatischen Charakter und sind nicht ohne Weiteres als sozialrevolutionär einzustufen. Die neue Zelle in Sidi Bouzid wurde gegründet von der regionalen Gewerkschaft „Union régionale du travail“, de, regionalen Arbeitgeberverband „UTICA“ und den regionalen Verbänden der Ärzte und der Anwälte. Sie erkennen die Regierungsmacht nicht mehr an. Ähnliche Verlautbarungen auch unter dem Begriff des „zivilen Ungehorsame“ gibt es in Le Kef und Sousse.

vollständiger Artikel auf: http://mittelmeer.blogsport.de/2013/07/25/der-beginn-der-zweiten-revolution/

TUNIS: OPPOSITIONSFÜHRER ERMORDET

Gerd R. Rueger 25.07.2013

Tunis. In Tunesien haben Unbekannte den linken Oppositionsführer Mohammed Brahmi ermordet. Säkulare Gruppen machen die islamistisch geführte Regierung für das Attentat verantwortlich, Tausende zogen vor das Innenministerium. In der Stadt Sidi Bouzid, dem Anfangspunkt der Jasminrevolution, zündete die Menge des Büro der Regierungspartei Ennahda an.

Londons Libertotalitarism: Mitleid mit dem Guardian?

Gerd R. Rueger  21.08.2013 Snowden

Mit Bohrern und Schleifmaschinen mussten die NSA-Enthüller, die bislang gut am Material von Snowden verdient haben, ihr eigenes Recherchematerial zerstören -unter den Augen des britischen Geheimdienstes. Die Razzia gegen den „Guardian“ soll von Premier Cameron persönlich angeordnet worden sein.

Die Affäre rund um die Londoner Regierungs-Schikanen gegen den „Guardian“ erreicht jetzt den Premierminister David Cameron. Er soll persönlich veranlasst haben, die Redaktion zu schikanieren. Auf diese Weise sollten der Zeitung weitere Enthüllungen über die Aktivitäten von Geheimdiensten in den USA und Großbritannien vermiest werden. Nach Presseberichten hatte Premierminister Cameron den Leiter seines Cabinet Office, Jeremy Heywood, beauftragt, den „Guardian“ zu kontaktieren.

Es habe sich jedoch nicht um eine Drohung gehandelt, so die Regierung.  „Guardian“-Chefredakteur Alan Rusbridger sah das anders: „Es war eine beispiellose Begegnung in der langen und schwierigen Beziehung von Presse und Geheimdiensten“, so beschreibt der SpiOn, was sich im Juli an einem heißen Samstagmorgen im Keller des Redaktionsbüros zugetragen hat. Demnach überwachten zwei Geheimdienstler an jenem Samstag, wie zwei „Guardian“-Mitarbeiter die Festplatten und Speichersticks mit dem brisanten Material von Edward Snowden auch wirklich zerstörten. Während die Zeitungsleute mit Bohrern und Schleifmaschinen zu Werke gegangen seien, hätten die Agenten Fotos gemacht. Sogar die deutsche Bundesregierung sieht eine „rote Linie“ überschritten, so SpiOn.

Der „Guardian“ steht wieder einmal im Mittelpunk, denn schon am Montag war er weltweit in den Nachrichten gewesen: Britische Polizisten hatten am Flughafen Heathrow den Brasilianer David Miranda festgenommen, der, finanziert vom „Guardian“, in Berlin Gespräche mit einer Filmemacherin geführt hatte, die wiederum mit dem Journalisten Glenn Greenwald zusammenarbeitet.Selbst die deutsche Tagesscshau zeigte sich erschüttert vom juristisch-polizeilichen Amoklauf der Briten gegen die sonst von ihnen so hochgepriesene freie Presse. Reporter Greenwald lebt in Rio de Janeiro und ist für die heikleren Recherchen des „Guardian“ berühmt. Sein letzter Erfolg war Edward Snowden, dem er die Tore zur Londoner Redaktion öffnete.

Mitleid mit dem Guardian?

Sicher, wenn die Geheimdienste ihn drangsalieren, muss er etwas richtig gemacht haben.

Obwohl die Zeitung sich im Umgang mit Wikileaks und Assange nicht mit Ruhm bekleckert hatte…

„Wie nahe Presse, Profit und Propaganda wirklich bei einander liegen, musste das Hacker-Projekt leidvoll erfahren – doch selten so schmerzhaft wie in diesem Film aus dem Dunstkreis des „Guardian“. Stück für Stück wird der gute Ruf von Wikileaks in Patrick Forbes Dokumentation in den Schmutz gezogen, meist durch persönliche Angriffe auf Assange. Kein Wort von zahlreichen Auszeichnungen, von der Medaille der “Sidney Peace Foundation” für Assange oder vom deutschen “Whistleblower-Award” für Anonymous. [2] Kein Wort davon, dass Wikileaks schon im Gespräch für den Friedensnobelpreis war.

Schon Josef Goebbels wusste: Professionelle Propaganda darf nicht als Meinung oder Kommentar auftreten, sondern sollte als reiner Bericht durch die Auswahl des Materials die Tendenz vorgeben [3]. Daran hält sich Forbes Darstellung – und seine Auswahl hat es in sich. Schwerer als das Depeschen-Debakel wiegen völlig haltlose Beschuldigungen, Assange hätte bezüglich der Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gelogen, an seinen Händen würde “Blut kleben”, Quellenschutz wäre ihm unwichtig, ja er wäre sogar Schuld an der Inhaftierung des mutmaßlichen Whistleblowers Bradley Manning – und nicht CIA und Pentagon.“

Guardian versus WikiLeaks: “WikiLeaks – Geheimnisse und Lügen”

Bradley Manning: 35 Jahre für die Wahrheit

Gerd R. Rueger  21.08.2013

Wikileaks-Informant Bradley Manning wurde wegen „Geheimnisverrats“ zu 35 Jahren Haft verurteilt. US-Militärrichterin Denise Lind gab die Entscheidung am Nachmittag in der NSA-City Fort Meade (Maryland) bekannt. Die Anklage hatte mindestens 60 Jahre gefordert, bis zu 90 Jahren wären angesichts der völlig überzogenen Anklagepunkte möglich gewesen. Richterin Lind ordnete wenigstens an, den Obergefreiten unehrenhaft aus der Armee zu entlassen -„unehrenhaft entlassen“, nach „Deserteur“ die zweithöchste Ehrung, die die Armeen dieser Welt zu vergeben haben. Manning-Solidartitäts-Kundgebungen rund um den Globus konnten die US-Justiz nicht erweichen.

Manning war Ende Juli von dem Militärgericht in 19 von 21 Anklagepunkten für schuldig befunden worden, darunter Geheimnisverrat, Spionage, Computerbetrug, Diebstahl. Vom schwerwiegendsten und nachweislich verleumderischen Vorwurf, „Unterstützung des Feindes“, wurde er überraschend freigesprochen. Insgesamt dreieinhalb Jahre werden Manning von seiner Strafe erlassen, weil er bereits seit Mai 2010 in Untersuchungshaft sitzt -zuerst waren läppische 112 Tage angeboten worden. Neun Monaten musste er in Einzelhaft verbringen. Eine Entlassung Mannings aus dem Gefängnis vor Ablauf seiner Strafe ist rechtlich möglich.

„Sprechen Sie ein Urteil, das ihm ein Leben lässt“, appellierte der Anwalt David Combs an die Militärrichterin, doch Oberst Denise Lind könnte noch über die Forderung der Anklage hinausgehen –freute sich die reaktionäre FAZ, die Höchststrafe für die 20 Vergehen, deren Manning schuldig gesprochen worden ist, betrage 90 Jahre Haft. Selbst die US-Justiz war gnädiger. Am meisten ins Gewicht fällt aus Sicht der FAZ die Verletzung von sechs Bestimmungen des Spionagegesetzes von 1917. Weil die Regierung aber darauf verzichtete, Manning der Kollaboration mit dem Feind zu bezichtigen, bliebe ihm die Todesstrafe auf jeden Fall erspart, so die FAZ -ohne milde humanistische Untertöne. 

 Bradley hatte sich schuldig bekannt, US-Geheimdokumente geleakt zu haben. Dies geschah, um die Öffentlichkeit über Kriegsverbrechen der US-Truppen aufzuklären. Manning verwahrte sich gegen den Hauptanklagepunkt einer “Unterstützung des Feindes”, der extrem hohe Strafe nach sich ziehen würde. Ihm wurde vom Militärgericht damit unterstellt, er wollte als Spion von Al Qaida die gegen US-Truppen kämpfenden Terroristen mit kriegswichtigen Informationen versorgen.

Manning gestand ein, Dateien zu folgenden Leaks an WikiLeaks weitergegeben zu haben: Zum Video eines Helikopter-Angriffs im Irak (Collateral Murder); zum Bericht des Armee-Geheimdienstes (den ebenfalls auf WikiLeaks veröffentlichten Bericht des US-Verteidigungsministeriums über das Gefährdungspotential von WikiLeaks); Auszüge aus einer Datenbank von Berichten über den Irak-Krieg (Iraq War Logs); Auszüge aus einer Datenbank von Berichten über den Afghanistan-Krieg (Afghan War Logs); SOUTHCOM-Dateien über Guantanamo-Insassen (Gitmo Files); eine Anzahl von Depeschen des Außenministeriums (Cablegate), eine spezielle Depesche, “Reykjavik 13″, aus Island; sowie einen weiteren nicht spezifizierten Geheimdienst-Bericht.

Bradleys Leidensweg

Bradley wurde im Mai 2010 im Irak, dann wurde er zwei Monate in Kuwait festgehalten, dann neun Monate im Militärgefängnis in Quantico (Virginia) unter “folterähnlichen” Haftbedingungen. Der UN-Beauftragte gegen Folter, Juan Mendez, warf der Justiz damals vor, „grausam, unmenschlich und entwürdigend“ mit Manning umzugeheVigil at Fort Meade prior to sentence announcement. August 21, 2013. n. Die Militärrichterin Denise Lind erließ ihm wegen der Vorwürfe 112 Tage einer möglichen Haftstrafe -ein Hohn, denn insgesamt ging es um als 150 Jahre Haft -auch von den jetzt verhängten 35 Jahren sind 112 Tage nur ein läppischer Bruchteil.  Unzweifelhaft ist die Bewertung der von den US-Offiziellen als “Geheimnisverrat” bezeichneten Enthüllungen: Es ist die bis heute bedeutsamste Aufdeckung von Kriegsverbrechen dieses Jahrhunderts. Wenn US-Medien sich jetzt besorgt zeigen, ist dies ein gutes Zeichen -obgleich man wohl kaum erwarten kann, dass der Schauprozess gegen Manning dort wahrheitsgemäß als Teil der Hexenjagd auf Wikileaks und Julian Assange dargestellt wird.